Von Richard Wall
Zur
Aktualität von René Char
Der
aufkeimende, ja bereits kräftig wuchernde Faschismus in Europa lässt
mich den Kopf schütteln über den Hang zur Selbstbeschädigung eines
großen Teiles der Bevölkerung, die dieser Ideologie in freien
Wahlen (!) zum Aufstieg verhilft. Es ist, als ob diese Leute noch nie
von der Tatsche gehört hätten, dass Faschismus nicht nur geistige
Knebelung, Uniformierung und letztlich Krieg bedeutet. Ich will hier
aber nicht all die historischen und politischen Verwerfungen, die vor
bald hundert Jahren zum Spanischen Bürgerkrieg und zum 2. Weltkrieg
und anderen Gewaltexzessen geführt haben, wiederkäuen, sondern an
einen provenzalischen Dichter und Partisanen erinnern, der zuerst in
der mit den Nazis kollaborierenden Vichy-Regierung gegen diese auf
Konfrontation ging und später, als auch Südfrankreich von den Nazis
besetzt wurde, sich mit einer Gruppe Maquisards klug und tatkräftig
für die terrorisierte Bevölkerung einsetzte und die Invasion der
Alliierten von Algerien aus vorbereiten half. Was die Zeit danach
betrifft, wusste er: „Die Implantation“ des Dämonischen kann
nicht ungeschehen gemacht werden. Was einmal in die Welt gesetzt
wurde, bleibt.
Ich
spreche hier von René Char, der sowohl im Sprachgebrauch als auch im
politischen und kulturpolitischen Handeln radikale Positionen bezogen
hat. Auf meine Art aktualisiert habe ich meinen Zugang zu René Char,
dessen teils hermetische Dichtung mich seit Jahrzehnten begleitet,
durch Besuch seiner provenzalischen Geburtsstadt L’Isle-sur-la-Sorgue
und durch Wanderungen und Radtouren in der Vaucluse, die seine
Dichtung geprägt hat.
Von
einem Lageplan der genannten Stadt, der auch das Umfeld außerhalb
der Altstadt mit einschloss, wusste ich, dass der Friedhof südlich
der Eisenbahnlinie von Avignon nach Marseille liegen musste. Ich
spazierte, von meiner Unterkunft kommend, durch die Rue
de la
République
und überquerte zwei Kanäle der Sorgue, zu deren Quelle unter einer
230 Meter hohen Felswand ich am Tag zuvor aufgestiegen war. Nachdem
ich einige Antiquitäten- und Ramschläden passiert hatte, bog ich in
die vor mir liegende Straße ein, die gen Süden führte. Auch heute
wieder: Statt die Satelliten zu befragen, hielt ich mich an die
Auskunft von Passanten. So kam ich mit Menschen ins Gespräch, und so
setze ich mein Französisch einer Prüfung aus. Auch als ich
versuchte, mir den Weg zum Friedhof, durch einen versteckten
Durchschlupf unter der Bahnlinie, erklären zu lassen.
Beim
Eingang zum Friedhof, der mir annähernd so groß schien wie das
Zentrum der Stadt, hing ein Lageplan, der keinen Hinweis lieferte zur
Position des Grabes von René Char. Weit und breit keine Person, die
ich – spät nachmittags – um Auskunft hätte bitte können. Da
ich wusste, dass das gesuchte Grab ein altes Familiengrab darstellte,
beschloss ich, den alten Teil des Friedhofs systematisch, Weg um Weg,
abzusuchen. Des Weiteren müsse mir das Aussehen der Grabanlage beim
Auffinden dieser behilflich sein. Die meisten Gräber haben nur einen
aufrecht stehenden Grabstein, jenes von René Char besteht aus der
Geometrie eines stehenden und eines liegenden Blocks.
Schon
nach kurzem Suchen, von einer unerklärlichen Sonde geleitet, konnte
ich sein Grab lokalisieren. Der mächtige Monolith, etwa achtzig mal
achtzig Zentimeter im Grundriss, kragt im oberen Teil aus und
schließt mit einem Satteldach ab. Die Vorderseite, ein hohes
Rechteck, trägt, von einer rahmenähnlichen Einfassung umgeben, die
Inschrift FAMILLES / ARNAUD / ET SON GENDRE / CHAR – MAGNE.
Davor
der liegende, von Flechten überwachsene Block. Zu meinen Füßen nun
der berühmte Grabspruch, in dem sich ein Hinweis auf Heraklit
verbirgt. Die Reliefschrift ist kaum lesbar, zusätzlich ist sie von
einem zum Grab sich hinneigenden, rotblühenden Rosenstrauch
überdeckt und beschattet:
SI
NOUS HABITONS UN ÉCLAIR, IL EST LE CŒUR
DE L’ETERNEL
Dazu
gibt es drei Übersetzungen. Eine davon, die mir besonders zusagt,
jene von Johannes Hübner aus dem Jahr 1959, lautet: „Bewohnen wir
einen Blitz, so ist er das Herz der Ewigkeit.“
Am
oberen Ende der Bodenplatte eine leicht zum Betrachter geneigte
Platte: RENÉ CHAR / 1907 – 1988. – Grau ist das Grab des
Dichters, dachte ich mir, wie der Karst der Vaucluse, über dem sich
eben die Wolken türmten; ein Gewitter schien sich aufzubauen. Ein
reinigender Blitz wäre der Inschrift durchaus zu wünschen.
Es
mag vor etwa 20 Jahren gewesen sein, als ich auf den hierzulande kaum
bekannten Namen René Char aufmerksam geworden war, und ich mir eines
seiner Bücher kaufte: HYPNOS / FEUILLETS D’HYPNOS / AUFZEICHNUNGEN
AUS DEM MAQUIS 1943 - 1944.
Schon
der Titel enthält die Bedingungen der Niederschrift und die
Entstehungszeit. Mit „Maquis“ ist der nahezu undurchdringliche
Buschwald in den Mittelmeerländern gemeint. Dieser war immer wieder
Rückzugsgebiet für Untergrundbewegungen, so auch während der
deutschen Besatzungszeit in Südfrankreich. Als Maquisards wurden
folgerichtig Personen bezeichnet, die sich der Résistance
anschlossen.
Biographisches
René
Char wächst, wie er selber berichtet, im großen Anwesen seiner
Eltern auf, „Les Névons“, benannt nach einem Bach. Sein Vater
ist Geschäftsführer einer Gipsfabrik und Bürgermeister der Stadt.
Mit Vorliebe durchstreift der junge René mit seinem Freund Francis
Curel, Sohn des Kanal- und Schleusenwärters, die umliegende
Landschaft, die Ausläufer des Maquis, die Ufer und das Quellgebiet
der Sorgue. Genaue Kenntnisse der Flora und Fauna der Region fließen
später immer wieder in seine Gedichte ein.
Bei
Lagnes lernen sie einen Baumpfleger kennen, der ihnen begeistert von
seiner Teilnahme an der Pariser Commune erzählt, und nicht weniger
spannend versteht er es, den Knaben die Sternbilder am nächtlichen
Himmel in Verbindung mit der antiken Götterwelt nahezubringen. Für
René Char ein Kosmos aus Mythologie und naturwissenschaftlicher
Anschauung, von der er nicht mehr loskommen wird.
Nach
erfolglosen Versuchen in einer Kaufmannslehre und einem Studium in
Aix-en-Provence, das er abbricht, folgt er seiner Berufung als
Dichter. Im Jahr 1929 veröffentlicht er sein erstes Buch, Arsena,
mit dem er nach Paris reist. Es kommt zu einer Begegnung mit Paul
Éluard und André Breton, die ihn einladen, an der surrealistischen
Bewegung teilzunehmen. In der Folge entsteht die Gemeinschaftsarbeit
Ralentir
Travaux,
die 1930 in Buchform erscheint. In diesen Jahren, zwischen 1930 und
1934, lebt er vorwiegend in Paris, nur die Sommermonaten verbringt er
in der Vaucluse oder an die Cote d’Azur. Nach dem Selbstmord von
René Crevel zieht er sich aus dem Kreis der Surrealisten zurück,
vor allem geht er zu den Positionskämpfen innerhalb der Gruppe auf
Distanz, seine Freundschaft zu Paul Éluard, Tristan Tzara und
anderen bleibt noch einige Jahre bestehen.
Nun
wird wieder seine Geburtsstadt relevant. Am 6. Februar 1934 stürmen
Nationalisten und rechte Schläger das Palais Bourbon, blutige
Straßenschlachten sind die Folge. René Char reist aus der Provence
nun doch wieder nach Paris, um an den Demonstrationen gegen die
faschistischen Tendenzen in Frankreich teilzunehmen. Von Kindheit an
rebellisch, trägt er seine Empörung nicht nur auf der Zunge sondern
nach außen, hinein in die Gesellschaft. Als im Herbst 1935 in
Avignon ein Mann aus L’Isle-sur-la-Sorgue zu Unrecht des Diebstahls
bezichtigt und zu einer überzogenen Gefängnisstrafe verurteilt
wird, lässt er eine Protestnote drucken: „Bürger von L’Isle
seid gewiss! / Die Bösewichter werden einer nach dem andern entlarvt
und die Wahrheit wird Eurem aufrichtigem Urteil unterzogen.“ Mit
Hilfe seines um sechs Jahre älteren Freundes Francis Curel
plakatiert er sein Statement an Häuserwände und an Bäumen entlang
der Straße zwischen Avignon und Fontaine-de-Vaucluse.
In
das Dorf Céreste im Departement Alpes-de-Haute-Provence an der
Nationalstraße zwischen Avignon und Forcalquier, etwa 70 Kilometer
östlich von L’Isle sur la-Sorgue, kommt René Char weil ihn dort
ein Arzt namens Georges Louis Roux behandelt. Nach Monaten
wiederkehrender Krankheiten und einer lebensbedrohenden
Blutvergiftung kommt er wieder zu Kräften und schließt Freundschaft
mit seinem Lebensretter. In seiner Art, sich die Umgebung durch
Spaziergänge zu erschließen, wird ihm diese Region so vertraut,
dass nur wenige Jahre später Céreste sein Stützpunkt wird.
Beim
Einmarsch der deutschen Wehrmacht im Frühling 1940 ist Char im
Elsass stationiert. Bei einem Munitionstransport im Mai oder Juni
1940 wird die Einheit von Stukas angegriffen; er hat Glück und kommt
mit dem Leben davon. Char wird gefangengenommen, kann aber, da die
Deutschen mit der Masse an Kriegsgefangenen organisatorisch nicht
zurechtkommen, fliehen, und kehrt in die Provence zurück. Hier
kümmert er sich vorerst um seine Frau Georgette, eine gebürtige
Goldstein, seit 1932 mit ihr verheiratet.
Sie
hatte sich mit ihrer Familie ins südwestfranzösische Department Lot
abgesetzt. René Char, der mittlerweile mit der Frau von Tristan
Tzara, der schwedischen Malerin, Bildhauerin und Schriftstellerin
Greta Knutson liiert ist, nimmt die Familie Goldstein zu sich ins
Haus „Les Nevons“ in L’Isle-sur-la-Sorgue. Er steht in Kontakt
mit den Kommunisten, bespricht sich mit Fay, den Vorsitzenden der
selbstbewussten Ortsgruppe. In dieser Anspannung ruft er in einem
Gedicht seit seiner Kindheit Vertraute an: Die Sorgue, die aus
unterirdischen Karstklüften zutage tretend in Kaskaden ihren Weg
bahnt, sowie den Schleusenwärter von L’Isle su-la-Sorgue, und
aufrechten Kommunisten Loius Curel, Vater seines Jugendfreundes
Francis Curel, der später inhaftiert und ins KZ Mauthausen
deportiert wird.
Ende
1939 kappt Char die Verbindung zum Literaturbetrieb; bis zur
Befreiung im August 1944 wird er – anders wie seine Kollegen, die
weniger konsequent aus sicherer Deckung weiter veröffentlichen –
keine Zeile mehr veröffentlichen.
Als
im Dezember 1940 ein Kommando der Spezialpolizei von Avignon „Les
Nevons“ durchsucht, wird ihm klar, dass die Vichy-Polizei über
seine Aktivitäten Bescheid weiß. Er trifft Vorkehrungen, um
unterzutauchen, und beginnt darüber hinaus zwischen Avignon,
Cavaillon, Aix-en-Provence und Marseille Verbindungen zu knüpfen.
Meist ist er mit dem Fahrrad unterwegs und legt an manchen Tagen bis
zu 70 Kilometer zurück.
Nichtsdestotrotz
schreibt er weiterhin Gedichte, aber seine Hauptaufgabe sieht Char in
diesen Jahren darin, Menschen, die in Bedrängnis gerieten, zu helfen
und den Widerstand zu organisieren. Georges Louis Roux schreibt in
seinen Erinnerungen über die Zeit der Maquis: „Die Regierung Vichy
in der nicht besetzten Zone, in der wir wohnten, lastete auf unserem
rebellischen Gewissen. So gut wir konnten leisteten wir gegen das von
diesem Regime eingerichteten System, das durch Heuchelei,
Denunziation, Unterdrückung und Volksverdummung gekennzeichnet war,
Widerstand […]“
(Zitiert nach Manfred Bauschulte: „René Char. Poet und Partisan
Bauschulte, S. 115)
Da
L’Isle-sur-la-Sorgue für René Char ein unsicherer Ort geworden
ist, wird Céreste für ihn und Georgette der Lebensmittelpunkt. Im
Laufe der Jahre hat er die Region so gut kennengelernt wie kein
Zweiter, er kennt Schleichwege, abgelegene Höfe und Hochflächen,
die für den Abwurf von Ausrüstung, Waffen und Munition geeignet
sind. Auf nicht alle in der Bevölkerung ist Verlass: Einerseits gibt
es die politisch Desinteressierten und Naiven, andererseits trachtet
die Polizei und die SS danach, Personen aufzuspüren, die bestechlich
und für verräterische Dienste bereit sind.
Als
am 14. November 1942 auch Südfrankreich von den Deutschen besetzt
wird, reagiert der Großteil der Bevölkerung empört. Der Service
du travail obligatoire
(STO),
mit dem die Franzosen für den Arbeitsdienst in Deutschland
verpflichtet werden, bringt dem Maquis verstärkten Zulauf. Der
bereits genannte Georges Louis Roux dazu: „Der Ekel über die jetzt
physische Präsenz der Armeen Hitlers, die Ängste, die Empörung und
der Hass, die ihre Razzien und Grausamkeiten auslösten, festigten
den Willen und weckten das schlummernde Gewissen vieler Menschen.“
(Bauschulte, S. 116)
René
Char wird für die S.A.P. angeworben, die „Section
Atterisage-Parachutage“, die die Landung der Alliierten auf
französischem Boden vorbereiten soll. Aus dem Maquisard „Hypnos“
wird Capitain Alexandre, so sein vom makedonischen Heerführer
Alexander abgeleiteter Deckname. Ein neugeschaffenes Netz verbindet
den militärischen Stützpunkt in Algier, London und die
Untergrundarmee, deren Aufgabe es, ist, den Widerstand zu
organisieren, Landebahnen einzurichten, Waffendepots anzulegen,
u.v.m. Der Dichter ist zum Untergrundkämpfer mit großer
Verantwortung geworden, gefordert sind Ortskenntnis,
militärisch-strategisches Denken, Menschenkenntnis und logistische
Weitsicht.
Das
literarische Vermächtnis der Jahre im Maquis
René
Char war ein Poet, der wie kaum ein anderer französischer Künstler
oder Schriftsteller sein Leben riskierte. Er kämpfte weniger einem
abstrakten „Vaterland“ zuliebe – ihm war stets die konkrete
Region der Vaucluse, die Bewohner der Ländereien an der Sorgue
wichtiger – als für die Freiheit und eines seiner Pflichten
bewussten Humanismus, wie er zu Beginn seiner Feuillets d’Hypnos
festhält:
„[…]
Ihre Niederschrift erfolgte in der Angespanntheit, im Zorn, unter
Ängsten, im Eifer, im Ekel, inmitten von Listen, heimlicher
Sammlung, Zukunftsillusionen, Freundschaft, Liebe. Womit gesagt ist,
in welchem Maße die Ereignisse mitsprechen. […]
Das
hier Aufgezeichnete berichtet vom Widerstand eines seiner Pflichten
bewussten, in bezug auf die ihm innewohnenden Kräfte Zurückhaltung
übenden Humanismus, eines Humanismus, der das Unbetretbare
als Spielraum freihalten möchte für die Phantasie seiner Sonnen und
der entschlossen ist, den Preis
dafür zu zahlen.“
In
meiner Taschenbuchausgabe von HYPNOS ist auf S. 6 eine Postkarte
reproduziert: Ein antiker Hypnos-Kopf (griechische Bronze, 4. Jh. v.
Chr.), handschriftlich von René Char mit diesen Worten eingerahmt:
„Hypnos ergriff den Winter und kleidetet ihn in Granit. Der Winter
wurde zu Schlaf, Hypnos zu Feuer. Das Weitere ist Sache der
Menschen.“
Mit
dieser Metamorphose, die mit dem letzten Satz der Menschen Anteil in
die Veränderung, ihre Pflicht zur Tat, ins Spiel bringt, werden die
237 Aufzeichnungen, von Paul Celan ins Deutsche übertragen,
eingeleitet. Der Herausgeber bezeichnet das Buch als „ein Stück
Menschengeschichte als Widerstandsgeschichte, nicht als
Geschichtsbericht, sondern poetisch reflektiert und gestaltet,
Humanismus, für den ein Preis zu zahlen ist. Weil er immer von der
Gewalt bedroht ist.“
„Das
Weitere ist Sache der Menschen.“ Dieser schlichte Satz, der als
Aufforderung verstanden werden kann, bestimmt das Leben von „Hypnos“
(= Capitaine Alexandre) und das seiner Gefährten, die allesamt unter
Decknamen agieren. Léon Saingermain, alias Pierre Zyngerman, bekommt
von seinem Vorgesetzten unter anderem Anweisungen für die Sicherung
der „Homodépôts“; das sind befestigte Bodenstationen, in denen
die Maquisards, die das Landen und Starten der alliierten Flugzeuge
organisieren und schützen. Diese „Regeln“ evozieren beim
heutigen Leser eine Vorstellung von dem, wie sich ein Leben im
Untergrund zu gestalten hatte. Sie sind von einer alles bedenkenden
Umsicht, psychologischen Schärfe, knapp wie ein Prosagedicht und
präzise. Mit wenigen Abstrichen sind sie auch als Maxime für ein
ziviles Leben vorstellbar. Mit „L.S.“ ist, wie eine Fußnote
informiert, Léon Saingermain gemeint. Hier die Sentenz in ihrer
gesamten Länge (87):
„LS:
Dank für Homodépôt
Durance 12.
Tritt heute Nacht in Funktion. Darauf achten, dass die dem Gelände
zugeteilten jungen Leute sich nicht allzuoft in den Straßen von
Duranceville sehen lassen. Mädchengesellschaft und Cafés
gefährlich, wenn länger als eine Minute. Dennoch die Zügel nicht
zu straff anziehen. Kein Einander-Bespitzeln in der Gruppe. Keine
Verbindungen mit nicht zu unserem Netz Gehörenden. Großsprecherei
stoppen. Bei Überprüfung von Nachrichten stets zwei Quellen. Im
Auge behalten, dass in den meisten Fällen fünfzig Prozent
Schwärmerei. Die Leute darin unterweisen, die Augen offen zu haben,
genau zu berichten, die Arithmetik der Situation zu erfassen.
Umlaufenden Gerüchte erst sammeln, dann synthetisieren. Treffpunkt
und Briefkasten beim >Weizenfreund<. Möglichkeit Aktion
Waffen-SS gegen Ausländerlager in Les Mées, mit Übergreifen auf
Juden und Résistance. Spanische Republikaner äußerst gefährdet.
Müssen unverzüglich gewarnt werden Eigene Teilnahme an
Kampfhandlungen möglichst vermeiden. Homodépôt
sakrosankt.
Bei Alarm sich zerstreuen. Außer um Kameraden zu befreien, Feind
niemals Vorhandensein merken lassen. Verdächtige abfangen. Ich
vertraue ihrem Urteil. Lager wird niemals gezeigt. Kein Lager
vorhanden, nur Kohlenmeiler, die nicht rauchen. Keine ausgehängt
Wäsche, wenn Flugzeuge; alle Mann unter Bäumen oder im Gebüsch.
Außer dem >Weizenfreund< und dem >Schwimmer< wird
niemand in meinem Auftrag zu Ihnen kommen. Härte und Aufmerksamkeit
Ihren Leuten gegenüber. Disziplin, in Freundschaft gebettet. Bei der
Arbeit immer ein paar Kilo mehr als jeder von ihnen, doch ohne sich
darauf etwas einzubilden. Merklich weniger essen und rauchen als die
andern. Keinen bevorzugen. Lügen nur dann dulden, wenn improvisiert
oder absichtslos. Keine Zurufe aus der Entfernung. Auf saubere Körper
und saubere Wäsche achten. Sie sollen lernen, mit leiser Stimme zu
singen, keine Melodien zu pfeifen, die einen verfolgen, die Wahrheit
so zu sagen, wie sie auf einen zukommt. Nachts am Wegrand
entlanggehen. Ihnen die Vorsichtsmaßregeln andeuten, aber ihnen das
Verdienst lassen, sie selbst gefunden zu haben. Wetteifern ist
ausgezeichnet. Monotonen Gewohnheiten entgegenwirken und solche
anregen, die man selber ungern dahinschwinden sähe. Und schließlich:
die Menschen lieben, die sie lieben, im selben Augenblick wie sie.
Addieren Sie, dividieren Sie nicht. Hier geht alles gut.
Herzlich.
HYPNOS.“
Konkrete
Handlungsrichtlinien wie diese wechseln mit lyrischen Notizen oder
Reflexionen zur Poesie: „Die Fluglinie des Gedichts. Sie müsste
einem jeden sinnlich
wahrnehmbar
sein.“ (98)
Oder
Aphoristisches wie diesen Satz: „Es gibt eine Art Menschen, die
stets den eigenen Exkrementen voraus sind.“ (28)
„Zum
Sprunge gehören. Nicht zu dessen Epilog, dem Gelage.“ (197)
In
Notizen wie diesen sind kurze Porträts der Freunde mit ihren
Charaktereigenschaften eingefügt:
„Archiduc
eröffnet mir dass er seine innere Wahrheit entdeckte, als er zur
Résistance stieß. Vorher war er ein Akteur seines Lebens gewesen,
missvergnügt und argwöhnisch. Die Unaufrichtigkeit vergiftete ihn.
Eine unfruchtbare Traurigkeit breitete sich über ihn. Jetzt liebt
er, gibt
er sich aus, ist er beteiligt, geht er nackt, fordert er heraus. Ich
schätze ihn sehr, diesen Alchimisten." (30)
Char
alias Hypnos berichtet aber auch von ermordeten Kampfgefährten, so
von Émile Cavagni; im Epitaph über ihn heißt es: „Ein Mann ohne
theoretische Bildung, aber großgeworden unter Schwierigkeiten, von
einer Güte, die immer auf beständig stand, unfehlbar in seinen
Diagnosen. […] In meiner Liebe zu ihm war nichts Überschwengliches,
nichts, das zu schwer wiegen konnte. Sie war unerschütterliches
Zu-ihm-Stehen.“ 157)
Nicht
weniger zu Herzen geht ihm die Hinrichtung des 23-jährigen Dichters
Roger Bernard. Im väterlichen Betrieb hatte er das Druckerhandwerk
gelernt, „aber die Poesie – die gesamte Poesie – zog ihn schon
sehr früh an. […] Er schließt sich dem Maquis im Tal des Calavon
an, eines Gebirgsbaches, an dem kampferprobte, schweigsame Menschen
wohnen. Seine junge Frau, Lucienne, teilt sein unsicheres Leben.
Zwischen zwei Sabotageakten liest er mir seine Gedichte vor und
spricht mit mir über seine Pläne.“ Auf dem Weg zum gemeinsamen
Versteck wird er am 22. Juni 1944 von einer deutschen Patrouille
gefasst, kann noch den Zettel mit der Botschaft schlucken, wird
anschließend gefoltert und erschossen.
„Entsetzlicher
Tag! Ich habe, aus wenigen hundert Meter Entfernung, der Hinrichtung
von B. zugesehen. Ein Druck auf den Abzug meiner Maschinenpistole,
und er hätte gerettet werden können! Wir waren auf der Anhöhe
oberhalb von Céreste, die Büsche strotzten von Waffen, an Zahl
waren wir der SS mindestens ebenbürtig. Die zudem nichts von unserem
Vorhandensein ahnte. Den Augen ringsum, die um das Signal, das Feuer
zu eröffnen, flehten, antwortete ich mit einem Kopfschütteln …
Die Junisonnen fuhr mir eisig in die Knochen. […]
Ich
habe das Signal nicht gegeben, weil das Dorf um
jeden Preis
verschont bleiben musste. Ein Dorf – was ist das? Ein Dorf wie
jedes andere auch? Vielleicht hat er das gewusst in diesem letzten
Augenblick?“ (138)
Einer
der längsten Texte ist eine komprimierte Darstellung einer
Umstellung und Durchsuchung von Céreste: „Man warf die Einwohner
aus den Häusern, befahl ihnen, sich auf dem Dorfplatz zu versammeln.
Schlüssel hatten steckenzubleiben. Ein Alter, der, harthörig, den
Befehl nicht schnell ausgeführt hatte, sah nun, wie eine Bombe ihm
die vier Wände und das Dach seiner Scheune in die Luft blies. […]“
- Char befand sich in seinem Versteck im Dorf, die SS suchte nach
ihm, doch niemand verriet ihn, auch nicht der Maurergeselle, der mit
eingesammelten Kaninchenfallen das Dorf betrat, befragt und gefoltert
wurde. Doch die Frauen des Dorfes, Kinder und Greise strömten der SS
entgegen, sodass diese irritiert das Dorf verließ. „Den Maurer
ließ man für tot liegen. Schäumend vor Wut, bahnte sich die
Streife einen Weg durch die Menge und lenkte ihre Schritte
anderswohin. Mit unendlicher Vorsicht sahen angsterfüllte, gütige
Augen jetzt zu mir herüber, huschten die Blicke, dem Strahl einer
Lampe gleich, über mein Fenster hin. Ich trat halb hinter dem
Vorhang hervor, ein Lächeln löste sich von meiner Blässe ab. Mit
tausend Fäden des Vertrauens hing ich an diesen Menschen; kein
einziger sollte jemals abreißen.
Unbändig
habe ich sie an jenem Tag geliebt, meine Mitmenschen, weit über alle
Aufopferung hinaus.“ (128)
Der
Inhalt dieses Buches lässt sich nicht nacherzählen. Jede einzelne
Notiz ist ein Kern für sich, ist Poesie, Aphorismus, oder Reflexion,
oder eine Legierung dieser fluiden Formen.
Die
vergiftete europäische Zivilisation
Die
Hoffnungen auf eine bessere und gerechtere Welt all derer, die im
Widerstand lebten, die ihr Leben riskierten und nach der Rückkehr in
die „Normalität“ vergessen wurden, schlimmstenfalls sogar
diffamiert wurden, erwies sich als Chimäre. In der Notiz Nr. 220
spricht der Dichter des HYPNOS dies an. Er sah voraus, wie für Jahre
durch den Faschismus, durch Kollaboration und Selbstbetrug die
europäische Zivilisation vergiftet wurde:
„Die
Erhitzung und die Chlorose der Jahre, die auf den Krieg folgen
werden: meine Befürchtungen gelten beiden in gleichem Maße. Unsere
bequeme Einmütigkeit, unser Gerechtigkeitshunger: sie werden sich,
ich fühle es voraus, als recht kurzlebig erweisen, wenn das uns im
Kampf verknüpfende sich gelöst hat. Auf der einen Seite bereitet
man sich darauf vor, das Abstrakte zu fordern; auf der anderen
wiederum wird blindlings all das verworfen, was dazu beitragen
könnte, das menschliche Dasein in unserer Zeit zu erleichtern und
den Menschen mit zuversichtlichem Schritt auf seine Zukunft zuhalten
zu lassen. […]“
- Politische Aussagen in dieser Deutlichkeit sind bei Char selten zu
lesen. Und er setzt fort: „Die Phantome erteilen Rat um Rat,
statten Besuch um Besuch ab – Phantome, deren empirische Seelen ein
einziger Haufen von Schleim und Neurosen sind. […]“
Dachte
er an die Situation, als man ihn mit einer Spitfire aus dem Maquis
nach Algier ausflog, aufgrund eines Befehls, und er widerwillig seine
Leute verlassen musste? Und erleben musste, wie unzulänglich, ja
falsch man die Situation, das Leben der Partisanen einschätzte? –
Dieses Unverständnis zeigte sich in der Begegnung mit Charles de
Gaulle: Char wird mit zwei anderen Maquisards zu einem Treffen mit
General de Gaulle in die Villa des Glyzines in Algier befohlen. Die
triviale Eröffnung des Gesprächs durch den General mit den Worten:
„Monsieur, sind wir gut angekommen?“ macht Char wütend, und als
de Gaulle wissen möchte, wie er, Char, die Kräfte des Maquis
einschätze, antwortet er aufgrund der Gefahren, denen sie täglich
ausgesetzt sind: „Die Kunst besteht darin, sich unsichtbar zu
machen.“
Nach
dem Gespräch, auf der Straße, rief Char empört zu den Kameraden,
die ihn begleitet haben: „Welch ein Idiot!“ – Dies war die
erste und einzige Begegnung der beiden, sie finden keine gemeinsame
Sprache. Char lehnt nach dem Krieg auch alle Auszeichnungen sowie ein
weiteres Treffen mit de Gaulle ab.
Vor
seiner Abreise versteckte Char sein Notizheft in einem Mauerloch in
Céreste. Nach der Befreiung beginnt er mit der Überarbeitung, mit
dem Kürzen und Komprimieren der flüchtig notierten Sätze.
Char
schreibt 1948 in einem Brief an Francis Curel, der das KZ Mauthausen
überlebt hat: „Wir sind Partisanen, um nach dem Brand die Spuren
zu verwischen und das Labyrinth zu vermauern. […]
Die Strategen
haben damit nichts gemein. Die Strategen sind die Plage der Welt und
ihr schlechter Atem. […]“
Diese
Einschätzung korrespondiert für mich mit der Notiz Nr. 7: „Dieser
Krieg wird über alle platonischen Waffenstillstände hinaus
fortdauern. Die Implantation der politischen Begriffe wird
weitergehen, kontradiktorisch, inmitten von Konvulsionen und unter
dem Deckmantel einer ihrer Rechte sicheren Scheinheiligkeit. Man
lächle nicht. Sondern tue alle Skepsis und Resignation ab und
bereite seine sterbliche Seele darauf vor, es intra muros mit Dämonen
aufzunehmen, kalt und Mikroben gleich.“