Von Richard Wall
Der 2. Weltkrieg und Holocaust haben in der Literatur und im Kommerz-Kino (vor allem der Provenienz Hollywood) noch immer Saison. Romane und vor allem Filme jener Konjunkturritter (welchen Geschlechts auch immer), die mit dem Infernalischen, das sie selber nicht erlebt haben, auf kommerziellen Erfolg schielen, erfreuen sich bei Hinz und Kunz nach wie vor großer Beliebtheit. Sex sells! Auch mit gewissen Aspekten des 2. Weltkriegs – wie mit der Darstellung von Gewalt generell – lässt sich ganz gut Kohle machen. Da kann es auch schon vorkommen, dass die Profiteure des Gräuels, wie der umtriebige ORF-Liebling David Schalko im Roman „Schwere Knochen“, mit historischen Wahrheiten sehr freizügig umgehen.
Wenn auch manche dieser Film- & Romanautorinnen und -autoren mit ihren Produkten redliche Absichten verfolgen mögen, zeigen wollen, welch aufrichtige Antifaschisten sie sind, sage ich: Man merkt die Absicht und ist verstimmt. Warum nicht zurück zum Authentischen?
Und: Gelte es nicht längst die Augen offen zu halten, sich auf Gegenwärtiges künstlerisch einzulassen? Denn ein Teil der Menschheit hat uns verdammt nahe an Katastrophen herangeführt, die als Folge des Klimawandels, der Überbevölkerung, Aufrüstung sowie durch die atomare Bedrohung (nach wie vor auch durch die „friedliche Nutzung“ der Kernspaltung) demnächst uns schwer an die Nieren gehen werden.
Es wäre in jeder Hinsicht besser – ethisch, literarisch, politisch – jenen Beachtung zu schenken, die von ihren Erfahrungen im Austrofaschismus, unter der Nazidiktatur und in den Konzentrationslagern als politisch und rassistisch Verfolgte geschrieben haben. In welcher Form auch immer. Denn es galt der Verzweiflung, dem Unsäglichen zu widerstehen – durch die Hinwendung zu Papier und Bleistift. Schöpferische Kräfte? Das war nicht die Frage. Notiert wurde, was man nicht sagen konnte. Doch auch jene, die hohe Ansprüche an die Form stellen, können fündig werden.
Der österreichische Dichter und Kabarettist Jura Soyfer wurde im März 1938 beim Versuch mit seinem Freund Hugo Ebner auf Schiern in die Schweiz zu gelangen, in Gargellen von übereifrigen Vorarlberger Zollbeamten festgenommen. Er, der Autor von Theaterstücken, Gedichten, Liedern und dem Roman „So starb eine Partei“ (bitte lesen!) wurde Monate nach der Verhaftung vom Landesgericht Feldkirch ins KZ Dachau überstellt. Hinter Stacheldraht verfasste er mit dem Komponisten Herbert Zipper das „Dachaulied“:
Stacheldraht, mit Tod geladen, /ist um unsre Welt gespannt. /drauf ein Himmel ohne Gnaden /sendet Frost und Sonnenbrand. /Fern von uns sind alle Freuden, /fern die Heimat und die Fraun, /wenn wir stumm zur Arbeit schreiten, /Tausende im Morgengraun.
Im Refrain übernahm er den zynischen Spruch, der die Eingangstore der KZ charakterisierte, aber auch andere „Losungen“, die für die Sprache der Nazis typisch waren:
Doch wir haben die Losung von Dachau gelernt / und wurden stahlhart dabei. /Bleib ein Mensch, Kamerad, /sei ein Mann, Kamerad, /mach ganze Arbeit, pack an Kamerad: /Denn Arbeit, den Arbeit macht frei, /denn Arbeit, denn Arbeit macht frei!
Nach Buchenwald deportiert starb Soyfer im Februar 1939 an Typhus. Sein Werk war auch nach dem Krieg noch präsent, eine repräsentative Sammlung daraus erschien 1947. Erst ab Mitte der 1950er Jahre setzte das Vergessen und Verdrängen ein, nicht nur aufgrund der ehemaligen Nationalsozialisten, die auch die Kulturpolitik wieder mitbestimmt haben, sondern auch weil Autorinnen und Autoren, die sich als Avantgarde sahen, auf die unmittelbare Vergangenheit bezogen apolitisch agierten, in dem sie – wie die Austrofaschisten und Nazis – die Zeit von 1934 bis zum Ende des Krieges aus ihrem Denken und Schaffen weitgehend ausklammerten. Die Werke jener Generation, die differenziert und mit großer Formenvielfalt Zeugnis abgelegt hat – Ilse Aichinger, Theodor Kramer, Hans Lebert, Franz Kain, Michael Guttenbrunner etc. sowie all die Exilautoren – gerieten absichtsvoll in Vergessenheit (Kulturjournalisten, ja selbst Germanisten betrieben und betreiben eine Literaturgeschichtsfälschung sondergleichen, wenn ihnen in ihrer Unwissenheit und/oder mit ideologischen Scheuklappen sie über die 1950er und 1960er Jahre sprechen, immer nur „die Verdienste“ der „Wiener Gruppe“ über die Lippen kommen).
Der Journalist und Schriftsteller Helmut Rizy, der sich in vielen Schriften kenntnisreich und in Kontakt mit Zeitzeugen wie Peter Kammerstätter mit der Naziherrschaft und vor allem mit dem Widerstand gegen diese literarisch auseinandergesetzt hat, legt nun einen Wälzer vor, in dem er versucht, die Literatur von KZ-Insassen nach subjektiven Kriterien zu strukturieren. Bei dieser Gelegenheit muss wieder einmal darauf hingewiesen werden, dass nicht geschlossen die Bevölkerung Hitler am Linzer Hauptplatz und Wiener Heldenplatz zugejubelt hat, sondern dass bereits an die 1400 österreichische Antifaschisten als Freiwillige im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner gekämpft haben, Hunderte als politische Flüchtlinge ins Exil getrieben wurden oder widerständig in Österreich tätig waren (subtil im Untergrund, oder als Partisanen in Kärnten, Tirol und im Salzkammergut).
Die Fülle an Einzelschicksalen im tödlichen Mahlwerk des menschenverachtenden Regimes hat(te) eine nahezu unübersichtliche Fülle an Literatur zur Folge, von der Rizy etwa 200 Werke zu einem ersten Band (!) gesichtet hat: „Überleben – um Zeugnis abzulegen / Essays zur KZ-Literatur“: In einer Rezension nicht zu bewältigen, ohne Auslassungen vorzunehmen. Er streicht beispielsweise die Entstehung und Bedeutung der Lieder hervor (eines habe ich eingangs erwähnt), die in den diversen Lagern entstanden sind. Die Funktionäre der KPD, Bernhard Bastlein, Karl Fischer und Karl Bloch, bereits 1933 verhaftet, verfassten im Lager Sachsenhausen den Text zur Melodie des Liedes „Die Bauern wollten freie sein“: Wir schreiten fest im gleichen Schritt, / wir trotzen Not und Sorgen, / denn uns zieht die Hoffnung mit / auf Freiheit und das Morgen. Das Morgen hat leider nur Bloch erlebt.
Das bis heute bekanntere Zeugnis in Liedform ist gewiss das im Börgermoor entstandene „Die Moorsoldaten“. In der letzten Strophe heißt es: Doch für uns gibt es kein Klagen, /ewig kann’s nicht Winter sein. /Einmal werden froh wir sagen: /Heimat, du bist wieder mein. /Dann ziehen die Moorsoldaten /nicht mehr mit dem Spaten /ins Moor!
Dass es durch Gefangene, die in andere Lager verlegt wurden, große Verbreitung fand, ist bekannt. Dass es aber auch eine englischsprachige Version gibt, „The Peat Bog Soldiers“, gesungen von Pete Seeger und Paul Robeson, wird vielen, die das Lied kennen – interpretiert von Hannes Wader beispielsweise – nicht bekannt sein; Rizy hat es herausgefunden.
All diesen Zeugnissen ist gemein, dass sie die Schinderei und die tägliche Nähe des Todes ansprechen, dennoch – in der letzten Strophe oder im Refrain – Widerstand, Trotz sowie einen Funken Zuversicht verbreiten können, was gewiss auch als Absicht in den zumeist im Marschrhythmus abgefassten Liedern angelegt war.
Das Buch ist in 14 Kapitel unterteilt. Unter dem Titel „Mordhausen“ werden all jene Autoren genannt, die das Pech hatten, mit dem KZ Mauthausen und/oder einem der Nebenlager Bekanntschaft zu machen. Es galt als eines der härtesten. Der üble Ruf drang sogar bis in das nahe Danzig gelegene KZ Stutthof. Der litauische Dichter und Literaturwissenschaftler Balys Sruoga erwähnt es in seinem Buch „Der Wald der Götter“ mit den Worten: Das schlimmste Lager des Deutschen Reiches (…) war Mauthausen mit seinem Außenlager Gusen.
Im Kapitel Frühe Zeugen zeigt Rizy beispielhaft, welche Bedeutung die frühen Berichte, die sogleich nach der Machtübernahme der Nazis in Deutschland im Jahre 1933 entstanden sind, gehabt haben, respektive als Warnung für die noch nicht Verfolgten (die ersten Häftlinge waren meistens Kommunisten) dienen hätten können.
Der erste Bericht stammte von Hans Beimler, als Mitglied der KPD von 1932 bis 1933 auch Abgeordneter im Reichstag: „Im Mörderlager Dachau. Vier Wochen in den Händen der braunen Banditen“. Er wurde binnen wenige Jahre ins Englische, Russische, Französische und Jiddische übersetzt. Der Dreher Wille Bredel – bereits 1933 „in Schutzhaft“ genommen – konnte in seinem Roman „Die Prüfung“ ebenfalls relativ früh von den brutalen Bedingungen im KZ Hamburg-Fuhlsbüttel, in das er überstellt worden war, berichten. Entlassen floh er in die Tschechoslowakei, wo er den genannten Roman niederschrieb. Noch im selben Jahr, 1934 erschien dieser in London und wurde in kürzester Zeit in 17 Sprachen übersetzt (wieder einmal: wer wissen wollte, konnte wissen …). Bemerkenswert sein Hinweis auf die Bedeutung der Klopfzeichen bei Dunkelhaft. Wer das Klopfalphabet beherrschte, konnte mit den Mithäftlingen nebenan kommunizieren. Dieses Morsen, sowie andere „Tipps“, wurden von anderen aufgegriffen, sie konnten sich, indem sie die Berichte der frühen Zeugen lasen, über das „System“ der KZ informieren. So schrieb der Wiener Moritz Neumann in seinem Buch „Widerstehen. Vom kaiserlichen zum heutigen Österreich“, in dem er von der Einlieferung ins KZ Dachau berichtet: Ich möchte in diesem Zusammenhang erwähnen, dass ich noch unter dem Dollfuß-Regime ein Buch des deutschen Kommunisten Bredel über seinen Aufenthalt in einem KZ gelesen hatte. Diese Lektüre hat mir bezüglich meines Verhaltens in Dachau sehr geholfen.
Ob unter den Bedingungen eines KZ „große“ Literatur entstehen kann, bleibt eine offene Frage. Ruth Klüger, die Rizy zu dieser Frage zitiert, meint: In den KZs wurde keine große Lyrik verfasst. Wäre es anders, so könnte man behaupten, diese Lager wären doch zu etwas gut gewesen, etwa zu einer Läuterung, die große Kunst zur Folge hatte. Sie waren jedoch zu nicht gut.
Um Lyrik zu schreiben, bedarf es gewiss keiner „Läuterung“. Andererseits sind auch andere schwierige Lebenslagen nicht unbedingt „zu etwas gut“, dennoch kann gute Lyrik daraus entstehen. Es sind nicht immer äußere, bedrohliche Umstände, die uns zu schaffen machen. Und Literatur entsteht nicht im luftleeren Raum. Auch eine KZ-Erfahrung kann zu ästhetisch anspruchsvollen Versen, zu einer herausragenden Prosa führen. Imre Kertèsz hat immerhin als KZ-Überlebender zwar nicht Lyrik, sondern „große“ Literatur geschrieben, die für den Literaturnobelpreis „gut“ genug war.
Jedenfalls begibt man sich bei dieser Frage auf dünnes Eis; in Extremsituationen, welche auch immer, schreibt man ohnehin nicht „zum Spaß“ sondern um im Zwiegespräch mit dem Papier zu überleben. Im Kapitel Drei junge Dichterinnen konzentriert sich Rizy auf die Notizen und Erinnerungen von drei Mädchen – Zimra Harsáni (später, als Autorin Ana Novac), Halina Nelken („Freiheit will ich noch erleben“), Janina Hescheles („Mit den Augen eines zwölfjährigen Mädchens“) –, für die das Schreiben in den KZs zur Überlebensstrategie wurde.
Rizy zitiert aus den Notizen der 14-jährigen Zimra Harsáni, die Auschwitz und das KZ Plaszów, am Stadtrand von Krakau gelegen, überlebt hat und deren Tagebuch auf Deutsch in der Übersetzung von Barbara Frischmuth unter dem Titel „Die schönen Tage meiner Jugend“ erschienen ist, u.a. folgende Passage: Alles, was mir widerfuhr, geschah nur deshalb, um aufgeschrieben zu werden. Mein wirkliches Leben war lediglich eine Art Dienstbote, der Lieferant meines ‚formulierten‘ Lebens. Ergänzend ist hier zu sagen, dass Zimra bereits seit ihrem elften Lebensjahr ein Tagebuch führte.
Es bleibt der Leserin, dem Leser überlassen, welche Bedeutung sie oder er diesen Berichten verleiht. Mittlerweile ist jedenfalls gesichert, dass sie als das Vermächtnis einer infernalischen Hybris aus „Nationalbestialismus“ (Herbert Stourzh) und Rassismus für die Geschichtsforschung, aber auch für die Psychologie und Soziologie von eminenter Bedeutung sind.
Letztlich ging es darum, sich das Menschsein zu erhalten, schreibt Rizy im Kapitel „Das Menschengeschlecht“ in dem er u.a. über Primo Levi und von der französischen Schriftstellerin Charlotte Delbo berichtet. Er hat, abgesehen von den Genannten, in seiner Sammlung all jene Autorinnen und Autoren in Erinnerung gerufen, die in ihrer Literatur Zeugnis abgelegt haben: Über Fluchtversuche, über die Planung von Aufständen, vom Charakter von Kapos und SS-Schergen, kurzum: über das weite brutale Feld einer ins Negative gewendeten Menschheit. Auf der anderen Seite schlagen, wie der besprochenen und damit empfohlenen Literatur ebenfalls zu entnehmen ist, humane Qualitäten wie Solidarität, Widerstand, Hoffnung auf Freiheit und Gerechtigkeit zu Buche.
Helmut Rizy: Überleben – um Zeugnis abzulegen. Essays zur KZ-Literatur. Erster Band. Wieser Verlag Klagenfurt/Celovec 2021.