Donnerstag, 19. Dezember 2024

"Mein Vater, ein hochgradig beknackter Typ": Katharina Rieses "Die gute Wurst aus Holz"

Rezension von Dominika Meindl  

Vielleicht trügt die Erinnerung, aber gab es nicht einen Preis für den bemerkenswertesten literarischen Titel? Wenn ja, hätte "Die gute Wurst aus Holz" im Jahr 2023 unbedingt in die Top 10 gehört. Aber das nur als Versuch eines leichtfüßigen Einstiegs in die Rezension eines Buches (Memoir? Reisebericht? Kurzprosa? Monolog?), in dem das Leichte und das Schwere in poetische Balance gebracht wurden. Katharina Riese, 1946 in Linz auf die Welt gekommen, beschreibt darin ihre Annäherung an ihren Vater: Max Ernst Peukert, sudetendeutscher Erfinder und Lebensmittelchemiker, 1947 mit bloß 42 Jahren verstorben.

Der unbekannte Vater ist ein mächtiges Motiv in der Literatur - besonders, wenn er aktiver Teil des NS-Regimes war. Nicht von ungefähr wird Martin Pollack gleich zu Beginn zitiert, der von der tiefen Sprachlosigkeit spricht, die in der Nachkriegszeit als Fundament des Wiederaufbaus gewaltsam errichtet wurde. Peukert forschte im Dienst der NS-Kriegswirtschaft an etwas, das seltsam aktuell geworden ist: pflanzlichem Wurstersatz, der "Lenzinger Myzelwurst" oder "Sogspäwurst". Bei den Nazis natürlich nicht aus ethischen Erwägungen (warum essen wir überhaupt noch Tiere!?), sondern als Hilfe gegen den selbstverschuldeten Hunger in Kriegszeiten ("Schließung der Eiweißlücke"). 

Gleich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs begibt sich Riese zu einer Reise ins Riesengebirge, um den Geburtsort des Vaters zu besuchen - um sofort in dichtem Nebel verloren zu gehen, wie ein Vorzeichen für das kommende Unterfangen. Im Folgenden umkreist sie den Unbekannten in kurzen "Satellitentexten", berichtet von der Schreibhemmung, Recherchefahrten in Oberösterreich ("in situ", von "Schauplatz zu Schauplatz") und der eigenen, nicht ganz linearen Familiengeschichte. "Jedes Kind hat seine eigenen Eltern. Es sind andere als die seiner Geschwister. Und: Die wenigsten Kinder wissen viel über ihre Eltern, bevor sie Eltern geworden sind". Beim heimlichen Schnüren im Haus findet das Kind ein Foto vom Vater und erschrickt wegen seines Barts. "Ich bin die Tochter von Adolf Hitler!" 

Rieses Sprache ist klar und höchst einnehmend, immer wieder voll treffender Ironie. "Den Flüssen geht es so wie den Frauen bei der Heirat. Nach der Vereinigung verlieren sie ihren Namen." Oder: "Intimiät und Desaster. Alles, was ist, muss nicht sein." Die skurrilsten Kapitel schreibt die Realität, oder besser - das Archiv. Da findet sich etwa in Roman Sandgrubers Monografie über Lenzing das "Biosyn-Gedicht" über die "großen Zeiten", in denen müsse man den "Magen auf die gute Wurst aus Holz" vorbereiten. 

"Was geht uns das an, welchen Mist unsere Eltern verbrochen haben?" sagt Rieses Halbschwester einmal über die "Privatkatastrophe" der Eltern. Sie hat recht, aber zum Glück hat sich Katharina eben doch für den "Mist" interessiert, als einzige. Was sie über andere schreibt, gilt unbedingt auch für ihr eigenes Buch: "Was mich, sagt die Autorin, wie ein von der Sense erfasstes Grasbüschel umsäbelt, ist die Lektüre von 'Kindern', die über ihr Heranwachsen mit gestörten Eltern plausibel und verständlich schreiben können." 

Eine großartige Spurensuche, ein "Gewebe zwischen Familien- und Zeitgeschichte", in fantastischen Kurztexten und stilistischer Vielfalt. Man mag dauernd unterstreichen: "Der Zweite Weltkrieg war, die Fernsehprogramme beweisen es, das aufregendste aller Männerspiele." 

Foto: privat

Katharina Riese, Die gute Wurst aus Holz. Dr. Peukert. Erfinder. Vater. Klever Verlag. 144 S. Hardcover. 22 €

Ein Lebenslauf Rieses ist auf der Website der GAV zu finden: www.gav.at/pages/mitglieder.php?ID=457

Dienstag, 17. Dezember 2024

Vom Tod eines Sprachkünstlers

 Nachruf und Porträt von Herbert Christian Stöger


Urs Allemann ist tot. Ein Sprachkünstler, dessen Vortrag immer ein Erlebnis war. War er ein Formalist und vielleicht unfreiwilliger Provokateur? Auf jeden Fall arbeitete er sich an der Vielfälligkeit der Sprache ab. Der Schweizer Autor gewann 1991 mit seinem Text „Babyficker" den Preis des Landes Kärnten, damals noch als Ingeborg Bachmannpreis und nunmehr unter dem Titel "Tage der deutschsprachigen Literatur" bekannten Lesewettbewerbes. Allemann geborgen 1948 in Schlieren bei Zürich. Er studierte Germanistik, Anglistik, Soziologie und Sozialpsychologie. Zwischen 1986 und 2004 war er als Literaturredakteur der Basler Zeitung tätig.

Für mich war es wie eine Initialzündung, den Autor bei seinem Auftritt in Klagenfurt zu sehen, wie man mit Sprache umgehen kann. Damit warf er auch die Frage auf, was darf Literatur und wie darf sie es. Meiner Kenntnis nach gab es selten so eine große Aufregung um den zweiten Preis in Klagenfurt. Die FPÖ vermochte die Preisübergabe nicht zu verhindern. Er wandte sich später mehr der Lyrik zu, wobei sein erstes veröffentlichtes Buch mit dem Titel „Fuzzhase" (bei Ammann, Zürich 1988 erscheinen) auch ein Gedichtband war. Noch vor ein paar Jahren war er in der Künstlervereinigung Maerz in Linz zu Gast, wo ich ihn beim Gespräch in der Alten Welt kennenlernen durfte. Abgesehen von seinem preisgekrönten Text in Klagenfurt ließ sich seine Kunst in der Prosa in dem Erzählband „Öz & Kco" (Sieben fernmündliche Delirien. Ammann, Zürich 1990) und „Der alte Mann und die Bank" (Ein Fünfmontagsgequassel. Deuticke, Wien 1993) nachlesen. 2012 erhielt er den Heimrath-Bäcker-Preis in Linz zuerkannt. Sein letztes Buch „Carruthers-Variationen" erschien im Klever Verlag, Wien. Noch bevor er seinen letzten Preis entgegennehmen konnte, verstarb er 75-jährig. Ulf Stolterfoht, alleiniger Juror, schrieb in seiner Begründung zum Erich-Fried-Preis, „daß sich in Allemanns Vortrag Experiment und Formbewußtsein treffen würden."


Mittwoch, 4. Dezember 2024

Apfent 9.0 – Keks, Drugs N' Rock N' Roll!

Die große Weihnachts-Lesebühne der GAV OÖ 

Foto: der famose Dieter Decker!


11. Dezember, Mittwoch, 19.30 Uhr, Kulturverein Strandgut (Ottensheimer Straße, 4040 Linz). Eintritt frei!

Mit Walter Kohl, Dominika Meindl, René Monet und Kurt Mitterndorfer
 

Alle Jahre wieder ringt das Weihnachts-Ressort in Oberösterreichs größter Literaturvereinigung: um Stille, Frieden und innere Einkehr. Die Früchte dieses Ringens präsentiert das Quartett bei der traditionellen großen Jahresabschluss-Lesebühne. Dabei ist der Gabentisch bei der Tombola des Grauens stets überreich gedeckt. Ja, richtig gelesen: Das ist die einzige Lesereihe, bei der es GESCHENKE gibt!

Die gräuliche Tombola kennen Feinspitze von der Mutterlesebühne "Original Linzer Worte" und von daher stammt auch das Multitalent René Monet, seines Zeichens Chefingenieur des heimischen Literaturbetriebs. Er steht für besinnungslose Weihnachtslieder und abgründig-anrührende Erzählungen. Walter Kohl ist voll auf den True-Crime-Hype aufgesprungen, er wird weihnachtliche Kriminal-Gstanzln vortragen, dazu gibt es einen Podcast über schauerliche Xmas-Verbrechen. Und Karl May darf nicht fehlen: Dessen berühmtes Weihnachtsgedicht, vom Meister selbst als Lied angelegt, interpretiert Kohl als Folksong, als ambient electro dance song, als Death-Metal-Nummer und vieles mehr. Der liebe Alt-Vorsitzende Kurt Mitterndorfer setzt der gedankenlosen Fröhlichkeit die nötige Mahnung zur Umkehr entgegen, indem er es in seinen kurzen Texten an der notwendigen gesellschaftskritischen Strenge nicht mangeln lassen wird. Im Gegensatz zur "Präsidentin" Dominika Meindl, die sich alljährlich vom Christkindi eine gute Sterbstunde für die Despoten der Welt wünscht und Antimaterie zum Fest der Liebe schenkt. Ihre beste Rolle ist noch die ersehnte Bescherung am ersehnten Ende: Tombola-Geschenke für das Publikum! Literarisches Schrottwichteln!

Das Quartett performt im Ringerl, ob allein oder gemeinsam, in allen Formen und Farben. Das ist überraschend oder berührend, satirisch oder literarisch gehaltvoll – in Summe aber wahrhaft unterhaltsam.

Dienstag, 3. Dezember 2024

Herbstlese. Ein Fest für die Literatur, ein neues Format an einem neuen Veranstaltungsort

Nachbericht von Elisabeth Strasser

Lasst uns Literatur, Dichten und Denken zum Jahresausklang feiern!“, stand als Untertitel auf der Einladung zu diesem von mir erfundenen Format, bei dem am 26. November 2024 fünf Autor:innen eingeladen waren, um im zur Neige gehenden Jahr über Gelungenes, über Erfolge, Freuden und Neugeplantes im Zusammenhang mit ihrem literarischen Schaffen zu berichten. Dies in Form von Leseauszügen und im Rahmen kurzer Interviews mit Fragen zum vorgelesen Text, zum Werk und zur Person.

Und das an einem erstmals für eine Veranstaltung im Rahmen der GAV OÖ genutzten Lokal, dem Haus Willy*Fred, zentral in Linz am Graben Nr. 3 gelegen. Was es mit diesem Haus und seinem alternativen Wohnprojekt auf sich hat, das stellte Aileen Derieg vom Willy*Fred am Beginn des Abends vor.

Näheres dazu hier: www.willy-fred.org

Auf die Bühne – genauer gesagt, auf das schöne Bühnensofa – konnte ich an diesem Abend bitten: Corinna Antelmann, Johann Kleemayr, Dominika Meindl, Richard Wall und Klaus Wieser.

Texte vorlesen, über die eigenen Schreibintentionen sprechen, sich als Autor:in dem Publikum vorstellen, war dabei das eine; das andere – und ein nicht unwesentlicher Bestandteil des Abends – bestand darin, Gespräch und Austausch zwischen Publikum und Auftretenden zu ermöglichen, anlässlich einer Pause im Programm und beim Ausklang mit dem einen oder anderen Getränk.

Eine Vielfalt an Beiträgen ließ sich hören – von Ernsthaft-Nachdenklichem bis zu Witzig-Lustigem. Die Autor:innen boten Einblick in ihr Schreiben, was ihnen dabei Anliegen ist, wie sie es mit Performance halten, ob sie damit eine Chance für gesellschaftspolitischen Einfluss sehen, etwas tatsächlich „bewegen“ können, und wie unterschiedlich sie z.B. an Erzähltexten oder an Lyrik arbeiten. Ein Aspekt beschäftigte sich etwa mit der Frage, warum Lyrik im deutschsprachigen Raum nicht jenen Stellenwert besitzt, den sie verdient, während dies anderswo anders ist.

Wie notwendig – letztlich lebensnotwendig – Literatur ist, wurde bei diesem Anlass (wieder einmal) klar.

Das hat uns an dem Abend die Maus Fredermink aus Dominika Meindls ungeheuer witzig aktualisierter Fabel „Von Mäusen und Menschen“ klargemacht. Die Maus, die Sonnenstrahlen sammelt, was ihren Mitmäusen – besonders Karl, der Kanzlermaus – als ein unsinniges Vorhaben erscheint, sie alle aber damit den Winter überstehen lässt.


Dem schließt sich der fliegende Teppich, der mittels Geschichten hinaufträgt, um neue Perspektiven zu offenbaren, aus Corinna Antelmanns Prolog ihres in Arbeit befindlichen Romans an. Damit verbunden war die Frage, wieweit junge Leute der „digital-native-Generation“ sich mit Geschichten erreichen lassen. Letztlich ging es um die am Ende des Leseauszugs gestellte Frage: „Was bedeutet ‚Mut‘ für mich?“ in einer eigentlich freien Gesellschaft, wo alle ihren Senf zu allem dazugeben können, es zwar keine Zensur gibt, aber es gibt Shitstorms; einerseits sprachliche Brutalität, andererseits Überempfindlichkeit.

 

Geschichten, die aus der eigenen biografischen Erfahrung geschöpft sind, erzählten Johann Kleemayr und Klaus Wieser. Johann Kleemayr las Auszüge aus einem Romanprojekt mit dem Titel „Der Tag, an dem Hans Schriftsteller wurde / und der Tag, an dem Hans kein Schriftsteller wurde, mit einem Roman im Roman“, in dem ein junger Mann namens Roman die Hauptrolle spielt. – Dabei ging es auch um die Frage nach „autobiografischem“ und „autofiktionalem“ Schreiben – also was wirklich 1:1 eigene Geschichte ist, und was literarisch verdichtet. – All das mag alle anregen, die eigene Biografie zu erzählen oder zumindest für sich zu überdenken, zu reflektieren.

Klaus Wieser setzt seine „Gruber-Geschichten“ fort, nachdem neu sein Band „Onkel Emmerich – Gruber Geschichten“, erschienen ist. Im vorgelesenen Auszug ging es neben Gruber um Herbert K. und die witzigen Abenteuer der beiden. Am Beispiel einer lyrischen Zugabe schilderte Klaus Wieser seine unterschiedlichen Arbeitsweisen bei Lyrik und Prosa, und was für ihn als Inspiration dient.



Von alledem, worum es im Leben geht, singen die Barden Lieder, die das ausdrücken und in Bilder verwandeln, was wir selber empfinden. – Richard Wall – nicht nur als Dichter, sondern auch als Bild-Künstler tätig, versteht sich darauf, Gedankenbilder in Sprachbilder umzuwandeln, wovon er in neun Gedichten Beispiele präsentierte.

Und Klaus Wieser stellte ein ganz neu im Zusammenhang mit seiner kürzlichen Japan-Reise entstandenes Haiku vor, das die japanische Praxis, zerbrochene Gefäße mit einer mit Goldstaub versetzten Paste zu reparieren, aufgreift und außerdem als ein treffliches Bild für literarisches Schaffen gelten kann:

Bruchstellen im Leben, die wir alle haben, werden damit nicht verborgen, sondern veredelt mit dem Goldstaub der Poesie, mit dem Wortwitz einer Dichtung, mit der Spannung einer Geschichte, die uns neue Perspektiven gibt, uns zum Nachdenken anregt oder uns zum Lachen bringt.

Die Notwendigkeit, Geschichten zu erzählen und Lieder zu dichten, wird nicht aufhören.

Genau das ist an diesem Herbstlese-Abend wiederum deutlich geworden.


Fotos © Dominika Meindl


Dienstag, 26. November 2024

Herbstlese 2024

Das neue Format der GAV OÖ: Lasst uns Literatur, Dichten und Denken zum Jahresausklang feiern!


 

Dienstag, 26. November 2024, 19 Uhr

Willy*Fred, Linz, Graben 3


Autorinnen und Autoren blicken zurück auf das zur Neige gehende Jahr und geben 

Einblick in ihr aktuelles Schaffen.


mit

Corinna Antelmann

Johann Kleemayr

Dominika Meindl

Richard Wall

Klaus Wieser

& Elisabeth Strasser


Ausklang bei Getränken & Gesprächen


 

 


https://www.willy-fred.org/


Freitag, 22. November 2024

X-Blatt - Vielfältige Literatur im Kleinformat

Von Elisabeth Strasser


Der Literaturautomat

Er dürfte (hoffentlich) schon ziemlich bekannt sein, der Literaturautomat im Lokal Extrablatt an der Spittelwiese zentral in Linz gelegen. – Wer ihn nicht kennt und zufällig darauf stößt, kann sich davon überraschen lassen: So etwas gibt es tatsächlich!

2016 wurde er installiert, nach einer Idee von Kurt Mitterndorfer und Herbert Christian Stöger.

Ein Textautomat war schon länger eine Idee“, erzählt Kurt Mitterndorfer, „aber einen anzuschaffen schwer finanzierbar. Dann aber kam mir der ehemalige Mannerschnitten-Automat im Extrablatt unter, der sich dafür gut eignete. Eine Zehn-Schilling-Münze akzeptierte der Automat, was nun einer Ein-Euro-Münze entspricht. So viel kostet nun ein X-Blatt beim Automaten.“

Literatur – und zwar eine ganze Vielfalt davon – unter die Leute zu bringen, ist ein Anliegen des Literatur-Automaten. Inzwischen gibt es bereits 25 Ausgaben der X-Blatt-Literaturhefte. Die Themen reichen von „kurzen Gedichten“ bis zu Kurzgeschichten oder speziellen Themen wie „Spaltung“ oder „Winter“ oder „Licht“ oder „Ich-Kind-heute“ oder „Tiere“ oder Texte, die zu Bildern entstanden sind. Die Illustrationen sind ein wesentlicher Bestandteil der X-Blätter. Manchmal auf die Texte bezogen, manchmal unabhängig davon. Zeitgenössische Künstler:innen steuern ihre Zeichnungen, Grafiken, Collagen oder Fotos dazu bei. – Das ergibt bei jeder Ausgabe ein Gesamtkunstwerk aus Bild und Text.

Präsentation der neuesten Ausgaben

Am 12. November 2024 wurden die neuen Ausgaben des X-Blattes im Stifterhaus präsentiert.

Darunter die diesjährige Sonderausgabe, die dem Schriftstellerpaar Judith Gruber-Rizy und Helmut Rizy gewidmet ist und mit Fotos der beiden illustriert. 

 


Stefan Reiser, ein Meister der Kürzestform, las einige seiner witzig-ironischen „Minutentexte“; Leopold Spoliti sorgte für unheimliche Spannung mit seiner Geschichte aus dem Jahr 2040 rund um die Eröffnung des Brenner-Tunnels, der Züge nicht dort ankommen lässt, wo sie eigentlich hin sollen.



Und Klaus Wieser stellte Lyrik vor, neben jener im X-Blatt erschienenen, auch noch unveröffentlichte, die seine kürzlichen Japan-Reise anregte. Insbesondere blieb mir, wie wohl auch anderen, die dabei waren, der Text zu jener japanischen Praxis in Erinnerung, wobei zerbrochene Gefäße mit einer mit Goldstaub versetzten Paste gekittet werden, dieses Bild, das zeigt, wie Brüche im Leben nicht versteckt werden müssen, sondern veredelt werden können.

 

Derlei Pretiosen, wundervolle Miniaturen, Spannung in Kurzform, anregende Gedichte, Lustiges und Besinnliches findet sich in allen Ausgaben des X-Blattes. – Eine Vielfalt eben, in der zu schmökern sich lohnt.

Fotos © H.C. Stöger


Montag, 18. November 2024

Selbst die beste Eroberung ist am Ende nur Staub


Über Joyce Mansours „Nur Besessene schwänzen das Grab“, aus dem Französischen von Lisa Spalt

Rezension von Dominika Meindl

Beim Lesen der ersten Seiten kam mir (unter mildem Einfluss legaler psychotroper Drogen – es war Wochenende!) die Idee, den ganzen Surrealismus noch einmal von vorne beginnen zu lassen, aber diesmal geschrieben und gemalt und gefilmt ausschließlich von Frauen; das wäre doch ein Experiment!

Joyce Mansour (1928 bis 1986) war eine Französisch schreibende Dichterin mit syrisch-jüdischen Wurzeln, die lange in Ägypten lebte und schließlich nach Paris zog, wo sie sich den Surrealisten anschloss, als eine von wenigen Frauen (ihre Lyrik und Prosa wurden auch von den Männern nach dem binären Schema besprochen, wie sich im Wikipedia-Eintrag nachlesen lässt). Sie selbst überließ ihre Biographie bereitwillig den Spekulationen anderer.

Mansours Erzählungen bewegen sich oft an der Grenze zwischen Wachen und Traum, zwischen Klarheit und Wahn. Die Handlung nachzuerzählen ist nicht ganz leicht, und auch nicht ganz wichtig. Im ersten und längsten Text „Maria oder die Ehre zu dienen“ tut sich eine Frau mit ihrem Mörder zusammen, ihre Schwester hat Sex mit ihrem Kater, der von einer losgelösten Hand erwürgt wird. In „Sonntagskrämpfe“ spricht der von Poesie besessene Narr Hiob in Aphorismen. „Das ist kein Mensch, das ist ein Feuerwerk.“ Und in „Der Krebs“ verliebt sich ein junger Diener in den stetig wachsenden Buckel seiner Herrin.

Die drei Texte dürfen nicht schnell weggelesen werden, im Idealfall findet sich die Zeit, jeden einzelnen Satz im Geiste Form annehmen zu lassen, als läse man ein langes Prosagedicht. Mancher trägt vielleicht zu schwer an seiner psychoanalytischen Metaphorik, aber dann steht wieder ganz Großes da. Da kriechen „Gedanken, kalt wie Nacktschnecken“, da ist ein Mann, „der von allem, was tröstet, entwöhnt war.“ „Die Vögel haben allgemein wenig Humor.“ (Was nicht stimmt, wenn man den tolldreisten Manövern der Dohlen zusieht). Schön auch: „Ich bin nicht zynisch genug, um gegen die Uhr, gegen die Leichtigkeit, gegen die Dummheit zu kämpfen.“ Und dann: „Stille am Rand der Weltveranstaltung“.

Die drei Erzählungen sind nun zum ersten Mal auf Deutsch zu lesen. Ob die Übersetzung kongenial ist, lässt sich nur vermuten, das eigene Französisch ist seit Schultagen verschüttet wie ein Pharaonengrab, aber es ist ohne Risiko anzunehmen, da der Name Lisa Spalt für Qualität bürgt. Das „ständige Mitglied für poetische Alltagsverbesserung“ bezeichnet das Buch im Übrigen scherzhaft als „ein sehr obszönes, heftiges, witziges, grausames Minibuch“, das man nicht in „einer Kinderliteraturzeitschrift“ besprechen sollte. Das ist gut gesagt und sehr richtig!


Joyce Mansour: „Nur Besessene schwänzen das Grab“. Aus dem Französischen von Lisa Spalt. Mit Zeichnungen von Sabine Marte. Czernin Verlag 

https://www.czernin-verlag.com/buch/nur-besessene-schwanzen-das-grab

"Mein Vater, ein hochgradig beknackter Typ": Katharina Rieses "Die gute Wurst aus Holz"

Rezension von Dominika Meindl   Vielleicht trügt die Erinnerung, aber gab es nicht einen Preis für den bemerkenswertesten literarischen Tite...