Donnerstag, 22. Dezember 2022

Apropos Literaturnobelpreis

von Judith Gruber-Rizy


Es ist bereits der 119. Nobelpreis für Literatur, der heuer an die Schriftstellerin Annie Ernaux vergeben wurde. Die Begründung der schwedischen Akademie für diese höchste Auszeichnung, die der Französin zuteil wird, ist wie immer knapp: „Für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Fesseln der persönlichen Erinnerungen aufdeckt“. 

Seit 1901 gibt es den Literaturnobelpreis, der allererste wurde an den Franzosen Sully Prudhomme (1839 – 1907) vergeben. Als erste Frau wurde 1909 die Schwedin Selma Lagerlöf damit ausgezeichnet. Womit klar war, dass diese Auszeichnung nicht nur für Männer gedacht war. Aber – von den insgesamt 119 Literatur Nobelpreisen wurden 102 an Männer überreicht und nur 17 (da ist Annie Ernaux bereits mitgerechnet) an Frauen. Also 85,7 % zu 14,3 %. 

Schon die Begründung der Preisvergabe an Selma Lagerlöf ist vielsagend: „Aufgrund des edlen Idealismus, des Phantasiereichtums und der seelenvollen Darstellung, die ihre Dichtung prägen“. Bei Rudyard Kipling, der zwei Jahre vor Lagerlöf den Nobelpreis bekam, klingt die Begründung ganz anders: „In Anerkennung der Beobachtungsgabe, der ursprünglichen Einbildungskraft sowie der männlichen Stärke in Auffassung und Schilderungskunst, die die Schöpfungen dieses weltberühmten Schriftstellers auszeichnen.“ Männliche Stärke im Gegensatz zur seelenvollen Darstellung also. 

Auch bei der zweiten Frau, die 1926 den Literaturnobelpreis verliehen bekam, bei der Italienerin Grazia Deledda, sagt die Begründung viel darüber aus, wie das schwedische Nobelpreis-Komitee dachte: „Für ihre von hohem Idealismus getragene Verfasserschaft, die mit Anschaulichkeit und Klarheit das Leben ihrer väterlichen Herkunft schildert und allgemeinmenschliche Probleme mit Tiefe und Wärme behandelt.“

Dass bereits zwei Jahre nach Grazia Deledda wieder eine Frau ausgezeichnet wurde, diesmal die Norwegerin Sigrid Undset, überrascht. Dann allerdings vergingen zehn Jahr bis 1938 Pearl S. (Sydenstricker) Buck aus den USA, die aber vorwiegend in China gelebt hatte, den Preis „für ihre reichen und echten epischen Schilderungen aus dem chinesischen Bauernleben und ihre biographischen Meisterwerke“ bekam. Allerdings ist ausgerechnet diese Preisvergabe wahrscheinlich die literarisch umstrittenste in der Nobelpreisgeschichte (bei Peter Handke war es ja nicht literarische Kritik sondern die Kritik seiner politischen Haltung). Kritiker erklärten ihre Werke für literarisch wertlos, ja schlichtweg für Trivialliteratur und Pearl S. Buck daher eigentlich als dieser hohen Auszeichnung für unwürdig. Man mag nun über die Romane der vielgelesenen Pearl S. Buck geteilter Meinung sein, die Frage jedoch, ob man über einen männlichen Nobelpreisträger ebenso hart geurteilt hätte, sollte doch erlaubt sein. 

Nur 2 Männer später (während des 2. Weltkriegs  wurde der Nobelpreis vier Jahre lang nicht vergeben) bekam die Chilenin Gabriela Mistral im Jahr 1945 den Literatur Nobelpreis. Dann war lange Pause für die Schriftstellerinnen, zwanzig Jahre lang wurden nur Männer mit dem Preis geehrt. Erst 1966 kam wieder eine Frau zum Zug, Nelly Sachs aus Schweden, die sich allerdings den Preis mit dem Israeli Samuel Agnon teilen musste. Wer jetzt gehofft hatte, dass das Nobelpreis-Komitee endlich mehr Frauen berücksichtigen sollte, wurde schmählich enttäuscht, denn es dauerte schließlich sogar 25 Jahre bis 1991 die weiße Südafrikanerin Nadine Gordimer den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekam. 

Nach Nadine Gordimer aber kam endlich der Umschwung und schon zwei Jahre später, 1993, wurde die US-Amerikanerin Tony Morrison, als erste nicht weiße Frau, ausgezeichnet. Es folgten 1996 die Polin Wislawa Szymborska, 2004 Elfriede Jelinek, 2007 Doris Lessing (Großbritannien), 2009 Herta Müller (Rumänien/Deutschland), 2013 Alice Munro (Kanada), 2015 Swetlana Alexijewitsch (Belarus), 2018 Olga Tokarczuk (Polen) und nun 2022 Annie Ernaux. 

So steht es jetzt im Literaturpreis-Ranking im Jahr 2022 endlich 102 Männer zu 17 Frauen. Niemand wird annehmen, dass Frauen eben schlechter schreiben als Männer, dass überhaupt weniger Frauen als Männer schreiben. Nein, es gibt keine sachliche, keine auf literarischen Qualitätskriterien basierende Begründung dafür, dass so viel mehr Männer den höchsten Literaturpreis, den es auf der Welt gibt, verdient hätten als Frauen. Es ist ganz einfach Benachteiligung von Schriftstellerinnen/Dichterinnen, ein Übersehen von Frauen in diesem Bereich, das sich von ganz unten bis ganz hinauf zum Nobelpreis-Komitee durchzieht. 

Übrigens, damit die Frauen beim Literatur Nobelpreis mit den Männern gleichziehen könnten, dürfte in den nächsten 85 Jahren der Preis ausschließlich an Frauen vergeben werden. Dann würde es im Jahr 2107 endlich 102 zu 102 stehen. 


Montag, 12. Dezember 2022

Land. Kind. Pandemie. Das zweite Jahr. (2022)

 

Das ist kein Jahresrückblick, auch kein halber, ABER:

 

Zuerst habe ich aufgehört mich zu schminken. Ich habe auch versucht, nicht mehr jeden Tag zu duschen und meine Haare weniger oft zu waschen, aber davon bin ich wieder abgekommen. Ich habe die Haare dann kurz schneiden lassen. Das mit der Brille habe ich nicht geschafft, aber ich habe angefangen, meine Kontaktlinsen mit der Reinigungslotion zu bearbeiten und die Aufbewahrungslösung jeden Tag zu erneuern. Ich bemühe mich, etwas anderes als eine Jogginghose anzuziehen und die trockenen Hautstellen mehrmals täglich einzucremen. Wenn es juckt, bemühe ich mich, nicht zu fest zu kratzen. Obwohl ich nie lächle, erscheinen die ersten Falten um meinen Mund. Ich habe eine Anti-Aging Creme gekauft. Ich habe ein Auto gekauft. Ich habe ein E-Bike gekauft. Ich habe ein Klima-Ticket gekauft. Ich habe ein neues Handy gekauft, weil das alte zu alt war, um das Betriebssystem zu aktualisieren und eine Aktualisierung des Betriebssystems nötig ist, um diverse Apps nutzen zu müssen, und ohne gewisse Apps vieles unmöglich ist, zum Beispiel ein Zugriff auf mein Bankkonto. Ich schaue aber nicht mehr oft aufs Handy. Auch den Computer schalte ich immer seltener ein. Manchmal überlege ich, mich von allen Social Media-Plattformen abzumelden. Irgendwann ist mir aufgefallen, dass ich kaum noch Alkohol trinke und dass ich häufig vergesse zu rauchen. Ich glaube, ich esse normal, aber ich erinnere mich, dass ich früher oft große Lust auf Salat hatte, ich erinnere mich, dass früher oft Speichelfluss eingesetzt hat, wenn ich nur an bestimmtes Essen gedacht habe, ich erinnere mich, dass ich früher überhaupt leicht feucht geworden bin. Ich wundere mich, wie viel Begehren ich früher empfunden habe. Ich frage mich, ob meine Haare nur langsam oder gar nicht mehr wachsen. Natürlich habe ich seit zwei Jahren keine Nacht durchgeschlafen. Natürlich ist es eine Aufgabe. Natürlich ist jede erschöpft. Natürlich haben andere Eltern auch keine Paarbeziehung mehr. Natürlich habe ich mir das so ausgesucht. Natürlich ist es auch ein strukturelles, ein gesellschaftliches, ein politisches Problem. Natürlich kann es auch mit dem gestörten Geruchssinn zusammenhängen und mit irgendwelchen Hormonen. Natürlich könnte ich wegfahren. Natürlich sind das Luxusprobleme. Natürlich gibt es immer ein Lösung. Ich lese noch. Auf social media lese ich zum Beispiel, dass die Auswirkungen von Mutterschaft den Symptomen einer Depression gleichen. Im Text von Ana Marwan, der den Bachmannpreis gewinnt, bleibe ich hängen am Satz: Wie würde ich leben, würde ich leben? Ich weine bei dem Teil über das fiktive Kind: Ich stelle mir vor, ich habe vergessen, dass ich mich schon kurz vor ihm aufgegeben habe. Natürlich war ich schon immer rührselig. Ich stelle mir vor, ich hätte diesen Text geschrieben, ich stelle mir vor, ich hätte geschrieben, stelle mir vor, ich würde schreiben, stelle mir vor, ich würde die richtigen Wörter finden. Ich finde nur einen toten Vogel vor der Haustür. Ich lese The bell jar von Sylvia Plath, blank and stopped as a dead baby, the world itself was the bad dream. Ich nehme mir vor, nur mehr auf Englisch zu lesen, da es so weniger besorgniserregend scheint, dass ich mir der Bedeutung der Wörter nicht mehr sicher bin. Ich sage noch immer nicht griaß di, aber es gibt auch immer weniger Anlässe. Vor kurzem sagte ein junger Autor zu mir, wer nur eine Stunde pro Tag schreibt, ist selber schuld. Dann bin ich auf unserem Grundstück in ein Loch gefallen. Kein Erdloch, eher ein Wurmloch. Seitdem erinnere ich mich wieder an meine Träume. Seitdem habe ich Flashbacks aus meinem Leben. Zeitgleich haben die Ameisen einen Weg ins Haus gefunden. Ich sauge sie mit dem Handstaubsauger ein. Manchmal frage ich mich, wie ich mich an mein ungeschminktes Gesicht gewöhnen konnte. Man sagt mir, ich soll mich auf das konzentrieren, was mich lebendig hält. Ich werde nicht anfangen Gemüse anzubauen, aber ich möchte die Bäume retten, die wir gepflanzt haben. Der Mann wird den Geburtstagskuchen für das Kind backen. Ich pflücke schwarze Ribisel und versuche wieder zu schreiben.

Mittwoch, 7. Dezember 2022

Apfent, Apfent, das Auge tränt 6.0 – Keks, Drugs N' Rock N' Roll


Die große Weihnachts-Lesebühne der GAV OÖ

20. Dezember, 19.30 Uhr, Kulturverein Strandgut (Ottensheimer Straße, 4040 Linz). Eintritt frei!

Mit Rudi Habringer, Walter Kohl, Dominika Meindl und Kurt Mitterndorfer

Alle Jahre wieder ringt das Weihnachts-Ressort in Oberösterreichs größter Literaturvereinigung um Stille, Frieden und innere Einkehr. Die Früchte dieses Ringens präsentiert das Quartett bei der traditionellen großen Jahresabschluss-Lesebühne. Und weil die literarische Weihnachtsfeier seit 2019(!) ausfallen musste, ist der Gabentisch bei der Tombola des Grauens heuer überreich gedeckt. Ja, richtig gelesen: Das ist die einzige Lesereihe, bei der es GESCHENKE gibt! 

Ein Fixstern am heimischen Firmament der satirischen Unterhaltung ist Rudi Habringer, der in Sachen Dramolett, Prosa und einschlägigem Liedgut aus der Fülle des Vollen schöpft. Musikalisch holt aber seit Kurzem auch Walter Kohl auf! Wie stets setzt er der gedankenlosen Fröhlichkeit die nötige Mahnung zur Umkehr entgegen. Das gilt auch für Kurt Mitterndorfer, der es in seinen kurzen Texten an der notwendigen gesellschaftskritischen Strenge nicht mangeln lassen wird. Im Gegensatz zur "Präsidentin" Dominika Meindl, von der bescheuerte Ansprachen zu erwarten sind, und die den drei Kollegen das eine oder andere Dramolett aufzwingen wird. Ihre beste Rolle ist noch die ersehnte Bescherung am ersehnten Ende: Tombola-Geschenke für das Publikum! Literatur und Präsente! Existenzielles Schrottwichteln!

Das Quartett performt im Ringerl, ob allein oder gemeinsam, in allen Formen und Farben. Das ist überraschend oder berührend, satirisch oder literarisch gehaltvoll – in Summe aber wahrhaft unterhaltsam.

Mittwoch, 2. November 2022

Neuerscheinung im Kollektiv Verlag

 Corinna Antelmann - Im Geiste, Anna

"Es gibt Texte, die von der ersten Zeile an verzaubern. Corinna Antelmanns Text zählt zu diesen seltenen Geschenken. Als uns das Manuskript erreichte, wussten wir nach wenigen Seiten: diese ungewöhnliche und schöne Erzählung müssen wir veröffentlichen. Nun, nur wenige Monate später, ist es bald so weit: "Im Geiste, Anna" erscheint am 22.11.22." - Der Kollektiv Verlag


Martha zieht nach Wien, um Abstand zu ihrem Vater zu gewinnen: Flucht nennt es Edith, zu der sie Briefkontakt hält. Die Arbeitstage in einem ruhigen Teeladen veranlassen Martha zum Tagträumen, bis ihr eine Unbekannte erscheint, in der sie Anna Freud auszumachen meint. Martha stellt sich ihren „Geistern“ und erkennt in der vermeintlichen Doppelgängerin schließlich eine Frau, die als Tochter von Sigmund Freud trotz aller Verpflichtungen und Beschränkungen zu einer eigenen Stimme fand, um sich in diese Welt einzuschreiben.

Corinna Antelmann
Im Geiste, Anna
Erzählung
ISBN 978-3-9505202-3-1




Dienstag, 27. September 2022

Text-Sound-Performance "GEH!"

 Mehr als 70 Millionen Menschen sind weltweit pro Jahr auf der Flucht. Sie fliehen vor Hass, Erpressung, Verfolgung, Unterdrückung, Ausbeutung, vor Terror und Krieg. Einen dieser Menschen begleitet diese Text-Sound – Collage von Kurt Mitterndorfer und Chris Herman auf seinem Weg von seiner Vergangenheit in seine Zukunft. Ein Mensch auf der Flucht. Mit seinen Erinnerungen, seinen Ängsten, seinen Hoffnungen. Entstanden ist der Soundtrack zu einem erschütternden „Kopf-Kino“.

„GEH!“ schildert, was im Kopf eines Mannes auf seinem Weg von Damaskus durch Syrien, die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn nach Österreich vorgeht. Erinnerungen, Ängste und schreckliche Erlebnisse vor seinem Aufbruch aus seinem Heimatland Syrien, auch das, was er auf der Flucht erlebt, quälen ihn, aber auch Hoffnung spürt er immer wieder aufkeimen auf seinem Weg. Hoffnung auf ein Leben in Frieden und Freiheit. Der Text wird durchgehend mit Sounds unterlegt.

DONNERSTAG, 6. OKTOBER 2022 UM 20:00

Text-Sound-Performance "GEH!" im KULTUR HOF in Linz Text Kurt Mitterndorfer, Sounds Chris Herman


Samstag, 20. August 2022

Rushdie

von Bernhard Hatmanstorfer

„Sobald der Imam an die Macht gekommen war, hatte er viele von denen umgebracht,
die ihm zur Macht verholfen hatten, auch alle, die ihm missfielen. Gewerkschafter,
Feministen, Sozialisten, Kommunisten, Homosexuelle, Prostituierte, sogar seine
ehemaligen Statthalter.“

                                          Salman Rushdie: Joseph Anton. Die Autobiografie. München 2014
                                          [Aus dem Englischen von Verena von Koskull und Bernhard Robben]

Wir leben in Zeiten unbenannten Terrors. Um nur ja keine labilen Gefühlslagen bei permanent falsch verstandenen, zurückgesetzten wie zurückgebliebenen Gestalten und deren ebenso zart besaiteten Verständnisagenten in Wallung zu bringen, wird eine bestimmte Spielart des Terrors als eine wie alle anderen verkündet: als Terror. Die Nazis, Faschisten und extremen Rechten sind natürlich und völlig zu Recht als rechtsextrem punziert. Die Linksterroristen als linke Terroristen. Die totalitären Eskapaden der Fanatiker einer Weltreligion firmieren hingegen nicht als islamisch, sondern als islamistisch. Kein islamischer Terrorist hat sich jedoch je als islamistisch bezeichnet! Auch nicht der Attentäter auf Salman Rushdie.

In der Berichterstattung des ORF wird der Literat von Weltrang versimpelnd ausschließlich mit seinem Roman „Satanische Verse“ verschränkt. Ein Buch, das weder als Herabwürdigung der jüngsten der abrahamitischen Religionen gedacht war, noch an irgendeiner Stelle als solche gelesen werden kann – wenn man es denn überhaupt kann: lesen. Was den Analphabeten unter den Bigotten und Frömmlern nicht zuzugestehen ist. Dass dennoch der oberste unter den hochgeistlichen iranischen Massenmördern Jahre Schnee einen Bannspruch tat, der zur Tötung Rushdies ermunterte, war bekanntlich einem politischen Kalkül geschuldet: sein Gottesstaat, die inszenierte Hölle auf Erden, war am Verrotten. 

Zu Opfern der Ajatollah-Fatwa wurden neben dem Autor unmittelbar Übersetzer, Verleger, sowie mittelbar der Rest der Welt, der sich mit Rushdie solidarisch erklärte: eine Religion, die nirgendwo dort, wo sie sich als die herrschende geriert, Toleranz lebt, fordert für sich den Status „sakrosankt“ ein!

In zweifelhaften Fällen entscheide man sich für das Richtige, empfahl Karl Kraus. Darob, zwischen Zivilisation und Barbarei sich zu entscheiden, kann kein Zweifel aufkommen.

Mittwoch, 3. August 2022

Wir müssen mit Mut hinein in das Dunkel *

von Richard Wall

Zum 10. Todestag von Franz Xaver Hofer

„(…) Ich bin Zeitgenosse. Ich bin das, was so selbstverständlich ist, dass man es eigentlich gar nicht bezeichnen kann. Ich bekenne mich zum Prinzip der Verletzlichkeit, der Offenheit, des Gefühls – und der Liebe.“

Franz Xaver Hofer


In diesen Tagen, Anfang Juli, erinnere ich an Franz Xaver Hofer, der vor 10 Jahren, am 9. Juli 2012, viel zu früh verstarb. Er wäre in diesem Jahr 80 Jahre alt geworden. Seine Frau, die Malerin und Autorin Helga Hofer, die über die vergangenen Jahre akribisch den Nachlass von Franz aufgearbeitet hat, und zu einem großen Teil, ohne finanziellen Aufwand zu scheuen, publiziert hat, überrascht mit einer gediegen editierten Publikation aufs Neue: Das schmale blaue Hoffnungsland.

Sie enthält noch unveröffentlichte Prosa und Gedichte ihres Mannes, sowie eine Hommage von Helga an den Menschen an ihrer Seite. In Die Zärtlichkeit des Regens geht sie auf die 40-jährige innige Beziehung und künstlerische Partnerschaft ein. Der Text macht die seltene Tiefe, ja das Besondere einer über die Jahre nicht abgekühlten Liebesbeziehung und von Kunst und Literatur weitgehend grundierten Lebensgemeinschaft nachvollziehbar. 

Helga hat nun auch die Beziehung zwischen der Graphikerin, Malerin und Glaskünstlerin Margret Bilger und ihren späteren Mann in einem 60-seitigen Essay aufgearbeitet.

Anhand von Tagebuchaufzeichnungen von Franz – er war zu Beginn der Beziehung 19 Jahre alt – und hunderter Briefe der „Bilgerin“ (Alfred Kubin) gelingt es ihr, das in der Intensität schwankende und sich wandelnde Verhältnis von 1961 bis zum Lebensende von Margret Bilger im Jahre 1971 nachzuzeichnen. 

Für das Verständnis der Beziehung sind wichtige Briefe, die auch Gedichte enthalten, umfangreich und leitlinienartig in den Text eingearbeitet. Sie verdeutlichen das Auf und Ab des doch letztlich ungleichen Paares (Margret Bilger ist zu dieser Zeit mit dem Maler Hans Joachim Breustedt verheiratet). Helga tritt erst 1971, ein halbes Jahr vor dem Tod von Margret Bilger, nachhaltig ins Leben von Franz.

Ergänzend hat die Herausgeberin eine fotografische Kurzbiographie sowie eine ausführliche und vollständige Publikationsliste von Franz sowie von Buchbesprechungen und anderen Texten über ihn und seine Kunstvermittlertätigkeit zusammengestellt.

Franz X. Hofer hat sich für die Zeitschrift Landstrich, für das Museum Bilger-Breustedt Haus in Taufkirchen sowie für Literatur und das Œuvre regionaler wie international bekannter Bildender Künstlerinnen und Künstler eingesetzt.

Bescheiden wie er war, trat er eher selten mit eigenen Publikationen an die Öffentlichkeit, sein Werk wurde erst spät, fast ausschließlich nach seinem Tod, von der Kritik und vom Feuilleton wahrgenommen. Davon zeugen die Texte und Essays von Erich Hackl, Hans Schusterbauer,  Brita Steinwendtner, Bernhard Widder und Richard Wall, die den Kern des Buches ausmachen.

Erschienen ist der schöne Band in der edition panoptikum (Hinterholz 14, 4933 Wildenau) und kann auch bei Helga Hofer bestellt werden.

Franz X. Hofer hat vor seinem Tod um Aufnahme in die GAV angesucht, die formelle Aufnahmebestätigung, nach dem Prozedere der Jury, erlebte er nicht mehr, sie erfolgte nach seinem Tod.  

R. Wall, Helga & Franz X. Hofer im Steinbruch St. Margarethen 
nach einem Besuch der Ausstellungshalle Maria Biljan-Bilger 
in Sommerein und einem Treffen mit dem Architekten Fritz Kurrent, Juli 08
Foto: Monika Wall-Penz

* Aus einem Gedicht von F.X. Hofer aus dem Jahr 1985

P.S.: Am 28. August, 15 Uhr, wird die Ausstellung „Franz Xaver Hofer / Der bildnerische Nachlass“ im Bilger-Breustedt-Haus eröffnet, und am 25. September, 17 Uhr, Buchpräsentation „Das Ich im Freien“, Gedichte von F. X. Hofer, anlässlich des 10. Todestages des Autors.


Dienstag, 2. August 2022

Literarische Triggerwarnung. Oder: Wie unheimlich, der Mensch

Literarische Triggerwarnung. Oder: Wie unheimlich, der Mensch

Corinna Antelmann. mail@corinna-antelmann.com. +43-6502502738

 

„Öffne deinen Schädel doch nur einen Spalt, damit ich deinen Geist erkunden kann“, lautet ein Satz, den die Ich-Erzählerin meines letzten Romans Kafka zuspricht, obwohl er dem Schädel eines Kommilitonen entsprang. Die Zeile kommt ihr bei dem Gedanken in den Sinn, „wie hübsch konservenmäßig geschlossen ein Schädel doch ist. Und dann überlege ich, wie der passende Büchsenöffner aussehen müsste. Liebe vielleicht?“[1]

Die Literatur vielleicht?

Schreibend tätig zu sein, kann vielerlei bedeuten: Kommendes vorwegnehmen. Vergangenes beschreiben. Bekanntes neu zusammenfügen oder das Unbekannte hervorholen. Ich finde mich darin wieder, wenn Christa Wolf sagt, für sie sei das Schreiben immer mehr der Schlüssel zu dem Tor geworden, hinter dem die unerschöpflichen Bereiche ihres Unbewussten verwahrt seien.[2]

So vielfältig die Ansätze, zu schreiben, also auch sein mögen: Stets öffnet die Literatur eine Tür, die uns in in die Köpfe anderer Menschen eintreten lässt und somit Einblicke in ihr Denken und Fühlen gewährt.

Diese Möglichkeit ist es, die mich an der Literatur, schreibend und lesend, immer am meisten interessierte und interessiert, denn sie leistet, was auch jede unvoreingenommene Begegnung leisten kann. Vorausgesetzt, sie wird von Neugier begleitet. Von der Neugier, uns neben dem Bekannten ebenso mit all dem zu konfrontieren, was wir ablehnen, auch, oder gerade, wenn es auf die eine oder andere Art Unbehagen auslöst.

Freud schreibt: „Unheimlich nennt man Alles, was im Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist“[3], also eigene verdrängte Ängste und Wünsche, in denen sich die Facetten unserer Erfahrung und unseres Menschseins zeigen, die ganze Bandbreite dessen, was sich menschliches Leben nennt, einschließlich des Todes.

Und so kann uns manch literarischer Text unheimlich erscheinen, wann immer es ihm gelingt, eine Sprache für das zu finden, was wir von uns weisen möchten, statt es in die Schatten zurückzudrängen, denen es zu entstammen scheint. Denn in den Büchern, da laufen sie ungehemmt herum, die Figuren, und begegnen auf die eine oder andere Art diesem Zurückgedrängten, indem sie die Konfrontation mit sich selbst nicht scheuen oder in anderen gespiegelt sehen, was sie zu vermeiden trachteten. Und mehr noch: Die Leserinnen selbst sehen sich gespiegelt, sobald sie hineinschlüpfen in die Buchseiten und dort dem Fremden begegnen, das sich in dieser oder jener Figur zeigt.

Oder gar in einem Gespenst?

Das Gespenst, das in der Literatur herumwandert, schaut uns aus den Buchseiten entgegen und lässt uns das zurückgedrängte Vertraute als Fremdheit in uns selbst erblicken.

Wie unheimlich ist das, bitte?

Ja, in den Varianten der beunruhigenden Fremdheit zeigen sich Verhaltensweisen, die wir nicht an den Tag legten bisher, Gefühle, die wir nicht kennen oder nicht zu kennen behaupten, und die uns dennoch näher sind als wir wahrhaben wollen, denn alle teilen wir die Erfahrung von Menschsein.

Und deshalb erscheint mir vielmehr beunruhigend, wenn Verlage darüber nachzudenken beginnen, oder bereits durchsetzen, was anderorts, zum Beispiel auf Netflix, ohnehin üblich ist: Trigger-Warnungen auszusprechen. Dadurch sollen die Leserinnen davor geschützt werden, sich ein Buch zuzumuten, das Inhalte transportiert, die Unwohlsein hervorzurufen imstande ist. Es wird wohl als Dienst an den Kundinnen verstanden, vorzuwarnen, wenn ihre Gefühle durch Sprache, Denken oder Verhalten einer Figur, verletzt werden könnten, gleichgültig, ob sie dem Spektrum des menschlichen Daseins entsprechen mögen.

Die gute Nachricht: So müssen wir uns weder länger mit Motiven von Andershandelnden auseinandersetzen noch mit den Motiven von Andersdenkenden. Müssen weder unsere moralischen Urteile überdenken noch die eigene Blase je verlassen.

Die schlechte Nachricht: Wir müssen die eigene Blase nicht verlassen.

„Es trägt dem, der weise werden will, einen reichlichen Gewinn ein, eine Zeitlang einmal die Vorstellung vom gründlich bösen und verderbten Menschen gehabt zu haben“[4], schreibt Nietzsche 1886 und räumt zugleich ein, dass diese Vorstellung ebenso falsch sei wie die Vorstellung des sich moralisch überlegen fühlenden Menschen, der vorgibt, ihm seien sogar gedankliche Kränkung und Bosheit unbekannt.

Als Autorin versuche ich stets, eine Sprache zu finden für die Empfindungen und Widersprüche, für Ungewolltes und Abgelehntes sowie Erwünschtes und Ersehntes, nicht aber moralisch abgesichert zu schreiben, um das Versprechen einzulösen, niemandem wehzutun. Dieses Vorgehen speist sich aus der Überzeugung, dass jede noch so unbequeme Perspektive zu einem gegenseitigen Verständnis beiträgt. Sich allein mit dem zu beschäftigen, was mich nicht anficht und dabei der Konfrontation auszuweichen mit alldem, was der Mensch zu tun in der Lage ist, sich allein mit Büchern auseinanderzusetzen, die mir die eigene Weltsicht bestätigen, verhindert den Blick auf das oben beschriebene Fremde, das uns allen innewohnt.

Literatur drückt das Gemeinsame aus, das Verbindende. Sie ist kein Dienst an den konsumierenden, sondern an den Menschen in seiner Ganzheit. Sich wohlfühlen mag ein Maßstab für den Möbelkauf sein, nicht aber für das Lesen von Büchern. Weichen wir nicht aus. Begegnen wir den eigenen Verletzungen und suchen sie auszudrücken. Verlassen wir die Komfortzonen, in denen wir uns nur deshalb möglichst wohlfühlen sollen, um weitere Wohlfühlgegenstände um anzusammeln und an Lifestyles zu stylen, die uns zu unterscheiden trachten. Denn literarische Begegnungen im vorauseilenden Gehorsam von aller Unbehaglichkeit zu reinigen, führt zu einer Kultur, die dem Menschen nichts zuzumuten traut.

Und so werde ich weiterhin meinem Antrieb folgen, Figurenrede und Autorinnenmeinung zu unterscheiden und in eben diesen Figuren, mit denen ich nicht immer einer Meinung sein muss, schreibend und lesend zu begegnen: ob Täter oder Opfer, schwarz oder weiß, jung oder alt, Mann oder Frau. Mit all ihren Haken und Ösen und Abgründen. Mit Widersprüchen, Ängsten und Hoffnungen.

In all ihrer Vielfalt.



[1] Antelmann, Corinna. Drei Tage drei Nächte. Wien, 2018: 224

[2] Vergl. Wolf, Christa (1986): Die Dimension des Autors, Bd II. Essays und Reden I und II, Gespräche Auswahl: Angela Drescher. Berlin/Weimar

[3] Freud, Sigmund. Das Unheimliche. Bd 12: 231

[4] Friedrich Nietzsche. Menschliches, Allzumenschliches. Leipzig, 1930: 67

Ficken mit dem Klassenfeind. Walter Josef Kohl

Foto: Dieter Decker Rezension von Dominika Meindl  „ Bei all der sozialen Aufsteigerei, beim sich Emporarbeiten von ganz unten, vom dörfl...