Mittwoch, 29. September 2021

Flucht nachfühlbar gemacht

 Kurt Mitterndorfers Poem »GEH!« auch auf CD

Geh! Geh weiter! Nicht anhalten! Bleib nicht stehen! Nicht rasten!, mahnt sich der Mann, der aus Syrien geflüchtet ist, in Kurt Mitterndorfers Text »GEH!«, aber auch: Denk nicht nach! Nicht an die Vergangenheit und nicht an die Zukunft. Denken ist gefährlich! Denken kann dich umbringen! Nicht denken, solang du gehen musst!

Der Autor, auch bildender Künstler und – das muss in diesem Fall erwähnt werden – ehemalige Lehrer weiß, wovon er erzählt; und das hat er zuletzt zusammen mit dem Musiker Chris Herman auf CD nachhörbar gemacht. Im Winter 2015/16 begann er gemeinsam mit seiner Frau Barbara und anderen Freiwilligen, Menschen, die vor Terror und Krieg aus Syrien geflüchtet und schließlich in Linz gestrandet waren, Deutsch beizubringen. Daraus entwickelt sich später der Verein Zu-Flucht, der Geflüchteten die Integration erleichtern soll.

Verbunden mit dem Deutschunterricht waren aber auch Gespräche, in denen die Asylwerber von ihren Erlebnissen während der Flucht berichteten, von der Einsamkeit – Bleib im Wald! Lass dich nicht erwischen! –, von den Ängsten – Pass auf, dass du nicht fällst! Nur nicht verletzen! – von Menschen, die man lieber nicht kennengelernt hätte, von monatelangen Erniedrigungen und wochenlangem Sklavendasein. Aber auch vom Hunger, wenn das letzte Stück Brot vor Stunden gegessen, vom Durst, wenn die Trinkflasche leer war und der Weg ins nächste Dorf zu gefährlich schien. Vom Warten und Verharren bis zur Anspannung aller Kräfte. Zweieinhalb Tage sei er irgendwo in Serbien ununterbrochen gegangen, schilderte einer der Asylwerber – und das war für Kurt Mitterndorfer, wie er erzählt, wohl der Ausgangspunkt für das We
rk, aus dem er seither mitunter auch schon Teile daraus vortrug.

Dazu kam, dass der Autor im Frühjahr 2019 den Musiker Chris Herman kennenlernte, woraus in der Folge die Zusammenarbeit an einer durchgehenden Gestaltung des Poems entstand. Im Vortrag der einzelnen Abschnitte wird der monotone Rhythmus des Gehens klanglich verstärkt und zwischen die Abschnitte passt Chris Herman expressive Soundcollagen ein. Daraus entsteht ein Hörerlebnis, das auf eindringliche Weise die Fluchterlebnisse nachfühlbar macht.

Trotz aller Ermahnung gelingt es dem Flüchtenden selbstverständlich nicht, nicht zu denken, weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft. Da ist das Zuhause, das es für ihn nicht mehr geben wird; schließlich hat er seine Familie, seine Freunde und die vertraute Umgebung zurückgelassen, um dem Chaos des Kriegs zu entgehen. Nicht zurückschauen!, sagt er sich, und weiß ebensowenig, was die Zukunft bringen wird. Da ist die Hoffnung auf Frieden und Sicherheit, aber wird sie den Bildern entsprechen, die er sich aus Prospekten zusammengebastelt hat? Wird er ein Ziel erreichen? Oder wird auch er irgendwann zurückbleiben, wie jene Frau, die beim Anstieg auf den Berg dann nicht mehr da war? Er konnte ihr nicht helfen, da er selbst bereits zu erschöpft war. Und diese Erschöpfung ist für den Zuhörer, der den Flüchtling die Dauer der CD von etwa 70 Minuten begleitet hat, durchaus nachfühlbar.

Helmut Rizy


Chris Herman, Kurt Mitterndorfer: GEH! Oracle-Studio 2020. 15 €

Dienstag, 21. September 2021

SCHAURIG, SPANNEND, RÄTSELHAFT

 Am Dienstag, den 28. September 2021 liest Dietmar Füssel ab 19 Uhr aus seinem neuen Roman ‚Ricardi‘.



Füssels neuer Roman ist eine originelle Verknüpfung einer melancholischen Liebesgeschichte mit Elementen des klassischen Schauerromans. Er erzählt die Geschichte dreier junger Künstler, deren Leben sich durch die Begegnung mit einem mysteriösen Gemälde aus dem 17. Jahrhundert mehr und mehr in einen Alptraum verwandelt. Dieser Alptraum gipfelt in einer erschreckend realistischen Vision, deren wahre Bedeutung der Hauptheld und Ich-Erzähler erst viele Jahre später erkennt. Und auch wenn das Leben weitergeht, ist doch nichts mehr wie zuvor.

„Schlafende Hunde soll man nicht wecken. Und erst recht keine schlafenden Dämonen.“

Da Dietmar Füssel vor einigen Monaten nach St. Georgen im Attergau übersiedelt ist, ist diese Lesung möglicherweise für längere Zeit seine letzte in seiner langjährigen Heimatstadt Ried.

(Franziskushaus, Riedholzstr. 15 a, Ried i.I., Dienstag, 28. September 2021, 19 Uhr, Eintritt: € 8,00)

Ficken mit dem Klassenfeind. Walter Josef Kohl

Foto: Dieter Decker Rezension von Dominika Meindl  „ Bei all der sozialen Aufsteigerei, beim sich Emporarbeiten von ganz unten, vom dörfl...