Rezension von Dominika Meindl
Rudolf Habringer: Diese paar Minuten. Erzählungen
In dieser Sache habe ich keine Scheu, mich zu wiederholen: In einer besseren Welt (und die sollte uns Schreibenden leicht vorstellbar sein) zählten Erzählungen mindestens so viel wie Romane. Und in einem besseren Literaturbetrieb als dem österreichischen stünde Rudi Habringer in der ersten Reihe. In der Realität steht er zum Glück nicht weit dahinter (aber: Oh, die feinen Unterschiede!). Es bleibt die Frage offen, ob das damit zusammenhängt, dass er in Oberösterreich geblieben ist. Ein Standortnachteil? „Selbstverständlich!“ sagt er bei der Buchpräsentation im Stifterhaus, aber es klingt nicht larmoyant.
Habringer lebt im selben Vorstadtgebiet, das seine Figuren bewohnen. Ein Paar entfremdet sich bei der Suche nach einem Samenspender. Ein ehemaliger Fremdenlegionär verunglückt auf eine Weise, die man auch für Absicht halten könnte. Eine Frau wird aus Langeweile zur Erpresserin.
Es ist der Ort, der sie verbindet – und ihre inneren Dilemmata. Sie sind alle in psychischen und sozialen Schieflagen. Hier hat jeder seine Schwächen, seinen Preis, für den er sich weggibt (ja, es sind mehr Männer, aber beileibe nicht nur). Es sind nur ein paar Minuten, in denen sich die Figuren in ein Verhängnis verstricken, aus dem sie kaum noch entkommen. Kinder kommen zu Schaden, Ehen zerbrechen, Leben springen aus den Schienen. Die Existenz ist entsetzlich angreifbar und verletzlich. Gezeigt wird die Brutalität der für „normal“ erachteten Verhältnisse, die Last der monogamen Paarbeziehung, der Erwartung, dass es Vater und Mutter gibt, dass man in der Firma nicht unter die Räder gerät – sprich: die Last des Alltags. Es gehe ihm um Resonanz, sagt Habringer, und das muss keine positive sein. Seine Lektorin habe die Erzählung, in der ein Mann ein Kind umbringt und kaum Reue empfindet, als zu belastend empfunden. Gerade deswegen sei sie im Buch geblieben. „Einen Teil der Weltliteratur müsste man ja sofort canceln.“
Die elf Short Stories haben eine Klammer, einen Metatext – in ihnen geistern Protagonist:innen von anderen Romanen und Erzählungen. Sie sind aber so fein verbunden, dass eine jede für sich stehen kann. Ein schwächerer Autor würde daraus elf Romane machen, Habringer beherrscht die Reduktion und Verdichtung, weil er akkurat ist. Überhaupt ist sein Stil auffällig unauffällig. Er habe, sagt er, die Leute reden lassen, wie sie eben reden, in ihrer Sprachlosigkeit und Unfähigkeit, das Richtige zum rechten Zeitpunkt zu sagen. „Plötzlich hörte ich diese Wörter des Ungefähren, wenn sie sprach: irgendwo, irgendwie, sozusagen, sag ich mal, sag ich jetzt ganz ehrlich, sag ich jetzt mal ganz im Ernst und so weiter. Ina verwendete plötzlich häufig die Wörter natürlich und normal.“ Nicht umsonst nennt er Raymond Carver eines seiner Vorbilder.
Es sei ihm wichtig, schreibt Habringer in einem der Essays in „Das Unergründliche und das Banale“, dass sein Nachbar, „wenn er sie denn lesen würde“, seine Texte auch verstehen könnte. „Mit meinen Geschichten, meinen Texten möchte ich Kontakt zu anderen Menschen herstellen“. „In diesem Sinne halte ich mich für einen realistischen Autor. Ich versuche mich schreibend und scheiternd als Feldforscher in der Wissenschat vom Menschen“.
Da gibt es kaum Metaphern, die Sätze sind trocken, lakonisch, unmanieriert. Wichtig sei ihm aber der Sound einer Figur, der Rhythmus der Prosa – er ist ja auch Musiker.
Rudolf Habringer: Diese paar Minuten. Erzählungen. Otto Müller Verlag, S. 200, 23 €