Freitag, 23. Februar 2024

Ficken mit dem Klassenfeind. Walter Josef Kohl

Foto: Dieter Decker

Rezension von Dominika Meindl 

Bei all der sozialen Aufsteigerei, beim sich Emporarbeiten von ganz unten, vom dörflichen Subproletariat hinauf in die Kaste der Künstler und Intellektuellen, geschieht nichts, das einen glücklich macht.“

Was für eine ambivalente Lektüre: Man freut sich über den neuen Roman, zugleich ist man traurig, weil es der letzte sein wird, da ist Walter Kohl bestimmt (auch wenn ihn niemand tadeln wird, wenn er seinen Vorsatz bricht). Wie in fast allen seinen literarischen Texten sei auch dieser „zu 90 Prozent fiktional, zu 90 Prozent autobiographisch“, so zitierte er die geschätzte Margit Schreiner bei seiner Buchpräsentation im Stifterhaus.

Der Ich-Erzähler ist in die Jahre gekommen, er hadert damit schon deswegen, weil er wegen seines Raucherbeins lange im Krankenhaus liegen muss. Das Zimmer teilt er mit Männern der Arbeiterklasse, die er mit Sympathie und Befremden zugleich beobachtet. Diese Ambivalenz prägt nicht nur die „Handlung“ des Romans – Kohl wird nicht böse über die Anführungsstriche sein, es gibt keinen Plot, stattdessen sehr tiefe, sehr tief empfundene Erinnerungen und Reflexionen. Selbstverständlich von höchster literarischer Güte, ganz in Kohls reduziertem und klarem Stil. Etwa die Schilderung der kindlichen Enttäuschung beim Lesenlernen: „Nach ein paar Wochen Erlernen des Alphabets verging das erste Jahr völlig ohne Grandiosität und Geheimnis.“ 

Der Erzähler erinnert sich also, und von der ersten Seite erstaunt es, wie er trotz der unzähligen über Generationen vererbten und selbst erfahrenen Kränkungen ein sanfter, einfühlsamer Mann hat werden können. Bei aller Selbstironie und versuchten objektivierenden Distanz zur eigenen Wahrnehmung wird der Schmerz sehr deutlich. „Als Kind habe ich gelernt, für mich so wenig zu wünschen, dass es zu den Möglichkeiten passt, die 'das Leben' einem bietet.“ Der Erzähler wächst heran, er fremdelt mit dem Bildungsbürgertum und lernt, seine Bluffs zu durchschauen. Wenn man etwa den „Mann ohne Eigenschaften“ offen sichtbar aufs Nachtkästchen legt, wird man im Krankenhaus von den Ärzten respektvoll behandelt, auch wenn man sich wegen der ökonomisch sinnlosen Berufswahl „Autor“ kein Bett in der 1. Klasse leisten kann.

Der Begriff der „Klasse“ mag altmodisch klingen, aber das ist ganz im Sinne der neoliberalen Propaganda, die uns glauben machen will, dass sich unsere „Leistung lohne“ und es keine Grenzen gebe, wenn man hart an sich und der Welt arbeite. Eine historische Sekunde lang war der Sprung aus der Klasse tatsächlich möglich, dank Kreisky-Reformen und Wirtschaftsboom – Kohls Erzähler hat davon profitiert, und er leidet darunter, denn es seien ja nur die „anerkennungssüchtigsten aus der Arbeiterklasse“ in den Mittelstand aufgestiegen, an den Verhältnissen selbst habe Kreiskys SPÖ nichts geändert. Sein eigenes politisches Bewusstsein schärft sich schon ganz früh. Als Kind beobachtet er, wie an einem kalten Wintertag der warm eingepackte Bauer mit seinem alten, ausgeschundenen Knecht herumbrüllt. „Da gab es nichts, das nicht zu verstehen gewesen wäre.“

Die ungemeine Grobheit der Klassen von oben nach unten und untereinander hat sich vielleicht gemindert (oder verschoben, Stichwort „Lieferkette“ – wir haben die Ausbeutung zu großen Teilen outgesourct), aber der dank Fleiß und Willen der Eltern ins Stiftsgymnasium geschickte Sohn wird auch dort wieder auf seine Herkunft zurückgeworfen. Es sind nicht die Söhne aus besserem Hause, die ihn mobben, sondern ein sadistischer Lehrer, der ihn mit Häme überzieht, weil sein Vater bloß „Ofenmaurer“ sei. Egal, ob der auf Montage im Ausland gut verdient und sich Einfamilienhaus + Audi 80 leisten kann.

Ficken mit dem Klassenfeind“ ist auch eine Hommage an den Vater, auf den der Sohn lange nicht stolz sein konnte – der nun offen benannte Zweitname „Josef“ ist auch Zeichen einer nachgetragenen Liebe. So wie „Ein Bild von Hilda als toter Mensch“ ein ans Herz gehender Nachruf auf die Mutter ist.

Kohl beschreibt das Verschwinden der Arbeiterklasse, die Verlogenheit des bürgerlichen Wohlstands und die permanente Sorge, selbst zum Spießer zu werden. „Die Widersprüche häufen sich.“ Und: „In Wahrheit bin ich wütend über mich selbst und wegen des Schmerzes, den ich spüre. Es tut weh, wenn man seine Klasse hasst.“

Es liest sich derzeit besonders spannend, welch üble Rolle die Bauern in Kohls Roman (und im dörflichen Gefüge) spielen. Es ist kompliziert geworden. Die konventionellen Bauern (nicht nur in Schönering stellen ihre Vierkanter immer noch Wagenburgen der FPÖ dar) kämpfen dafür, mit subventionierten Diesel Glyphosat auf ihre staatlich geförderten Zuckerrüben sprühen zu dürfen. Die kleinen und mittleren Landwirtschaften sind schon in den 1970ern in den Mühlen der Agrarindustrialisierung zermalmt worden, die Suizidrate ist in kaum einer anderen Branche höher. Die Arbeiterklasse wählt zu absurd hohen Anteilen FPÖ, die ihnen überall, wo sie die Finger an die Schalthebel kriegt, die Sozialhilfe kürzt, damit es ja den Ausländern schlecht geht („Das ist es mir wert!“). Die SPÖ taumelt ratlos in den Wahlkampf, ihr Aufstiegsnarrativ ist eine Fiktion. Die ÖVP halluziniert sich eine "schweigende Mehrheit" zusammen, deren Hauptproblem das Gendern und das diktatorische SUV-Verbot in den Innenstädten sein soll. 

Und trotzdem: Bitte nie wieder zurück in die Zeiten, in denen Frauen den Knechten und Herren gleichermaßen ausgeliefert waren. In denen Kinder in einer männerdominierten Welt nur umgeben von Frauen aufwachsen, die sich um sie kümmern. „Sie sind es, die das Leben in Gang halten. Du siehst es, als kleines Kind, aber du lernst sehr schnell, dass alles, was die Frauen tun, keine Bedeutung hat.“ Walter Kohl schildert deren Lage sehr, sehr treffend. Insbesondere die Lebensgeschichte seiner Tante Maria macht wütend. 

 Foto: Meindl

Schauplatz der Jugend ist das ungeliebte Dorf nahe Linz, und eine Aulandschaft, die im Staubereich der Donau verschwunden ist. Und hier verwandelt sich die Rezension in etwas anderes. Ich kenne dieses Dorf. Ich kenne das Stiftsgymnasium, ich kenne ein paar der handelnden Figuren. Ich kenne die Erzählungen meiner Eltern (die nur sechs Jahre älter als Walter Kohl waren, aber als unmittelbare Nachkriegskinder viel älter wirkten. Und die aus noch einfacheren Verhältnissen stammten und einen noch viel steileren Aufstieg geschafft hatten).

Gerade deswegen treten mir die Kontraste mit aller Schärfe ins Auge. Kaum eine Generation später hat sich dieses Schönering in eine Speckgürtelgemeinde verwandelt, mit Wilia-Bus, Möstl-Markt und Fußgängerunterführung. Der Vater angehender Oberarzt, die Mutter halbwegs zufriedene Hausfrau (ein eigenes Kapitel, mein Kindheitsprivileg). Die älteste Schwester untertags gut im Institut Hartheim betreut.

Erst ein neuer Nachbar (übrigens Sohn eines Großbauern) machte mich bei einem meiner damals (kurz nach der Jahrtausendwende) seltenen Besuchen Zuhause auf Walter Kohl aufmerksam, dessen Bücher ich bis dahin nicht gekannt hatte (Schande!). Ich fraß „Spuren in der Haut“ nachgerade, ich las erschüttert die „Pyramiden von Hartheim“ und frage mich seither, wie ich so ahnungslos in meinem Einfamilienhausghetto aufwachsen konnte. Behütet eben.

Ficken mit dem Klassenfeind“ ist ein ernster Text voll stiller Wut. Aber an mindestens einer Stelle ist er so komisch, wie es nur die nüchterne Beschreibung der Realität sein kann – als der Erzähler mit einer Gruppe maoistischer Studenten (allesamt rich kids) krachend daran scheitert, die Arbeiter an der Kraftwerksbaustelle zu bekehren.

Am Ende stellt der Erzähler fest: „Ich habe ein Drittel meines Lebens falsch gelebt. Jenes Drittel, in dem ich Schriftsteller war.“ Das ist die einzige Stelle, an der man Walter Josef Kohl vehement widersprechen möchte: Wir sind froh um dieses Drittel seines Lebens.


Walter Josef Kohl: Ficken mit dem Klassenfeind. Schriftenstand Verlag, 209 S., 18 €

https://www.isbn.de/buch/9783903250956/ficken-mit-dem-klassenfeind

Mittwoch, 21. Februar 2024

X-Blatt 21: Nach vorn zu den Ursprüngen. Waltraud Seidlhofer und Fritz Lichtenauer

Nachbetrachtung und Fotos von Dominika Meindl 

Covergestaltung: Herbert Christian Stöger

Einige Monate sind seit der Präsentation der 21. Ausgabe des X-Blattes vergangen (2. November 2023), doch das muss ja nicht heißen, dass wir darüber nicht mehr schreiben! Hinderlich ist höchstens die eigene Handschrift; die Entzifferbarkeit der an diesem Abend gemachten Notizen hat eine sehr kurze Halbwertszeit. Die Angaben erfolgen ohne Gewähr und mit der Einladung zur Korrektur im Kommentarteil.

Gut, dass die Enttäuschung gleich zu Beginn bekannt wird und von nun an verkraftet werden kann: Co-Herausgeber Kurt Mitterndorfer begrüßt und bedauert, dass Waltraud Seidlhofer erkrankt ist, nichts Ernstes zum Glück, aber ernst genug, um nicht persönlich nach Linz in die MERZ Galerie zu kommen. Fritz Lichtenauer aber ist da, in aller Frische und Freude. Eine Beobachtung gleich vorweg: Was beide Gründungsmitglieder eint, ist ihre fehlende Ich-Bezogenheit, das Gegenteil einer literarischen Egozentrik, aus der eine exakte Beobachtungsgabe sich speist. 

Die GAV wurde im vergangenen Jahr 50, Oberösterreich zockelt ein paar Jahre hinterher (nicht nur, was die Gründung einer Regionalgruppe 1987 anbelangt). Seidlhofer und Lichtenauer aber sind von Beginn an Teil der Versammlung. Das verdanken sie unter anderem Heimrad Bäcker, der sie in seinen Jugendclub für moderne Kunst lud, und gute Kontakte zur Wiener Gruppe hatte. Über seine "Neue Texte" ermöglichte er ab 1968 internationale Kontakte. Bald habe die Nachkriegsgeneration in Linz eine lebendige Szene geschaffen. 

Ein autonomes zweites PEN-Zentrum wurde trotz des Bemühens Ernst Jandls vom internationalen PEN abgelehnt, "es war ihnen zu extrem, was da mit Sprache gemacht wurde". 1973 fand die erste Versammlung in Graz statt, Bäcker war Delegierter für Oberösterreich. Er lud Seidlhofer und Lichtenauer zur zweiten Versammlung, der Rest ist quasi Geschichte. Schon im ersten Jahr wuchs die Zahl der Mitglieder auf 58 an. "Die GAV", so Lichtenauer, "hat sich schnell unglaublich verbreitert."

Herbert Christian Stöger, Co-Herausgeber der literarischen Heft-Reihe "X-BLATT", vertritt Waltraud lesend, es sind fünf Gedichte. Und wer sie kennt, hat ihren Ton im Ohr. "Als wären die Nächte sorgsam und klar."

Florian Neuner liest aus einem Katalog vom März 1976, "Beruhigungspunkte", in dem es heißt "Die Tiere beschränken sich auf ihre Käfige". Seidlhofers Prosa wie Lyrik klingt schon früh ganz nach ihr (blöder Satz, aber hoffentlich verständlich). So etwa in "Zeit Städte Spiel", in den "Texten zur Zeit" 1983. Hier "scheint [die Stadt] einen Punkt erreicht zu haben, an dem sie ohne Mensch zu existieren bereit ist." Computer müssen mit der schöpferischen Arbeit beginnen, weil ihnen die Menschen nacheifern. Neuner las zudem aus ihrem Prosa-Hauptwerk "Texte. Ein Erinnern" (1999). 

Fritz Lichtenauer spricht über seinen Zugang zur visuellen Poesie, dazu liest er Texte aus den frühen 60er und 70ern und "Memories" an Kollegen wie Artmann und Jandl. Zuerst hören alle ganz still und ernst zu, spätestens bei den Dialektgedichten "wenn ich nachts nicht schlafen kann, fange ich zu reimen an" werden die Folgen seines subtilen Witzes hörbar. "mama putzt weil vater schmutzt".

Mehr zum X-BLATT finden Sie auf unserer Website.

Mittwoch, 14. Februar 2024

Der Strom und das Hirngespinst als Kunst

"Flussgeister" von Patricia Brooks

Aus der Reihe: Was schreiben jene, die für uns sprechen? Von Dominika Meindl

Eigentlich verwunderlich, dass in der österreichischen Literatur die Donau nicht eine noch viel größere Rolle spielt! Bei aller Liebe zu den Alpen (auch sie kümmern sich nicht groß um Grenzen) – aber wie erhebend ist es, über einen fast 3000 Kilometer langen Strom mit dem Schwarzen Meer, mit zehn anderen Ländern verbunden zu sein? In Patricia Brooks neuem, insgesamt fünten Roman ist die Donau mehr als ein bloßer Schauplatz, und das macht ihn besonders und besonders lesenswert*.

Dem erfolgreichen Anwalt Adam scheint es an nichts zu fehlen – bis auf sich selbst. Die Beziehung eingefahren, der Job anstrengend, das künstlerische Talent vergeudet zugunsten der Karriere. Als er im Auwald nahe Wien eine alte Fischerhütte findet, kauft er sie und beschließt spontan, sich ein Jahr Auszeit zu nehmen. „Adam glaubte fest daran, dass sich hier am Fluss alles zum Guten wenden würde.“ Von Männern in der (Midlife-)Crisis handeln wohl ca. 56 Prozent aller je veröffentlichten Bücher (konservative Schätzung), aber in den „Flussgeistern“ geht es um sehr viel mehr – die Hauptrolle teilen sich der Fluss und eine sterbende, junge Frau. Lola ist leichtsinnig in doppelter Wortbedeutung. Zum einen lässt sie sich auf Sex mit teilweise gewalttätigen Unbekannten ein. Zum anderen schreitet sie auf leichten Füßen durch den Auwald, durch Wien, durch ihr Leben und das der anderen. „Ich habe noch nie jemanden getroffen, der so ist wie sie, sie lebt in ihrer eigenen Welt, ihren eigenen Gedanken, ihrer Geschichte, so wie sie sich diese Geschichte selbst erzählt“, stellt Adam am Ende fest. Es tut der Handlung auch gut, dass er und Lola kein Paar werden, sondern eine merkwürdige Freundschaft schließen, die bald auf ihre Belastbarkeit getestet wird – und Adams Sicht auf seine eigene Realität verändert. Lange streitet er höflich ab, die Flussgeister wahrnehmen zu können, von denen sie immer wieder spricht. Aber dass der kein grober Klotz ist, ist von Anfang an klar, zu genau beobachtet er seine Umgebung. Es ist schön, mit ihm den Jahreskreis in diesem naturnahen Flecken zu beobachten, die Veränderung und das Gleichbleibende. „Der Fluss wechselte je nach Tageszeit und Wetter die Farbe.“ Die Donau ist selbst ein Kunstwerk, man muss nur zusehen lernen. „Dieses Spiel zwischen festem Material und luftigem, zwischen klarer Linie und erahnter Kontur“. Und was ist die Literatur anderes als ein großartiges Netz an Hirngespinsten?

Flussgeister. Roman, Septime Verlag.

Patricia Brooks wurde 1957 in Wien geboren, schreibt Romane, Kurzprosa, Lyrik und Hörspiele. Idee, Konzept und künstlerische Leitung des interdisziplinären Performanceprojektes „Radio rosa – TextMix Lab“ (seit 2008).

* Ob das zutrifft oder nur einer Kolleginnenschaft im Vorstand der GAV geschuldet ist, mögen Leserinnen und Leser bitte unbedingt selbst beurteilen!



Montag, 12. Februar 2024

Frauenstimmen 2024

Der neueste Akt der Lesebühne im STRANDGUT, Ottensheimer Straße 25 (Alturfahr, Eingang Fischergasse) am Samstag, 9. März 2024, 19 Uhr

Organisiert und moderiert von Elisabeth Strasser

Freuen wir uns bei den diesjährigen Frauenstimmen auf … 

    einen Poetry-Slam-Star 

    eine Autorin aus Wien 

    eine Weltreisende … 

und auf ihre Texte 

Starke Themen – starke Texte bei den Frauenstimmen 2024 – seid dabei im Strandgut! 


Zu den Autorinnen:
Mieze Medusa
Mieze Medusa ist Autorin, Poetry Slammerin und Rapperin. Zuletzt erschienen ist ihr Roman
„Was über Frauen geredet wird“ (Residenz) und, gemeinsam mit ihrer Kollegin Yasmin
Hafedh aka Yasmo, der Slamtextband „Die Krise schreibt man nicht mit langem ‚i‘, auch wenn
sie riesengroß ist“.
www.miezemedusa.com


Monika Gentner
Monika Gentner lebt und arbeitet in Wien. Sie schreibt Prosa und publiziert in Zeitschriften
und Anthologien, zuletzt „Flaneurinnen in Filmstadt“ in WeissNet 2.0 der igfem –
Interessengemeinschaft feministischer Autorinnen. Sie wurde mit mehreren Stipendien der
Republik Österreich ausgezeichnet; sie ist ist Mitglied des Österreichischen Schriftstellerver-
bandes, des Literaturkreises Podium und der GAV – Grazer Autorinnen Autorenversammlung,
für die sie jährlich die Lesung „Freiheit des Wortes“ verantwortet.


Wally Rettenbacher
Wally Rettenbacher lebt in Linz und auf Reisen und studierte Psychologie, Pädagogik und
Kommunikationswissenschaften in Salzburg. Ihre Arbeiten sind vor allem durch ihre Reisen
geprägt und inspiriert. Sie schreibt Texte und betreut das Radioexperiment poetologische
ortungen bei Radio FRO. Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien sowie
im Radio.
www.wallyre.net


Elisabeth Strasser (Moderation)
geb. 1969; Studium der Germanistik in Wien; lebt und arbeitet in Linz.
Seit 2011 Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien und sechs Buch-
veröffentlichungen (Romane, Erzählungen, Textinterpretationen).
Gestaltung/Mitwirkung bei zahlreichen literarischen Veranstaltungen; Leitung des Linzer
Schreibkreises Textspur.
www.elisabethstrasser.com

Freitag, 2. Februar 2024

Das waren die Hommagen 2024

Ein Rückblick von Elisabeth Strasser

Nach einem Jahr Pause setzte sich die von Andreas Weber kuratierte und moderierte Reihe „Hommagen“ zwischen 17. und 31. Jänner 2024 im Linzer Wissensturm fort.

 

17. Jänner – Wilfried Steiner über Arthur Rimbaud

Im seinem Buch „Die wilde Fahrt des Arthur Rimbaud“ begab sich Wilfried Steiner bereits auf die Spur dieses faszinierenden Dichters. Im Rahmen der Hommage brachte er ihn dem Publikum nahe.

1870 macht sich der gerade sechzehnjährige Dichter (so konnte man Arthur Rimbaud in dem Alter bereits nennen) aus der Provinz auf nach Paris und sorgt dort – gleichermaßen als „Bauernlümmel“ wie als „seraphischer Jüngling“ gesehen – für Furore, an der Seite von u.a. Paul Verlaine. Mit nur 19 Jahren schließt er sein dichterisches Werk ab und beginnt ein abenteuerliches Leben, bereist Afrika und den Nahen Osten, handelt mit Silber, Elfenbein und Waffen. Aufgrund einer Knieverletzung wird ihm ein Bein amputiert. Er stirbt an einer daraus folgenden Infektion 1891 in Marseille mit 37 Jahren.

Das poetische Werk des jungen, anarchistischen, ekstatischen, gesellschafts- und religionskritischen Dichters wirkte einflussreich weiter. Beispielsweise bei Georg Trakl, Georg Heym, sowie Van Morrison, Bob Dylan, Patti Smith u.v.a.

Im Rahmen der Hommage stellte Wilfried Steiner insbesondere Rimbauds Gedicht „Le Bateau ivre“ (Das trunkene Schiff) in Auszügen samt vier Übersetzungen (u.a. von Paul Celan) vor. Dabei natürlich Thema die Herausforderung von Lyrikübersetzungen.

Beim Vortrag der französischen Originalauszüge assistierte Doris Herbsthofer.

 


24. Jänner – Elisabeth Strasser über unheimliche Literatur

Es war mir eine Ehre und Freude, bei den diesjährigen Hommagen ein persönliches Lieblingsgenre, die Literatur des Unheimlichen, vorstellen zu dürfen und das Publikum auf eine Reise durch die Zeit einzuladen. Reisebegleitend mit ihren unheimlichen Geschichten waren vor allem E.T.A. Hoffmann (der, wie ein Besucher hinwies, ausgerechnet an einem 24. Jänner geboren war – was natürlich kein Zufall sein konnte), Mary Shelley (deren „Frankenstein“ bei der Hommage am 17. Jänner nebenbei Erwähnung fand – womöglich ebenfalls durch übernatürlichen Einfluss) und schließlich Leo Perutz, mit dem wir die Reise nachts unter der steinernen Brücke beendeten, mit der Feststellung, der sog. „magische Realismus“ wurde nicht in Südamerika erfunden, wohin es zwischendurch einen Abstecher gab.

Anhand von Hoffmanns „Elixieren des Teufels“, mit Seitenblicken auf den „Sandmann“ und Sigmund Freuds Definition des Unheimlichen, gingen wir den Motiven unheimlicher Literatur nach und deren verschiedener Facetten, die vom ganz leichten Verunsichern, über das Schaudern und Gruseln bis zum Erklären durch natürliche Ursachen reichen. Oder bis zum völligen Offenlassen, was hinter „unheimlichen“ Geschehnissen steckt. Ja, auch Franz Kafka lässt sich der unheimlichen Literatur zurechnen.

Unheimliche Literatur trat nach der „Entzauberung der Welt“ in Folge der Epoche der Aufklärung auf. Am Schluss, gleichsam als Reiserückblick, stand die Überlegung, wieweit man heute – angesichts landläufiger Verschwörungsmythen und die dichterische Phantasie längst überholt habender Technologien – überhaupt noch Unheimliches bzw. Phantastisches schreiben soll/kann/darf. – Ja, doch, unbedingt. Gerade durch diese Literatur lässt sich die Realität samt ihrer Verkehrtheiten in verdichteter Form wahrnehmen. Lassen wir uns die Phantasie nicht nehmen; lesen und schreiben wir solche Geschichten, lautete das Abschlussplädoyer.


31. Jänner – Dominika Meindl über Martin Pollack

 

Im dritten Teil der Hommagen stellte Dominika Meindl einen Zeitgenossen vor, den 1944 geborenen österreichischen Schriftsteller, Journalisten und Übersetzer Martin Pollack.

Aufgrund ihrer persönlichen Bekanntschaft, ja Freundschaft mit ihm sprach sie mit besonderer Verve nicht nur über das Werk, sondern auch über Begegnungen und Gespräche, über seinen feinen Humor, sein Vögelbeobachten und Gärtnern – und wie er dabei im Garten eine alte Gabel aus der NS-Zeit fand.

Pollacks Biografie, als Sohn des SS-Sturmbannführers Gerhard Bast und Stiefsohn des ebenfalls dem Nationalsozialismus nahestehenden Malers und Grafikers Hans Pollack, spielt in seinem Werk eine wesentliche Rolle. So erzählt er in seinem Roman „Der Tote im Bunker“ (2004) die Geschichte seines leiblichen Vaters, der 1947 auf der Flucht von einem Schlepper nahe dem Brenner ermordet wurde. Martin Pollack machte „das Beste aus seiner biografischen Hypothek“ hieß es. Selbst entging er der NS-Ideologie durch seinen Aufenthalt in einem liberalen Internat.

Als Journalist u.a. für den „Spiegel“ war er als Korrespondent, u.a. in Polen und der CSSR (er berichtete im Jänner 1989 aus erster Hand von den dortigen Unruhen), tätig. Bekannt ist Pollack auch durch seine Übersetzungen des Werks von Ryszard Kapuściński. – In Polen und der Ukraine gilt er als recht bekannter Autor.

Kontaminierte Landschaften“ sind weiters ein wichtiges Thema seines Schreibens. Landstriche, in denen von politischen Ideologien Ermordete verscharrt sind – und vergessen. In dem Zusammenhang erzählt er in „Die Frau ohne Grab“ (2019) die Geschichte seiner Tante, die – mit einem Slowenen verheiratet – als 70-Jährige von Titos Partisanen ermordet wurde.

Wir müssen einander alle Geschichten erzählen“ stand als Motto über dem Vortrag. – Und so erzählt Martin Pollack alle Geschichten, besonders jene, die viele gerne vergessen würden.


Der Schluss aus den Hommagen

Der Rückblick zeigt eine Vielfalt an Texten, Themen und Genres. Ließ an bereits Bekanntes sich erinnern und es neu betrachten, oder anderes erst kennenzulernen.

Dank gilt der Volkshochschule der Stadt Linz und Christian Muckenhuber, der seit Jahren diese Reihe der Grazer Autorinnen Autorenversammlung betreut.


Bericht & Fotos: Elisabeth Strasser


Montag, 8. Januar 2024

Besinnen auf einst Vertrautes Zu Peter Paul Wiplingers jüngstem Gedichtband »Blian und Vablian«

 Von Helmut Rizy

 Foto: Annemarie Susanne Nowak

Wei auf oamoi wird ma kloar, daß i / mit dera Schproch, de i nia valernt hob, / hoamkemma tua in mei Kindheit, / in a längst vaschwundane Wät, heißt es in Peter Paul Wiplingers Gedicht »Hoamkemma«. Und er meint darin auch, dass aus den Gedichten, die da innerhalb weniger Monate in einem »Schreibrausch« entstehen, a scheens Biachö werden könnte. Und das ist Wiplingers 55. Buchpublikation tatsächlich auch geworden.

Der mittlerweile 84jährige Poet und Photograph kehrt darin in seine Kindheit zurück, in Lebensräume, die vielfach im Verdrängen und Vergessen verschüttet waren. Und er bedient sich dazu jener Sprache, die er – wie er sagt – seinerzeit als erstes gehört und gesprochen hat, seiner »Muttersprache«, dem Mühlviertler Dialekt.

Peter Paul wurde am 25. Juni 1939 als zehntes Kind des Kaufmanns Max Wiplinger in Haslach im Oberen Mühlviertel geboren. Den hatten die Nazi im Jahr zuvor, gleich nach dem Einmarsch als Bürgermeister als »politisch unzuverlässig« abgesetzt. Bezüglich der tiefen Religiosität, die im Haus herrschte, schreibt Peter Paul Wipplinger in seinem Gedicht »A finstare Wät« oiwäu homma dahoam /nur betn miassn oiwäu /nur betn betn betn. Aber es war gerade der mächtige Turm der Haslacher Kirche mit seiner Galerie, von der man bei gutem Wetter weit in die Umgebung sehen kann, die es dem Buben erlaubte, der Enge zu entkommen, wie er im Gedicht »Fliagn wia a Vogö« erzählt. Dort hinauf flüchtete er gelegentlich mit dem Wunsch, fortfliegen zu können, ins Unbekannte, weit weg, auf Nimmerwiedersehen.

In den ersten Jahren seines Lebens während der Okkupation Österreichs durch Nazi-Deutschland hätte er sehr weit fliegen müssen. Da wurden die Kinder ermahnt: Kinda, seids a weng brav! / Wei draußn is da Kriag. / Und do hed ma hoid gern / dahoam a weng mehr Ruah, wie es im Gedicht »A Ermohnung« heißt. Und die Angst vor Gespenstern, die im Finstern lauern, wie der Momo, erübrigte sich, dem Gedicht »Da Momo und de ondan« zufolge: De schwoarzn Mona, de mit de Stifön / und de schwoarzn Uniformen und mit’n / schwoarzn Kappö mit’n Todnschädl draf, / de woarn jo in Wirklichkeit do, iwaroi. / Da ondare Momo woar eh nur a Geist.

Eine besondere Rolle kommt in den Gedichten dem damaligen Gemeindearzt von Haslach, Dr. Kaufmann, zu, der – nachdem er einen schmerzenden Zahn gezogen hat –, im Gedicht »Da Doktor Kaufmann« den kleinen Peter Paul, der wie am Spieß schreit, mit den Worten zu beruhigen sucht: Heast, bleda Bua, plear ned aso. / Ondare valian in dera Zeit hiazt / an Fuaß, an Oarm oda a Hond. / Du host eh nur an Zohn valoarn, / des is vaglichn dagegn goar nix. Eine wesentlich bedeutsamere Rolle kam dem Arzt allerdings in einem anderen Fall zu, wie man aus dem Gedicht »S’Onnamierl – d’Anschi« erfährt. Peter Pauls Schwester Annemarie stand schon auf der Liste jener Haslacherinnen und Haslacher, die ins Schloss Hartheim, einer der Mordanstalten im Rahmen des NS-Euthanasie-Programms, verbracht werden sollten. Annemarie entging dem Tod nur, da ihr der Dr. Kaufmann bescheinigte, sie hätte lediglich eine sprachliche Behinderung.

Im Wissen darum versteht man noch besser, warum es Peter Paul Wiplinger ein so großes Anliegen war, dass vor der Haslacher Kirche ein Mahnmal errichtet wurde, mit dem der in Hartheim ermordeten Haslacherinnen und Haslacher gedacht wird. Und mittlerweile wird auf seine Anregung hin auch des Deserteurs Josef Steffelbauer, der im Februar 1943 auf der Flucht erschossen wurde, mit einer Tafel gedacht, nachdem man ihn und seinen Tod über Jahrzehnte totgeschwiegen hatte.

Aber es ist nicht nur die Sprache, mit der Wiplinger, der seit etwa sechzig Jahren in Wien lebt, in seine Heimat zurückkehrt. Er, der einst der Enge daheim entfliegen wollte, ist in Wien, wie er immer wieder in seinen Gedichten festhält, nie richtig heimisch geworden und fühlt sich da immer noch als Zuagroasta. Nur wenige Gedichte aus früheren Jahren hat er in den Band »Blian und vablian« aufgenommen. Aus dem Jahr 1991 stammt eins mit dem Titel »Da Untaschiad«, in dem es heißt: bei uns dahoam /obm im Mühlviadl / do griaßt di a jeda / wonnst ausn Haus / aussegehst, um dann zum Schluss zu kommen: owa redn duat koana mit dir /da in dem bledn wean / und drum ko i d’leid do /ned leidn i mogs oafoch ned. Nicht anders im Gedicht »s’Mühlviadl z’Wean und i« vom Juli 2022: Nur wonn i von Zeit zu Zeit affe ins Mühlviadl foahr / donn gschpia i, wo i dahoam bin, ned untn in Wean, / sondan dort wo i durch d’Londschoft geh oda foahr, / wonn mi scho a Kirchaturm von da Weidn her griaßt.

Dort scheint es offenbar auch leichter zu sein, seinen Gedanken nachzuhängen – vor allem im heimatlichen Dialekt. So liest man im Gedicht »Wia’s sein kunnt«: Wonn da Newö / scho iwa’n Toi liegt / und d’Sunn scho / untagonga und / runherum oiss / so lautlos stüh is, / do deng i ma oft: / Mei God, wia scheen /kunnt’s af da Wät sein, / wonn’s koan Hunga gab / und koan Kriag.

Meine Mutter – sie unterrichtete einst Deutsch an der Hauptschule des Orts im mittleren Mühlviertel, in dem ich aufgewachsen bin – machte mich darauf aufmerksam, dass es Unterschiede gebe zwischen dem Dialekt, den man im Oberen Mühlviertel, und dem, den man im Mittleren Mühlviertel spreche. Es ist mir aber nicht schwer gefallen, Peter Paul Wiplingers Dialektgedichte zu verstehen und mich auf seine Sprache einzulassen. Das gilt wohl auch für andere Oberösterreicher und Oberösterreicherinnen, andere Österreicher und Österreicherinnen, denn der Autor hat zur besseren Lesbarkeit stumme Konsonanten eingefügt, sodass manche Wörter leichter erkennbar sind. Und wenn einem doch einmal ein Wortbild auf Anhieb fremd erscheint, muss man lediglich das Wort buchstabengetreu lesen, und wird es rasch erkennen.

He(erschienen im "Podium"

Ficken mit dem Klassenfeind. Walter Josef Kohl

Foto: Dieter Decker Rezension von Dominika Meindl  „ Bei all der sozialen Aufsteigerei, beim sich Emporarbeiten von ganz unten, vom dörfl...