Dienstag, 17. September 2024

AUF DER SUCHE - über Bodo Hell

Von Herbert Christian Stöger

 
Vor einer Hütte. Auf der selben Stelle stehen wie Bodo Hell. Im Boden sind zwei Stück Holz eingegraben. Wie zwei Fußabdrücke. Darauf sein Name eingraviert. Daneben stecken ein oder mehrere Stecken. Je nach dem, wie viele hier hergekommen sind, um ihm die Ehre zu erweisen. Einmal wird sich dort ein kleiner Haufen bilden. Stecken dienen zur Unterstützung beim Wandern. Oder sie werden zum Viehtreiben benutzt. Jeder muß sich seinen Aufstieg selbst erwandern, um die Alm zu erreichen. Mehr als zwei Stunden Fußmarsch sollte man einplanen. Je nach dem, wo man abgesetzt wurde oder sein eigenes Auto parken konnte.

Vor vielen Jahren habe ich Bodo einmal dort oben besucht. Eine Zeit, wo noch mit analogen Kameras photographiert wurde. Es ist nur noch ein Bild davon erhalten. Dieses habe ich anläßlich einer Ausstellung bearbeitet. Die anderen sind in meinem Kopf, immer wieder aufblitzend.

 

Jemanden zu vermissen ist mehr als Anteilnahme. Aber zu wissen, jemanden nicht wieder zu sehen, ist ein Vermissen, das eine bleibende Leere hinterläßt.

 

Mit dieser Leere gilt es nun umzugehen. Er war einer, der sich mit Mensch und Tier verstand. Im Bezug auf einen Literaten ist das hervorhebenswert. Er trotzte bislang vielen Widrigkeiten in diesem Gelände am Berg.

 

Ein Signal den Berg hinauf. Verschiedene Laute wird auch er benutzt haben, um nach dem Vieh zu rufen. Hat er einen letzten Hilferuf ungehört setzen können?

 

Sein Leben spielte sich in den Sommermonaten auf der Grafenberg Alm am Dachstein ab. Er war ein Suchender. In jeder Hinsicht. Bestrebt, das Wissen der Welt in seinen Texten wieder erlebbar zu machen und damit dieses Wissen weiterzugeben, um es zu erhalten. Wie er selbst von sich sagte, war er ein Performer. Er konnte als Vortragender seine Texte unvergleichlich vermitteln.

 

Er beschäftigte sich mit hauptsächlich Nutztieren. Auf sie gab er acht und begab sich jeden Tag auf die Suche nach ihnen. Dabei ging er selbst verloren. Er kannte sich in seinem Gebiet so gut aus, daß er einen Weg gefunden hat, den vielleicht kein anderer mehr gehen wird. Einiges wird eben nur durch Überlieferung weitergegeben. Manche Wege gibt man nicht weiter, weil man andere davor beschützen will, sie auch zu beschreiten. Es ist zu gefährlich. Es war wohl zu gefährlich. Was immer geschehen sein mag. Sein Reich hat ihn aufgenommen. Eine Legende kann sich darum spinnen. Eine, die von Wahrheit erzählt, kann in diesem Fall nur eine Vermutung sein. Niemand anderes als er war dabei. Er wird es uns wohl nicht mehr erzählen.

Was kann mehr gesagt werden als: Er wird vermisst.

*******

Bildunterschriften:

1.

Folgende fünf Bilder sind anläßlich einer Lesung in der Maerz Galerie Linz entstanden. Es war nicht das letzte Mal, daß ich Bodo Hell getroffen habe, aber die letzten Bilder, die ich von ihm gemacht habe.

25. September 2020


2.

Bearbeitetes Photos beim Besuch auf seiner Alm.

Montag, 16. September 2024

Literaturtage 2024 in Thalheim bei Wels

 LITERATUR UND KUNST IM FLÖßERHAUS


Literaturtage 2024


27. September bis 6. Oktober




Freitag, 27. 9. 2024, 19:30 Uhr

Lesung mit Kerstin Gandler und Erich Wimmer, Hommage an Bodo Hell



Sonntag, 29. 9. 2024, 11 Uhr Lesung mit Stefan Reiser und Johann Kleemayr und special guest



Freitag, 4. 10. 2024, 19:30 Uhr

Lesung mit Irene Diwiak und Stefan Kutzenberger



Sonntag, 6. 10. 2024, 11 Uhr

Lesung mit Erika Kronabitter und Günter Kaindlstorfer (Günter Wels)




Ausstellung von Wolfgang Maria Reiter: „Im Fluss“, Schrift.Bilder



Moderation: Sibylle Gandler und Johann Kleemayr






Flößerhaus, Aigenstraße 3, 4600 Thalheim bei Wels

Eintritt frei

Reservierung: 0699 / 13 48 22 48

www.johannkleemayr.at


Veranstaltet mit Grazer Autorinnen Autoren Versammlung (GAV)

Dienstag, 10. September 2024

FEUILLETS D’HYPNOS / AUFZEICHNUNGEN AUS DEM MAQUIS 1943 – 1944 von René Char. Eine Empfehlung

Von Richard Wall

Zur Aktualität von René Char

Der aufkeimende, ja bereits kräftig wuchernde Faschismus in Europa lässt mich den Kopf schütteln über den Hang zur Selbstbeschädigung eines großen Teiles der Bevölkerung, die dieser Ideologie in freien Wahlen (!) zum Aufstieg verhilft. Es ist, als ob diese Leute noch nie von der Tatsche gehört hätten, dass Faschismus nicht nur geistige Knebelung, Uniformierung und letztlich Krieg bedeutet. Ich will hier aber nicht all die historischen und politischen Verwerfungen, die vor bald hundert Jahren zum Spanischen Bürgerkrieg und zum 2. Weltkrieg und anderen Gewaltexzessen geführt haben, wiederkäuen, sondern an einen provenzalischen Dichter und Partisanen erinnern, der zuerst in der mit den Nazis kollaborierenden Vichy-Regierung gegen diese auf Konfrontation ging und später, als auch Südfrankreich von den Nazis besetzt wurde, sich mit einer Gruppe Maquisards klug und tatkräftig für die terrorisierte Bevölkerung einsetzte und die Invasion der Alliierten von Algerien aus vorbereiten half. Was die Zeit danach betrifft, wusste er: „Die Implantation“ des Dämonischen kann nicht ungeschehen gemacht werden. Was einmal in die Welt gesetzt wurde, bleibt.

Ich spreche hier von René Char, der sowohl im Sprachgebrauch als auch im politischen und kulturpolitischen Handeln radikale Positionen bezogen hat. Auf meine Art aktualisiert habe ich meinen Zugang zu René Char, dessen teils hermetische Dichtung mich seit Jahrzehnten begleitet, durch Besuch seiner provenzalischen Geburtsstadt L’Isle-sur-la-Sorgue und durch Wanderungen und Radtouren in der Vaucluse, die seine Dichtung geprägt hat.

Von einem Lageplan der genannten Stadt, der auch das Umfeld außerhalb der Altstadt mit einschloss, wusste ich, dass der Friedhof südlich der Eisenbahnlinie von Avignon nach Marseille liegen musste. Ich spazierte, von meiner Unterkunft kommend, durch die Rue de la République und überquerte zwei Kanäle der Sorgue, zu deren Quelle unter einer 230 Meter hohen Felswand ich am Tag zuvor aufgestiegen war. Nachdem ich einige Antiquitäten- und Ramschläden passiert hatte, bog ich in die vor mir liegende Straße ein, die gen Süden führte. Auch heute wieder: Statt die Satelliten zu befragen, hielt ich mich an die Auskunft von Passanten. So kam ich mit Menschen ins Gespräch, und so setze ich mein Französisch einer Prüfung aus. Auch als ich versuchte, mir den Weg zum Friedhof, durch einen versteckten Durchschlupf unter der Bahnlinie, erklären zu lassen.

Beim Eingang zum Friedhof, der mir annähernd so groß schien wie das Zentrum der Stadt, hing ein Lageplan, der keinen Hinweis lieferte zur Position des Grabes von René Char. Weit und breit keine Person, die ich – spät nachmittags – um Auskunft hätte bitte können. Da ich wusste, dass das gesuchte Grab ein altes Familiengrab darstellte, beschloss ich, den alten Teil des Friedhofs systematisch, Weg um Weg, abzusuchen. Des Weiteren müsse mir das Aussehen der Grabanlage beim Auffinden dieser behilflich sein. Die meisten Gräber haben nur einen aufrecht stehenden Grabstein, jenes von René Char besteht aus der Geometrie eines stehenden und eines liegenden Blocks.

Schon nach kurzem Suchen, von einer unerklärlichen Sonde geleitet, konnte ich sein Grab lokalisieren. Der mächtige Monolith, etwa achtzig mal achtzig Zentimeter im Grundriss, kragt im oberen Teil aus und schließt mit einem Satteldach ab. Die Vorderseite, ein hohes Rechteck, trägt, von einer rahmenähnlichen Einfassung umgeben, die Inschrift FAMILLES / ARNAUD / ET SON GENDRE / CHAR – MAGNE.

Davor der liegende, von Flechten überwachsene Block. Zu meinen Füßen nun der berühmte Grabspruch, in dem sich ein Hinweis auf Heraklit verbirgt. Die Reliefschrift ist kaum lesbar, zusätzlich ist sie von einem zum Grab sich hinneigenden, rotblühenden Rosenstrauch überdeckt und beschattet:

SI NOUS HABITONS UN ÉCLAIR, IL EST LE CŒUR DE L’ETERNEL

Dazu gibt es drei Übersetzungen. Eine davon, die mir besonders zusagt, jene von Johannes Hübner aus dem Jahr 1959, lautet: „Bewohnen wir einen Blitz, so ist er das Herz der Ewigkeit.“

Am oberen Ende der Bodenplatte eine leicht zum Betrachter geneigte Platte: RENÉ CHAR / 1907 – 1988. – Grau ist das Grab des Dichters, dachte ich mir, wie der Karst der Vaucluse, über dem sich eben die Wolken türmten; ein Gewitter schien sich aufzubauen. Ein reinigender Blitz wäre der Inschrift durchaus zu wünschen.

Es mag vor etwa 20 Jahren gewesen sein, als ich auf den hierzulande kaum bekannten Namen René Char aufmerksam geworden war, und ich mir eines seiner Bücher kaufte: HYPNOS / FEUILLETS D’HYPNOS / AUFZEICHNUNGEN AUS DEM MAQUIS 1943 - 1944.

Schon der Titel enthält die Bedingungen der Niederschrift und die Entstehungszeit. Mit „Maquis“ ist der nahezu undurchdringliche Buschwald in den Mittelmeerländern gemeint. Dieser war immer wieder Rückzugsgebiet für Untergrundbewegungen, so auch während der deutschen Besatzungszeit in Südfrankreich. Als Maquisards wurden folgerichtig Personen bezeichnet, die sich der Résistance anschlossen.


Biographisches

René Char wächst, wie er selber berichtet, im großen Anwesen seiner Eltern auf, „Les Névons“, benannt nach einem Bach. Sein Vater ist Geschäftsführer einer Gipsfabrik und Bürgermeister der Stadt. Mit Vorliebe durchstreift der junge René mit seinem Freund Francis Curel, Sohn des Kanal- und Schleusenwärters, die umliegende Landschaft, die Ausläufer des Maquis, die Ufer und das Quellgebiet der Sorgue. Genaue Kenntnisse der Flora und Fauna der Region fließen später immer wieder in seine Gedichte ein.

Bei Lagnes lernen sie einen Baumpfleger kennen, der ihnen begeistert von seiner Teilnahme an der Pariser Commune erzählt, und nicht weniger spannend versteht er es, den Knaben die Sternbilder am nächtlichen Himmel in Verbindung mit der antiken Götterwelt nahezubringen. Für René Char ein Kosmos aus Mythologie und naturwissenschaftlicher Anschauung, von der er nicht mehr loskommen wird.

Nach erfolglosen Versuchen in einer Kaufmannslehre und einem Studium in Aix-en-Provence, das er abbricht, folgt er seiner Berufung als Dichter. Im Jahr 1929 veröffentlicht er sein erstes Buch, Arsena, mit dem er nach Paris reist. Es kommt zu einer Begegnung mit Paul Éluard und André Breton, die ihn einladen, an der surrealistischen Bewegung teilzunehmen. In der Folge entsteht die Gemeinschaftsarbeit Ralentir Travaux, die 1930 in Buchform erscheint. In diesen Jahren, zwischen 1930 und 1934, lebt er vorwiegend in Paris, nur die Sommermonaten verbringt er in der Vaucluse oder an die Cote d’Azur. Nach dem Selbstmord von René Crevel zieht er sich aus dem Kreis der Surrealisten zurück, vor allem geht er zu den Positionskämpfen innerhalb der Gruppe auf Distanz, seine Freundschaft zu Paul Éluard, Tristan Tzara und anderen bleibt noch einige Jahre bestehen.

Nun wird wieder seine Geburtsstadt relevant. Am 6. Februar 1934 stürmen Nationalisten und rechte Schläger das Palais Bourbon, blutige Straßenschlachten sind die Folge. René Char reist aus der Provence nun doch wieder nach Paris, um an den Demonstrationen gegen die faschistischen Tendenzen in Frankreich teilzunehmen. Von Kindheit an rebellisch, trägt er seine Empörung nicht nur auf der Zunge sondern nach außen, hinein in die Gesellschaft. Als im Herbst 1935 in Avignon ein Mann aus L’Isle-sur-la-Sorgue zu Unrecht des Diebstahls bezichtigt und zu einer überzogenen Gefängnisstrafe verurteilt wird, lässt er eine Protestnote drucken: „Bürger von L’Isle seid gewiss! / Die Bösewichter werden einer nach dem andern entlarvt und die Wahrheit wird Eurem aufrichtigem Urteil unterzogen.“ Mit Hilfe seines um sechs Jahre älteren Freundes Francis Curel plakatiert er sein Statement an Häuserwände und an Bäumen entlang der Straße zwischen Avignon und Fontaine-de-Vaucluse.

In das Dorf Céreste im Departement Alpes-de-Haute-Provence an der Nationalstraße zwischen Avignon und Forcalquier, etwa 70 Kilometer östlich von L’Isle sur la-Sorgue, kommt René Char weil ihn dort ein Arzt namens Georges Louis Roux behandelt. Nach Monaten wiederkehrender Krankheiten und einer lebensbedrohenden Blutvergiftung kommt er wieder zu Kräften und schließt Freundschaft mit seinem Lebensretter. In seiner Art, sich die Umgebung durch Spaziergänge zu erschließen, wird ihm diese Region so vertraut, dass nur wenige Jahre später Céreste sein Stützpunkt wird.

Beim Einmarsch der deutschen Wehrmacht im Frühling 1940 ist Char im Elsass stationiert. Bei einem Munitionstransport im Mai oder Juni 1940 wird die Einheit von Stukas angegriffen; er hat Glück und kommt mit dem Leben davon. Char wird gefangengenommen, kann aber, da die Deutschen mit der Masse an Kriegsgefangenen organisatorisch nicht zurechtkommen, fliehen, und kehrt in die Provence zurück. Hier kümmert er sich vorerst um seine Frau Georgette, eine gebürtige Goldstein, seit 1932 mit ihr verheiratet.

Sie hatte sich mit ihrer Familie ins südwestfranzösische Department Lot abgesetzt. René Char, der mittlerweile mit der Frau von Tristan Tzara, der schwedischen Malerin, Bildhauerin und Schriftstellerin Greta Knutson liiert ist, nimmt die Familie Goldstein zu sich ins Haus „Les Nevons“ in L’Isle-sur-la-Sorgue. Er steht in Kontakt mit den Kommunisten, bespricht sich mit Fay, den Vorsitzenden der selbstbewussten Ortsgruppe. In dieser Anspannung ruft er in einem Gedicht seit seiner Kindheit Vertraute an: Die Sorgue, die aus unterirdischen Karstklüften zutage tretend in Kaskaden ihren Weg bahnt, sowie den Schleusenwärter von L’Isle su-la-Sorgue, und aufrechten Kommunisten Loius Curel, Vater seines Jugendfreundes Francis Curel, der später inhaftiert und ins KZ Mauthausen deportiert wird.

Ende 1939 kappt Char die Verbindung zum Literaturbetrieb; bis zur Befreiung im August 1944 wird er – anders wie seine Kollegen, die weniger konsequent aus sicherer Deckung weiter veröffentlichen – keine Zeile mehr veröffentlichen.

Als im Dezember 1940 ein Kommando der Spezialpolizei von Avignon „Les Nevons“ durchsucht, wird ihm klar, dass die Vichy-Polizei über seine Aktivitäten Bescheid weiß. Er trifft Vorkehrungen, um unterzutauchen, und beginnt darüber hinaus zwischen Avignon, Cavaillon, Aix-en-Provence und Marseille Verbindungen zu knüpfen. Meist ist er mit dem Fahrrad unterwegs und legt an manchen Tagen bis zu 70 Kilometer zurück.

Nichtsdestotrotz schreibt er weiterhin Gedichte, aber seine Hauptaufgabe sieht Char in diesen Jahren darin, Menschen, die in Bedrängnis gerieten, zu helfen und den Widerstand zu organisieren. Georges Louis Roux schreibt in seinen Erinnerungen über die Zeit der Maquis: „Die Regierung Vichy in der nicht besetzten Zone, in der wir wohnten, lastete auf unserem rebellischen Gewissen. So gut wir konnten leisteten wir gegen das von diesem Regime eingerichteten System, das durch Heuchelei, Denunziation, Unterdrückung und Volksverdummung gekennzeichnet war, Widerstand []“ (Zitiert nach Manfred Bauschulte: „René Char. Poet und Partisan Bauschulte, S. 115)

Da L’Isle-sur-la-Sorgue für René Char ein unsicherer Ort geworden ist, wird Céreste für ihn und Georgette der Lebensmittelpunkt. Im Laufe der Jahre hat er die Region so gut kennengelernt wie kein Zweiter, er kennt Schleichwege, abgelegene Höfe und Hochflächen, die für den Abwurf von Ausrüstung, Waffen und Munition geeignet sind. Auf nicht alle in der Bevölkerung ist Verlass: Einerseits gibt es die politisch Desinteressierten und Naiven, andererseits trachtet die Polizei und die SS danach, Personen aufzuspüren, die bestechlich und für verräterische Dienste bereit sind. 

Als am 14. November 1942 auch Südfrankreich von den Deutschen besetzt wird, reagiert der Großteil der Bevölkerung empört. Der Service du travail obligatoire (STO), mit dem die Franzosen für den Arbeitsdienst in Deutschland verpflichtet werden, bringt dem Maquis verstärkten Zulauf. Der bereits genannte Georges Louis Roux dazu: „Der Ekel über die jetzt physische Präsenz der Armeen Hitlers, die Ängste, die Empörung und der Hass, die ihre Razzien und Grausamkeiten auslösten, festigten den Willen und weckten das schlummernde Gewissen vieler Menschen.“ (Bauschulte, S. 116)

René Char wird für die S.A.P. angeworben, die „Section Atterisage-Parachutage“, die die Landung der Alliierten auf französischem Boden vorbereiten soll. Aus dem Maquisard „Hypnos“ wird Capitain Alexandre, so sein vom makedonischen Heerführer Alexander abgeleiteter Deckname. Ein neugeschaffenes Netz verbindet den militärischen Stützpunkt in Algier, London und die Untergrundarmee, deren Aufgabe es, ist, den Widerstand zu organisieren, Landebahnen einzurichten, Waffendepots anzulegen, u.v.m. Der Dichter ist zum Untergrundkämpfer mit großer Verantwortung geworden, gefordert sind Ortskenntnis, militärisch-strategisches Denken, Menschenkenntnis und logistische Weitsicht.


Das literarische Vermächtnis der Jahre im Maquis

René Char war ein Poet, der wie kaum ein anderer französischer Künstler oder Schriftsteller sein Leben riskierte. Er kämpfte weniger einem abstrakten „Vaterland“ zuliebe – ihm war stets die konkrete Region der Vaucluse, die Bewohner der Ländereien an der Sorgue wichtiger – als für die Freiheit und eines seiner Pflichten bewussten Humanismus, wie er zu Beginn seiner Feuillets d’Hypnos festhält:

[…] Ihre Niederschrift erfolgte in der Angespanntheit, im Zorn, unter Ängsten, im Eifer, im Ekel, inmitten von Listen, heimlicher Sammlung, Zukunftsillusionen, Freundschaft, Liebe. Womit gesagt ist, in welchem Maße die Ereignisse mitsprechen. […]

Das hier Aufgezeichnete berichtet vom Widerstand eines seiner Pflichten bewussten, in bezug auf die ihm innewohnenden Kräfte Zurückhaltung übenden Humanismus, eines Humanismus, der das Unbetretbare als Spielraum freihalten möchte für die Phantasie seiner Sonnen und der entschlossen ist, den Preis dafür zu zahlen.“

In meiner Taschenbuchausgabe von HYPNOS ist auf S. 6 eine Postkarte reproduziert: Ein antiker Hypnos-Kopf (griechische Bronze, 4. Jh. v. Chr.), handschriftlich von René Char mit diesen Worten eingerahmt: „Hypnos ergriff den Winter und kleidetet ihn in Granit. Der Winter wurde zu Schlaf, Hypnos zu Feuer. Das Weitere ist Sache der Menschen.“

Mit dieser Metamorphose, die mit dem letzten Satz der Menschen Anteil in die Veränderung, ihre Pflicht zur Tat, ins Spiel bringt, werden die 237 Aufzeichnungen, von Paul Celan ins Deutsche übertragen, eingeleitet. Der Herausgeber bezeichnet das Buch als „ein Stück Menschengeschichte als Widerstandsgeschichte, nicht als Geschichtsbericht, sondern poetisch reflektiert und gestaltet, Humanismus, für den ein Preis zu zahlen ist. Weil er immer von der Gewalt bedroht ist.“

Das Weitere ist Sache der Menschen.“ Dieser schlichte Satz, der als Aufforderung verstanden werden kann, bestimmt das Leben von „Hypnos“ (= Capitaine Alexandre) und das seiner Gefährten, die allesamt unter Decknamen agieren. Léon Saingermain, alias Pierre Zyngerman, bekommt von seinem Vorgesetzten unter anderem Anweisungen für die Sicherung der „Homodépôts“; das sind befestigte Bodenstationen, in denen die Maquisards, die das Landen und Starten der alliierten Flugzeuge organisieren und schützen. Diese „Regeln“ evozieren beim heutigen Leser eine Vorstellung von dem, wie sich ein Leben im Untergrund zu gestalten hatte. Sie sind von einer alles bedenkenden Umsicht, psychologischen Schärfe, knapp wie ein Prosagedicht und präzise. Mit wenigen Abstrichen sind sie auch als Maxime für ein ziviles Leben vorstellbar. Mit „L.S.“ ist, wie eine Fußnote informiert, Léon Saingermain gemeint. Hier die Sentenz in ihrer gesamten Länge (87):

LS: Dank für Homodépôt Durance 12. Tritt heute Nacht in Funktion. Darauf achten, dass die dem Gelände zugeteilten jungen Leute sich nicht allzuoft in den Straßen von Duranceville sehen lassen. Mädchengesellschaft und Cafés gefährlich, wenn länger als eine Minute. Dennoch die Zügel nicht zu straff anziehen. Kein Einander-Bespitzeln in der Gruppe. Keine Verbindungen mit nicht zu unserem Netz Gehörenden. Großsprecherei stoppen. Bei Überprüfung von Nachrichten stets zwei Quellen. Im Auge behalten, dass in den meisten Fällen fünfzig Prozent Schwärmerei. Die Leute darin unterweisen, die Augen offen zu haben, genau zu berichten, die Arithmetik der Situation zu erfassen. Umlaufenden Gerüchte erst sammeln, dann synthetisieren. Treffpunkt und Briefkasten beim >Weizenfreund<. Möglichkeit Aktion Waffen-SS gegen Ausländerlager in Les Mées, mit Übergreifen auf Juden und Résistance. Spanische Republikaner äußerst gefährdet. Müssen unverzüglich gewarnt werden Eigene Teilnahme an Kampfhandlungen möglichst vermeiden. Homodépôt sakrosankt. Bei Alarm sich zerstreuen. Außer um Kameraden zu befreien, Feind niemals Vorhandensein merken lassen. Verdächtige abfangen. Ich vertraue ihrem Urteil. Lager wird niemals gezeigt. Kein Lager vorhanden, nur Kohlenmeiler, die nicht rauchen. Keine ausgehängt Wäsche, wenn Flugzeuge; alle Mann unter Bäumen oder im Gebüsch. Außer dem >Weizenfreund< und dem >Schwimmer< wird niemand in meinem Auftrag zu Ihnen kommen. Härte und Aufmerksamkeit Ihren Leuten gegenüber. Disziplin, in Freundschaft gebettet. Bei der Arbeit immer ein paar Kilo mehr als jeder von ihnen, doch ohne sich darauf etwas einzubilden. Merklich weniger essen und rauchen als die andern. Keinen bevorzugen. Lügen nur dann dulden, wenn improvisiert oder absichtslos. Keine Zurufe aus der Entfernung. Auf saubere Körper und saubere Wäsche achten. Sie sollen lernen, mit leiser Stimme zu singen, keine Melodien zu pfeifen, die einen verfolgen, die Wahrheit so zu sagen, wie sie auf einen zukommt. Nachts am Wegrand entlanggehen. Ihnen die Vorsichtsmaßregeln andeuten, aber ihnen das Verdienst lassen, sie selbst gefunden zu haben. Wetteifern ist ausgezeichnet. Monotonen Gewohnheiten entgegenwirken und solche anregen, die man selber ungern dahinschwinden sähe. Und schließlich: die Menschen lieben, die sie lieben, im selben Augenblick wie sie. Addieren Sie, dividieren Sie nicht. Hier geht alles gut.

Herzlich. HYPNOS.“

Konkrete Handlungsrichtlinien wie diese wechseln mit lyrischen Notizen oder Reflexionen zur Poesie: „Die Fluglinie des Gedichts. Sie müsste einem jeden sinnlich wahrnehmbar sein.“ (98)

Oder Aphoristisches wie diesen Satz: „Es gibt eine Art Menschen, die stets den eigenen Exkrementen voraus sind.“ (28)

Zum Sprunge gehören. Nicht zu dessen Epilog, dem Gelage.“ (197)

In Notizen wie diesen sind kurze Porträts der Freunde mit ihren Charaktereigenschaften eingefügt:

Archiduc eröffnet mir dass er seine innere Wahrheit entdeckte, als er zur Résistance stieß. Vorher war er ein Akteur seines Lebens gewesen, missvergnügt und argwöhnisch. Die Unaufrichtigkeit vergiftete ihn. Eine unfruchtbare Traurigkeit breitete sich über ihn. Jetzt liebt er, gibt er sich aus, ist er beteiligt, geht er nackt, fordert er heraus. Ich schätze ihn sehr, diesen Alchimisten." (30)

Char alias Hypnos berichtet aber auch von ermordeten Kampfgefährten, so von Émile Cavagni; im Epitaph über ihn heißt es: „Ein Mann ohne theoretische Bildung, aber großgeworden unter Schwierigkeiten, von einer Güte, die immer auf beständig stand, unfehlbar in seinen Diagnosen. […] In meiner Liebe zu ihm war nichts Überschwengliches, nichts, das zu schwer wiegen konnte. Sie war unerschütterliches Zu-ihm-Stehen.“ 157)

Nicht weniger zu Herzen geht ihm die Hinrichtung des 23-jährigen Dichters Roger Bernard. Im väterlichen Betrieb hatte er das Druckerhandwerk gelernt, „aber die Poesie – die gesamte Poesie – zog ihn schon sehr früh an. […] Er schließt sich dem Maquis im Tal des Calavon an, eines Gebirgsbaches, an dem kampferprobte, schweigsame Menschen wohnen. Seine junge Frau, Lucienne, teilt sein unsicheres Leben. Zwischen zwei Sabotageakten liest er mir seine Gedichte vor und spricht mit mir über seine Pläne.“ Auf dem Weg zum gemeinsamen Versteck wird er am 22. Juni 1944 von einer deutschen Patrouille gefasst, kann noch den Zettel mit der Botschaft schlucken, wird anschließend gefoltert und erschossen.

Entsetzlicher Tag! Ich habe, aus wenigen hundert Meter Entfernung, der Hinrichtung von B. zugesehen. Ein Druck auf den Abzug meiner Maschinenpistole, und er hätte gerettet werden können! Wir waren auf der Anhöhe oberhalb von Céreste, die Büsche strotzten von Waffen, an Zahl waren wir der SS mindestens ebenbürtig. Die zudem nichts von unserem Vorhandensein ahnte. Den Augen ringsum, die um das Signal, das Feuer zu eröffnen, flehten, antwortete ich mit einem Kopfschütteln … Die Junisonnen fuhr mir eisig in die Knochen. […]

Ich habe das Signal nicht gegeben, weil das Dorf um jeden Preis verschont bleiben musste. Ein Dorf – was ist das? Ein Dorf wie jedes andere auch? Vielleicht hat er das gewusst in diesem letzten Augenblick?“ (138)

Einer der längsten Texte ist eine komprimierte Darstellung einer Umstellung und Durchsuchung von Céreste: „Man warf die Einwohner aus den Häusern, befahl ihnen, sich auf dem Dorfplatz zu versammeln. Schlüssel hatten steckenzubleiben. Ein Alter, der, harthörig, den Befehl nicht schnell ausgeführt hatte, sah nun, wie eine Bombe ihm die vier Wände und das Dach seiner Scheune in die Luft blies. […]“ - Char befand sich in seinem Versteck im Dorf, die SS suchte nach ihm, doch niemand verriet ihn, auch nicht der Maurergeselle, der mit eingesammelten Kaninchenfallen das Dorf betrat, befragt und gefoltert wurde. Doch die Frauen des Dorfes, Kinder und Greise strömten der SS entgegen, sodass diese irritiert das Dorf verließ. „Den Maurer ließ man für tot liegen. Schäumend vor Wut, bahnte sich die Streife einen Weg durch die Menge und lenkte ihre Schritte anderswohin. Mit unendlicher Vorsicht sahen angsterfüllte, gütige Augen jetzt zu mir herüber, huschten die Blicke, dem Strahl einer Lampe gleich, über mein Fenster hin. Ich trat halb hinter dem Vorhang hervor, ein Lächeln löste sich von meiner Blässe ab. Mit tausend Fäden des Vertrauens hing ich an diesen Menschen; kein einziger sollte jemals abreißen.

Unbändig habe ich sie an jenem Tag geliebt, meine Mitmenschen, weit über alle Aufopferung hinaus.“ (128)

Der Inhalt dieses Buches lässt sich nicht nacherzählen. Jede einzelne Notiz ist ein Kern für sich, ist Poesie, Aphorismus, oder Reflexion, oder eine Legierung dieser fluiden Formen.


Die vergiftete europäische Zivilisation

Die Hoffnungen auf eine bessere und gerechtere Welt all derer, die im Widerstand lebten, die ihr Leben riskierten und nach der Rückkehr in die „Normalität“ vergessen wurden, schlimmstenfalls sogar diffamiert wurden, erwies sich als Chimäre. In der Notiz Nr. 220 spricht der Dichter des HYPNOS dies an. Er sah voraus, wie für Jahre durch den Faschismus, durch Kollaboration und Selbstbetrug die europäische Zivilisation vergiftet wurde:

Die Erhitzung und die Chlorose der Jahre, die auf den Krieg folgen werden: meine Befürchtungen gelten beiden in gleichem Maße. Unsere bequeme Einmütigkeit, unser Gerechtigkeitshunger: sie werden sich, ich fühle es voraus, als recht kurzlebig erweisen, wenn das uns im Kampf verknüpfende sich gelöst hat. Auf der einen Seite bereitet man sich darauf vor, das Abstrakte zu fordern; auf der anderen wiederum wird blindlings all das verworfen, was dazu beitragen könnte, das menschliche Dasein in unserer Zeit zu erleichtern und den Menschen mit zuversichtlichem Schritt auf seine Zukunft zuhalten zu lassen. []“ - Politische Aussagen in dieser Deutlichkeit sind bei Char selten zu lesen. Und er setzt fort: „Die Phantome erteilen Rat um Rat, statten Besuch um Besuch ab – Phantome, deren empirische Seelen ein einziger Haufen von Schleim und Neurosen sind. []“

Dachte er an die Situation, als man ihn mit einer Spitfire aus dem Maquis nach Algier ausflog, aufgrund eines Befehls, und er widerwillig seine Leute verlassen musste? Und erleben musste, wie unzulänglich, ja falsch man die Situation, das Leben der Partisanen einschätzte? – Dieses Unverständnis zeigte sich in der Begegnung mit Charles de Gaulle: Char wird mit zwei anderen Maquisards zu einem Treffen mit General de Gaulle in die Villa des Glyzines in Algier befohlen. Die triviale Eröffnung des Gesprächs durch den General mit den Worten: „Monsieur, sind wir gut angekommen?“ macht Char wütend, und als de Gaulle wissen möchte, wie er, Char, die Kräfte des Maquis einschätze, antwortet er aufgrund der Gefahren, denen sie täglich ausgesetzt sind: „Die Kunst besteht darin, sich unsichtbar zu machen.“

Nach dem Gespräch, auf der Straße, rief Char empört zu den Kameraden, die ihn begleitet haben: „Welch ein Idiot!“ – Dies war die erste und einzige Begegnung der beiden, sie finden keine gemeinsame Sprache. Char lehnt nach dem Krieg auch alle Auszeichnungen sowie ein weiteres Treffen mit de Gaulle ab.

Vor seiner Abreise versteckte Char sein Notizheft in einem Mauerloch in Céreste. Nach der Befreiung beginnt er mit der Überarbeitung, mit dem Kürzen und Komprimieren der flüchtig notierten Sätze.

Char schreibt 1948 in einem Brief an Francis Curel, der das KZ Mauthausen überlebt hat: „Wir sind Partisanen, um nach dem Brand die Spuren zu verwischen und das Labyrinth zu vermauern. [] Die Strategen haben damit nichts gemein. Die Strategen sind die Plage der Welt und ihr schlechter Atem. []“

Diese Einschätzung korrespondiert für mich mit der Notiz Nr. 7: „Dieser Krieg wird über alle platonischen Waffenstillstände hinaus fortdauern. Die Implantation der politischen Begriffe wird weitergehen, kontradiktorisch, inmitten von Konvulsionen und unter dem Deckmantel einer ihrer Rechte sicheren Scheinheiligkeit. Man lächle nicht. Sondern tue alle Skepsis und Resignation ab und bereite seine sterbliche Seele darauf vor, es intra muros mit Dämonen aufzunehmen, kalt und Mikroben gleich.“

Freitag, 2. August 2024

„Flügel und Füße ein Sprengen in der Ferne". Zu Renate Silberers Gedichtband „Reste einer Sprengung“

Rezension von Angelika Ganser


„Reste einer Sprengung“ ist der Titel eines Gedichts und er gibt jenem Gedichtband von Renate Silberer, der kürzlich bei dem feingeistigen Lyrikverlag Edition Melos erschienen ist, den Namen.
Der Name ist Programm und in jenem Gedicht wird benannt, um welcherlei Reste es sich handelt – „Reste von Reden“ nämlich und im weiteren Sinn – immer wieder legen die Texte diese Spur – Reste von Sprache. Es geht darum, Sprache zu finden – wiederzufinden oder (auch diese Möglichkeit offenbart ein Verlust) zu erfinden, Vorgefundenes / Erinnertes neu zusammenzusetzen, um damit vielleicht zu einem neuen Blick, zu einem neuen Denken zu finden.
Der Band ist in sieben Abschnitte gegliedert, aus deren Titeln sich, wenn man will, durchaus eine semantische Linie konstruieren ließe, aber es bleibt eine durchbrochene, nicht notwendige Linie, die nicht beabsichtigt, ihre imaginäre Beschaffenheit und damit ihre Künstlichkeit zu verbergen.
Motive und Bilder, die die Gedichte durchziehen und immer wiederkehren, zuweilen scheint ein Gedicht in dem auf es folgendem seine Fortsetzung zu finden und möglicherweise ließen sich auch zwischen weiter auseinanderliegenden Gedichten Verbindungen finden. Möglicherweise ließen sich die einzelnen Gedichte völlig anders zusammensetzen, wodurch zwar anderes akzentuiert wäre, aber dennoch würde der Band wohl als Ganzes funktionieren.
Eine klare Entscheidung, die die Autorin trifft, und diese durch die Auswahl, der jeden Abschnitt vorangestellten Zitate betont, ist die Fokussierung auf eine weibliche Traditionslinie – ausschließlich Autorinnen werden als Quellen herangezogen – Hélène Cixous, Elke Erb, Luce Irigaray, Margret Kreidl, Anja Utler und Rosmarie Waldrop. Dieser Fokus legt nahe, zu präzisieren – es geht um weibliche Sprachfindung. Wie könnte eine Sprache beschaffen sein, die sich bewusst von der noch immer stärker verankerten Traditionslinie des männlichen Sprachgebrauchs absetzt?
Renate Silberer findet diese andere Sprache in den Brüchen, dort wo es ungewiss ist, ob es gelingen wird, Zuflucht in Sprache zu finden – es ist eine Sprache, auf der das Schweigen lastet und die in enger Nahbeziehung zur Sprachlosigkeit steht, der es aber gelingt, daraus ihre Kreativität und damit Sprache zu schöpfen. Nicht zuletzt vielleicht auch, da der ursprüngliche Mangel eine Umbewertung erfährt, nicht als reines Negativum, sondern als sine qua non erfahren wird: „hinter jedem Wort ist noch ein Wort sagt die Bärin / hinter jedem Fehlen noch ein Fehlen sagt das Reh“2 – erst das Fehlende macht den Text vollständig und gibt dem Gedicht, das in diesem Fall aus nur zwei Zeilen besteht, seine Form.
Diese andere Sprache könnte, wie Renate Silberer mit diesem Gedichtband es vorschlägt, im Vieldeutigen liegen und dort, wo Perspektiven sich in fluider Weise verschieben, nicht eindeutig zuordenbar sind, ähnlich der Logik von Träumen vielleicht, in denen das träumende Ich sich in mehreren Gestalten (nicht notwendig menschlicher Natur) gleichzeitig wiedererkennt. Es ließe sich wohl noch vieles herauslesen, aus diesem feingewebten Gespinst dieses Textes (textus lateinisch bedeutete zunächst Gewebe, Geflecht und erst im übertragenen Sinn Gefüge, Zusammenhang der Rede, Text), ich möchte hier aber eine Grenze setzen und nun endlich dem Text selbst, mehr Raum geben, ihn für sich sprechen lassen und es dem Leser, der Leserin überlassen, den Text und in weiterer Folge vielleicht den Gedichtband für sich zu entdecken und eigene, möglicherweise andere und weitere Lesefährten darin zu verfolgen.


Reste einer Sprengung


ein Fisch schwimmt aus dir heraus während du
der See bist wartet hinter dem Schilfgürtel
das große Insekt raubvogelhaft kriegerisch
verlässt du die Deckung Gestrüpp sieht dich an
der Mund eine Falltür mit Resten von Reden
die Wespe in deiner Blutbahn verscharrt sich
während die Kriegerin auf dich zukommt
liegst du reglos das Fischmaul ist eine große Grube
sie öffnet und schließt sich mit zittrigem Atem
hältst du ihr stand machst die Stirnlampe an




1 Der Titel ist ein Zitat aus Renate Silberers "Reste einer Sprengung". Gedichte, Edition Melos, 2024
2 s.o.


Donnerstag, 25. Juli 2024

Stolz (1992) - ein neues altes Lied


 https://youtu.be/_bue2Q1TTzQ

Ich weiß selbst, dass ich kein besonders guter Sänger bin, und mein Gitarrespiel ist einfach furchtbar.

Dennoch habe ich mich – spät, aber doch - dazu entschlossen, dieses Lied aus dem Jahr 1992 auf Youtube zu posten, und zwar deshalb, weil seine Melodie sogar heute noch erfrischend originell klingt.

Vor allem aber hoffe ich, dass durch einen glücklichen Zufall ein wirklich guter Sänger darauf aufmerksam wird und sich dazu entschließt, es selbst zu interpretieren.

Eine professionelle Version meines Liedes könnte meiner Einschätzung nach nämlich durchaus Erfolg haben, vor allem wegen seiner einprägsamen Melodie.

Ich halte mich selbst für einen ziemlich guten Schriftsteller, der außerdem auch noch einige ziemlich gute Lieder geschrieben hat.

Ein guter Interpret bin ich hingegen nicht einmal in meinen jungen Jahren gewesen. Und mit zunehmendem Alter wird sich daran mit Sicherheit nichts mehr ändern.



 Getreu meinem Motto ‚Nutze den Tag‘ habe ich heute bei Kindle ein E-Book herausgebracht.

Mein Märchen ‚Eisblumen‘ erzählt auf 32 Seiten die Geschichte eines jungen Mannes, der davon träumt, ein großer Held zu werden. Um dieses Ziel zu erreichen, opfert er schließlich den einzigen Menschen, der ihn jemals geliebt hat.

‚Eisblumen‘ ist eine der traurigsten Geschichten, die ich in meinem ganzen Leben geschrieben habe. Bis zum heutigen Tag ist es mir noch nie gelungen, jemandem dieses Märchen bis zu seinem Ende vorzulesen, weil ich bei der Schlussszene jedes Mal in Tränen ausbreche und meine Stimme verliere.

Bin ich vielleicht gar zu sentimental?

Lies bitte mein Märchen und urteile selbst.

https://www.amazon.de/Eisblumen-Ein-M%C3%A4rchen-Dietmar-F%C3%BCssel-ebook/dp/B08CZV26C3/ref=sr_1_1?__mk_de_DE=%C3%85M%C3%85%C5%BD%C3%95%C3%91&crid=2ROD7KZNDC28U&dib=eyJ2IjoiMSJ9.Y_bz51Dtx6Q0jW14JoCvOY53y_1Z47_E6d6d0ROvlISdG9Ic_b34XaWOfx70D8WvYFiLyzDCibbp7IvHJRO69SQYETJmUo_2SuNGpCc8aSvPJ83Vs6ST1CDeWqhvCTG7A7ht_K_S_NQuT8HkL5uC4XIkzg7TsRNZQPgM0I9Aj6n2YXF3xB0efsOAN6a-JELErqc1k4ehfr0CGzHDW7eVm8b-oVEYft6MkM9u_qIq_aY.h6AL8SM3Z26z5o6HD3nAPMpsHGk38nReYXvO_F84lSE&dib_tag=se&keywords=eisblumen+f%C3%BCssel+dietmar&qid=1721907751&sprefix=eisblumen+f%C3%BCssel+dietma%2Caps%2C723&sr=8-1 

Freitag, 21. Juni 2024

Strand - stranden - Strandgut

Begleitet von Sax und Piano bauten Autorinnen der GAV OÖ eine literarische Sandburg zu der offenen Themenvorgabe Strand-stranden-Strandgut im sympathischsten aller Kulturvereine, die es an der Donau gibt, dem Strandgut. Neun Autorinnen lasen zum Thema. Beginnend mit Kurt Mitterndorfers Texten, der von seinen Erfahrungen in der ehrenamtlichen Flüchtlingsbetreuung liest, geht es zum Beispiel darum, was Menschen auf der Flucht von Syrien nach Österreich erleben oder Menschen, die stranden, die auf Lesbos in der Warteschleife hängen und auf ein besseres Schicksal warten. 

Bei Christine Mack trafen sich zwei alte Schulfreunde wieder, die beide neben ihren Träumen gelandet sind, der eine fast erblindet, der andere besitzend und sozial isoliert. Als sie Buben waren, haben sie gemeinsam von Schiffbrüchen geträumt, die sie an auf eine Insel an Land spülten und wo sie ihr Leben gestalten konnten, wie sie es wollten. Doch die Wirklichkeit sieht anders aus, wie wir alle wissen. Simon, der eine Freund, sagt zum Schluss noch, manches bleibt unverändert, anderes löst sich in Luft auf, aber das kennt man vom Leben und man macht halt das Beste daraus, was nicht zu ändern ist, sagt Rudi, der andere Freund. 

Ab Helmut Rizy gings wirklich an den Strand, und zwar auf seinem Schreibtisch: jemand hatte ihm ein verdorrtes Blatt dorthin gelegt und so hat die Geschichte, die er las, begonnen. Das Blatt war nämlich der Aufkleber eines Glasfläschchens mit Sand darin und darauf stand SANTA MARIA DEL MAR zu lesen; nicht die Kirche in Barcelona war gemeint, sondern der Sandstrand in Andalusien mit dem gelben Sand. Und genau ab da beginnt die Sandstrandkunde von Helmut Rizy: Betrachtungen der Farben und Formen, der Körnung und dass das Wort Sandfarben eigentlich nichtssagend ist und dass es nur einen einzigen Sandstrandsand gibt, der jederzeit identifizierbar ist, nämlich der schwarze von Santorin. Darüber hinaus erinnert er, dass es nicht nur Strandgut gibt, sondern auch Wüstengut mit Sand in allen möglichen Farben und dass der Wüstensand nicht verbetonierbar ist, sondern dass zum Beispiel Sand auch eine Geschäftemacherei ist: So hat Dubai für den 800 Meter hohen Burj Tower 300.000 Kubikmeter Sand aus Australien einschiffen lassen. 

Angelika Ganser las zwei Texte. Beim Ersten, notierte sie, gehe es um den Text selber, eine Auseinandersetzung zwischen dem Flüssigen und dem Felsenfesten; der Titel = Strandgut. Wie eine Art verdichtetes Wortspiel, als ob felsenfeste Betrachtungen von aufschäumenden Bewegungen sanft ins formlose oder farblose Nirgendwo geschoben werden wollten. Text Nummer zwei hat den Titel vom Strand aus und ist auch für sie selbst ein eher ungewöhnlicher Text geworden, weil es hier gerade nicht um den Text geht.  

Sven Daubenmerkl las aus seinem Buch Träume süß: Geschichten zum Verlieben, das er als wohfeilen Gewinn jener bietet, die errät, um welchen Strand es sich handelt. Strandgut Gewinnspiel gab es also auch (Christine Mack hat es erraten und das Buch gewonnen*). Er beschreibt humorvoll ein von der Küstenstraße aus uneinsehbares, unerschlossenes Paradies, eine weitläufige Bucht und das, was sich da tut und was er da tut. Natürlich ist die Bucht ein Geheimtipp unter Einheimischen und ein paar eingeweihten Touristen. Sie liegt irgendwo am südwestlichen Ortsende der alten Welt, wo es leicht gelingt, dem Regenland zu entkommen, um die Sehnsucht nach keinem Wölkchen am Himmel zu stillen. Natürlich ist überall Sand, an allen möglichen und unmöglichen Stellen und wir im Publikum spürten sahen hörten alles: das schäumende Meer das Zischen die Welle, auf der er surfte.  

Klaus Wieser, der um diese Zeit ursprünglich eigentlich in Griechenland am Strand liegen wollte, hat sich entschlossen, aus allen Gedichten, die er liest, einfach die Überschriften zu streichen, sodass es gar keine Pausen mehr gibt und alles zu einem einzigen Gedicht, das aus 14 Gedichten, die im Zeitraum von 13 Jahren entstanden sind, wird und die ganze Welt - von Kroatien bis Vietnam und Sri Lanka – einfach durcheinander mischt und als Wortstrom auf das Publikum niederprasseln hat lassen, aber in Wirklichkeit surften wir, also das Publikum mit ihm gemeinsam entlang dieser Langgedichtswelle. 

Marlene Gölz steuerte ein Hochwasser bei, also passend zum realen Zustand der Donau, die schon bedenklich hoch war an diesem Tag.  

Robert Stähr liest vier sogenannte Takes aus einem in Arbeit befindlichen Prosatext mit dem Titel Tagebuch. 

Den Schlusspunkt machte dann Herbert Christian Stöger der sich einen Text zuschicken hat lassen -vermutlich- von einem Startup Projekt und der aus lauter Aus- und Ansichten der unerfüllten Träume besteht, ein literarischer Reisebonus bei dem alles mitgebucht wird: das Wetter, die zukünftigen Probleme und alle möglichen Turbulenzen, ja sogar die Stornos. Das Finale dieses Abends ist die verspätete Antwort auf eine Postkarte von Tante Ruth und Onkel Sigfried an den Urlaubsort von Neffen Ralfi in Amrun adressiert, er hat dort im Sommer 1976 seine Ferien verbracht. 

+++ Sie lasen eine Zusammenfassung der Lesungen zum Thema Strand - stranden - Strandgut von und mit Autorinnen und Autoren der GAV OÖ vom 4. Juni 2024, im Kulturverein Strandgut+++ Autorinnen und Autoren: Angelika Ganser, Marlene Gölz, Christine Mack, Kurt Mitterndorfer, Helmut Rizy, Robert Stähr, Herbert Christian Stöger, Klaus Wieser +++Musik: Franz Prandstätter (Sax) und Michael Pfeil (Piano) +++Moderation und Organisation: Judith Gruber-Rizy +++ Die gesamte Lesung steht zum Nachhören auf der HÖRBOX der GAV OÖ bereit +++ *Lösung Sven Daubenmerkls Strandgut Gewinnspiel: die Algarve +++ Fotogalerie von diesem Abend:

+++Text Fotos Soundaufnahme Handheld für Hörbox: Wally Re 06/2024+++

AUF DER SUCHE - über Bodo Hell

Von Herbert Christian Stöger   Vor einer Hütte. Auf der selben Stelle stehen wie Bodo Hell. Im Boden sind zwei Stück Holz eingegraben. Wie...