Mittwoch, 31. März 2021

 

  

VIER KURZLESUNGEN AUF RADIO FRO

Am 31. März um 19 Uhr, also heute, werden bei Radio Fro in Linz sowie zeitgleich in der Radiofabrik in Salzburg im Rahmen der Sendeschiene seitwärts: [poetologische ortungen ] "poetic acts von hier und da" ausgestrahlt. Die Sendung ist zu hören im Freien Rundfunk Oberösterreich (105,0 Mhz oder im live stream) sowie im Freien Rundfunk Salzburg (107,5 Mhz oder live stream).

Mein Beitrag zu dieser Sendung besteht aus vier Kurzlesungen, die ich an öffentlichen Ort in Ried im Innkreis aufgenommen habe.

Und hier ist der Link zum Beitrag:

https://www.fro.at/poetic-acts-von-hier-und-da/


die beiträge wurden eigens für diese sendung performt und als poetologische radiomontage adaptiert. während dominika meindl beim tourengehen liest und sich akustisch von der hintereggeralm richtung wurzeralm bewegt, sendet dietmar füssel beiträge von orten und plätzen in ried und judith gruber-rizy liest im badezimmer aus ihrem roman „die schreckliche stadt k.“ [edition art science 2020]. renate silberer will nichts mehr von fakten wissen und liest das in ihrem wohnzimmer, dazumontiert sind OT´s vom volksgarten in linz und von einem drogeriemarkt an der kassa. der beitrag von kurt mitterndorfer ist ein ausschnitt seiner aktuellen CD produktion „GEH“ – gedanken eines syrischen flüchtlings, auf dem weg von damaskus nach linz. ein weiterer beitrag kommt von margot koller, aufgenommen im offenen bücherschrank, den die autorin in der alten panzerhalle in salzburg betreut.
gastautor*innen
dietmar füssel
judith gruber-rizy
margot koller
dominika meindl
kurt mitterndorfer
renate silberer


sounding von GEH: chris herman

sendungsgestaltung/montage: wally rettenbacher

aufnahme margot koller: wally rettenbacher

Freitag, 19. März 2021

Die Lieblosigkeit unter dem Phrasenschmarrn

Renate Silberer zeigt in ihrem mehr als gelungenen Romandebüt „Hotel Weitblick“ den Zusammenhang zwischen untoter NS-Pädagogik und schmerzbefreitem BWL-Gequatsche

Von Dominika Meindl

Es ist keine Neuigkeit, dass Soziopathen in Chefetagen überrepräsentiert sind; zu Eigentümergruppen und Aktionären ist es nur noch nicht durchgedrungen, dass emotionale Kälte und Manipulationsfreude einem Unternehmen belegbar schaden. Damit ist die erste, vordergründige Ebene in Silberers Debütroman bezeichnet: Der Top-Consulter Marius Tankwart soll den neuen Geschäftsführer einer großen Werbeagentur finden, die vier überambitionierten Kandidaten aus dem mittleren Management (drei Männer, eine Frau, immerhin), müssen ein Wochenende lang in einem Seminarhotel irgendwo im Hinterland Assessment Center spielen.

Horst hat seine Freundin verletzt, weil er den Jahrestag leichten Herzens gecancelt hat. Weil sie jetzt nicht abhebt, wirft er ihr ihre Kränkung in einem inneren Monolog vor. „Ich kann das nicht gut aushalten, diese Strenge. Wie komme ich überhaupt dazu? Das ist eine absolute Rollenverkehrung. Spinnst du, Veronika, ich meine, wer ermöglicht dir dein Musikschullehrerdasein, hm, denk mal nach.“ Zum Druckabbau schreibt er neoliberale rants in die sozialen Medien. Nach und nach bekommt die Leserin Einblick in die Kindheit der vier. Eine ärgere Geburtstagsszene als jene in Horsts Leben muss man lange suchen. Der Espresso-Snob Franz redet sich ein, dass seine Frau und seine Kinder sein ganzer Stolz sind, an den Wochenenden spielt er sich selbst den Familienvater vor, denkt aber zuerst an seine Bialettisammlung, als ihm die Gattin das Ende der Ehe verkündet. Annette arbeitet nicht nur hart für die Agentur, sondern hart an der Verdrängung ihrer Panikattacken. Sie glaubt, ihr Leben im Griff zu haben, weil sie Yoga macht und Obst ist. Helmut hat eine ausgewachsene Essstörung und Sportsucht, würde sich das allerdings nie eingestehen.

Für das narzisstische Quartett sind diese drei Tage eine Zumutung, jeder dünkt sich überqualifiziert, kein Zweifel kränkelt ihr Ego an, und genau so quatschen die künftigen Führungskräfte mit ihrem empathielosen Betriebswirtschafts-Bullshit aneinander vorbei. Was für ein Phrasenschmarrn! Diesen Jargon hat Silberer exakt eingefangen. Das ist an sich schon eine Leistung (falls Literatur und Literaturkritik in solchen Kategorien überhaupt agieren sollten). Aber die Angestelltenliteratur ist ein etabliertes Genre, und nach Ricky Gervais in „The Office“ ist es schwer, dazu etwas Neues zu sagen. Silberer hat genau das geschafft. Weit tiefer nämlich geht die eigentliche, zweite Ebene von „Hotel Weitblick“. Lange hat sich Silberer mit Johanna Haarer auseinander gesetzt, deren Erziehungsbestseller „Die Mutter und ihr erstes Kind“ noch 1987 neu aufgelegt worden ist. Das ebenso Schlimme wie Bizarre daran: Haarer war „Gausachbearbeiterin für rassenpolitische Fragen“ und NS-Erziehungsbeauftragte. Im Jahr der Ersterscheinung 1938 war die Mutter noch „deutsch“. 1939 folgte das Kinderbuch „Mutter, erzähl' von Adolf Hitler!“ Haarers Frauenbild bleibt über die Jahre hinweg haarsträubend, nachgerade herzenskalt sind ihre Tipps zur Abhärtung und Züchtigung des Neugeborenen: „nach der Entbindung beginnt die Erziehung“, also die Abrichtung des zukünftigen Soldaten, der künftigen Rasseerhalterin. „Nach der Abnabelung wird das Kind erst einmal beiseitegelegt und für vierundzwanzig Stunden in einem abgedunkelten Raum frei von Nahrung und fern der Mutter verwahrt.“

Hotel Weitblick“ geht über eine bloße Anklage oder eine (an sich schon triftige) historische Aufarbeitung weit hinaus. Denn die fünf Protagonisten sind zwar objektiv erfolgreich, seelisch aber zerstört – allesamt im Geist Haarers durch emotionale Vernachlässigung erzogen. Die Kinder sollten es einmal besser haben, und da ist „Verzärtelung“ der falsche Weg. Zwanzig, dreißig Jahre nach dem Krieg war es immer noch opportun, den Säugling in ein Zimmer zu sperren und schreien zu lassen, das stärkt die Lungen und bricht den Willen. Was dabei herauskommt, exemplifiziert Silberer psychologisch präzise in ihrem Kammerspiel. Nur an ein paar ganz wenigen Stellen tragen die Dialoge schwer am Stoff. Es mag an der Nähe zur Lyrik liegen, die Silberers Prosa so tragfähig macht.

Alle kauen an der vorenthaltenden Zuneigung wie auf flachsigem Fleisch. Ein verbindendes Doppelmotiv ist das Erschrecken vor dem eigenen Spiegelbild, der verwehrte Blick in die Augen des Anderen. Katalysator und Spielleiter ist der Unternehmensberater – die vier Akteure wissen noch nicht, dass dies sein letztes Wochenende im zur Last gewordenen Beruf ist. Tankwarts Selbstbefreiung ist schon geplant, er möchte den vier Leidensgenossen die gemeinsame innere Leere vor Augen halten und sie den ja eigentlich teilbaren Schmerz fühlen lassen. Doch vom Irrglauben, den Daseinszweck durch Leistung und Disziplin zu erfüllen, mag niemand so leicht lassen. „Der Mensch ist mehr als sein Beruf“, das kann man gar nicht genug betonen.

Renate Silberer: Hotel Weitblick. Roman, Kremayr und Scheriau, 240 S., 20

Mittwoch, 3. März 2021

Richard Wall - Meine Position derzeit

MARGINALIEN 

oder

GIBT ES UNVEREINBARKEITEN?

I

Die an Kunst im weitesten Sinn interessierten Teile der Gesellschaft weiden sich am liebsten an den Lebensläufen jener Künstler, die im Wahnsinn oder Selbstmord geendet haben. Camille Claudel und van Gogh wären hiefür Beispiele. An Drogen oder Aids gestorben zu sein, ist ebenfalls kein Nachteil für das Ranking (Jean-Michel Basquiat, Keith Haring etc.). Nicht weniger beliebt sind jene Künstler, die der bürgerlichen Vorstellung, wie ein Künstler auszuschauen und zu leben habe, entsprechen. Dazu gehört das Handwerk der Provokation oder das Sich-zum Kasperl-machen.

II

Derzeit sind die Gesellschaften in Europa – desorientiert und indifferent wie sie derzeit erscheinen – nicht nur gespalten, sondern aufgesplittert. Sektiererische Geister verkünden ihre Unfehlbarkeit, versuchen die Mehrheit zu unterwerfen oder halten sie in Schach. Klassenunterschiede treten wieder deutlich zutage. Die Schere zwischen arm und reich, zwischen denen, die viel oder fast alles besitzen, und jenen, die zu Sozialmärkten pilgern und sich die Miete nicht mehr leisten können, geht immer weiter auseinander. Allerlei Irrationalismen, esoterische Positionen und Verschwörungstheorien dringen tief ein in die Denk- und Handlungsmuster einer verunsicherten Mittelschicht. Festzustellen ist auch ein Erstarken von nationalistischen und faschistischen Tendenzen. Gerade die Abgehängten, die Wenigverdiener und Hackler orientieren sich mehrheitlich politisch nicht mehr links, sondern marschieren nach rechts. Oder gehen der parlamentarischen Demokratie als Nichtwähler verloren.

III

Auch im Kunstbetrieb sind die Unterschiede zwischen jenen Künstlerinnen und Künstlern, die mit ihren Werken unglaubliche Summen einheimsen, und jenen, die oft nicht minder gut sind oder sogar besser, aus den verschiedensten Gründen jedoch im Abseits stehen, größer geworden. Während bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts Vermögende die Gründung von Kunst- und Kulturzeitschriften und junge Künstler und Schriftsteller gefördert haben, kaufen heute die meisten Vermögenden, vor allem die Klasse der Neureichen, alles andere als Kunst. Wenn sie Kunst kaufen, dann Artefakte von bereits berühmten, hochpreisigen Künstlerinnen und Künstlern, meist zum Zweck einer Wertanlage. Dass der Kunsthandel vom Weißwaschen ergaunerter Schwarzgelder profitiert, ist kein Geheimnis. Enorme Beträge werden bei Auktionen aufgeboten und treiben die Preise in die Höhe. Die phantastisch-abstrakten Werte (wie die Tulpenzwiebel im 17. Jahrhundert in den Niederlanden) haben zur Folge, dass öffentliche Museen beim Einkauf oder Zukauf – beispielweise um eine Sammlung zu ergänzen – nicht mehr mithalten können.

IV

Im Literaturbetrieb dominieren die Großverlage und die Gattung Roman das Geschehen. Was uns Dichter und Kleinbildkünstler betrifft, so kommt dazu, dass auch der Journalismus sämtlicher Medien gegen uns arbeitet: Auf eine ganz einfache Weise, nämlich – indem wir ignoriert werden. 

„Seien wir uns ehrlich, Krawallmacher haben es leichter heute, in der Politik ebenso wie im Literaturbetrieb. Das ist nicht verwunderlich, weil Kritik nicht erwünscht ist und durch Betrachtung ersetzt wird. (…) es werden ja Gestalten rezensiert, nicht literarische Werke. Dass so viele gelobte Bücher ohne einen Ansatz von Reflektion auskommen, gehört zu einem Betrieb dazu, der gerade dabei ist, sich das Denken abzugewöhnen.“ (Anton Thuswaldner in Literatur und Kritik, Nov. 2020) 

V

Substanzlose Maulaufreißer und künstlerische Konjunkturritter werden abgefeiert. Filmregisseure, die ohnehin mit ihren Kabarettlieblingen und Vorstadtweiber-TV-Serien bestens verdienen, müssen auch noch Romane hinfetzen; Personen, die aus ihrer Bekanntheit, die nicht aus einem künstlerischen Schaffen entstand, profitieren durch ihre Bekanntheit, wenn sie plötzlich einen Roman oder Krimi veröffentlichen. Wie aus dem Nichts kommen Journalistinnen und Journalisten für eine plötzliche Karriere als Autorin oder Autor in der Sparte Belletristik in Frage und lassen sich von Kolleginnen und Kollegen feiern. Dutzende solcher „Talente“ schwimmen als Fett auf der Magersuppe, die sich hunderte Kolleginnen und Kollegen, die seit Jahrzehnten ihrer Berufung nachgehen, am Hungertuch nagend, teilen dürfen.

VI

Kunst ist für mich keine Spielerei, kein Sträußchen am Hut, sondern eine ernste Angelegenheit. Selbst dann, wenn ich experimentiere, mit Formen oder Sprache „spiele“. Für mich war und ist das Schreiben und Bildnerisch-tätig-Sein ein Grundbedürfnis und Lebensmittel seit Jahrzehnten. Der Blick in den Abgrund ist Antrieb. Meine Existenz weist eine Grundierung auf, die mich genau beobachten lässt; Emotionen wie Angst, Leere, Liebe und Empörung waren mir stets ein Anlass, mich diesen auszuliefern, ihnen nachzuspüren, wiewohl Phasen der Melancholie immer wieder Schaffenskrisen und -pausen zur Folge hatten. 

Emotionen hat jeder Mensch, die Herausforderung ist die Wahl der ästhetischen Mittel, die Form.   

VII

Die Frage, die sich jede und jeder selber stellen muss: „Gibt es Unvereinbarkeiten?“


Februar 2021
von Richard Wall

Richard Wall - Gedicht aus aktuellem Anlass

 STECHT NUR ZU


Die von allen guten Geistern Verlassenen

und das Ministerium der gebleckten Zähne

bringt Unheil über Amtswege

für die nicht im Kreis ihrer Freundschaft Belassenen.


Im Schatten dieser gedrückten

und blauen Verzweiflung

im Glanz der Tränen und Wut der Wunsch

dass sich Widerstand rege.


Die gespenstisch gut gekleideten

Menschenfresser in frostigen Posen

die niemals gekündigt werden

wandeln durch den Schmerz

anderer wie durch Papierwände

die ihre Wangen liebkosen.

Stecht nur zu, ruft das Messer, schneidet

ihnen das Gedächtnis aus ihren Händen.

Ficken mit dem Klassenfeind. Walter Josef Kohl

Foto: Dieter Decker Rezension von Dominika Meindl  „ Bei all der sozialen Aufsteigerei, beim sich Emporarbeiten von ganz unten, vom dörfl...