von Judith Gruber-Rizy
Es ist bereits der 119. Nobelpreis für Literatur, der heuer an die Schriftstellerin Annie Ernaux vergeben wurde. Die Begründung der schwedischen Akademie für diese höchste Auszeichnung, die der Französin zuteil wird, ist wie immer knapp: „Für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Fesseln der persönlichen Erinnerungen aufdeckt“.
Seit 1901 gibt es den Literaturnobelpreis, der allererste wurde an den Franzosen Sully Prudhomme (1839 – 1907) vergeben. Als erste Frau wurde 1909 die Schwedin Selma Lagerlöf damit ausgezeichnet. Womit klar war, dass diese Auszeichnung nicht nur für Männer gedacht war. Aber – von den insgesamt 119 Literatur Nobelpreisen wurden 102 an Männer überreicht und nur 17 (da ist Annie Ernaux bereits mitgerechnet) an Frauen. Also 85,7 % zu 14,3 %.
Schon die Begründung der Preisvergabe an Selma Lagerlöf ist vielsagend: „Aufgrund des edlen Idealismus, des Phantasiereichtums und der seelenvollen Darstellung, die ihre Dichtung prägen“. Bei Rudyard Kipling, der zwei Jahre vor Lagerlöf den Nobelpreis bekam, klingt die Begründung ganz anders: „In Anerkennung der Beobachtungsgabe, der ursprünglichen Einbildungskraft sowie der männlichen Stärke in Auffassung und Schilderungskunst, die die Schöpfungen dieses weltberühmten Schriftstellers auszeichnen.“ Männliche Stärke im Gegensatz zur seelenvollen Darstellung also.
Auch bei der zweiten Frau, die 1926 den Literaturnobelpreis verliehen bekam, bei der Italienerin Grazia Deledda, sagt die Begründung viel darüber aus, wie das schwedische Nobelpreis-Komitee dachte: „Für ihre von hohem Idealismus getragene Verfasserschaft, die mit Anschaulichkeit und Klarheit das Leben ihrer väterlichen Herkunft schildert und allgemeinmenschliche Probleme mit Tiefe und Wärme behandelt.“
Dass bereits zwei Jahre nach Grazia Deledda wieder eine Frau ausgezeichnet wurde, diesmal die Norwegerin Sigrid Undset, überrascht. Dann allerdings vergingen zehn Jahr bis 1938 Pearl S. (Sydenstricker) Buck aus den USA, die aber vorwiegend in China gelebt hatte, den Preis „für ihre reichen und echten epischen Schilderungen aus dem chinesischen Bauernleben und ihre biographischen Meisterwerke“ bekam. Allerdings ist ausgerechnet diese Preisvergabe wahrscheinlich die literarisch umstrittenste in der Nobelpreisgeschichte (bei Peter Handke war es ja nicht literarische Kritik sondern die Kritik seiner politischen Haltung). Kritiker erklärten ihre Werke für literarisch wertlos, ja schlichtweg für Trivialliteratur und Pearl S. Buck daher eigentlich als dieser hohen Auszeichnung für unwürdig. Man mag nun über die Romane der vielgelesenen Pearl S. Buck geteilter Meinung sein, die Frage jedoch, ob man über einen männlichen Nobelpreisträger ebenso hart geurteilt hätte, sollte doch erlaubt sein.
Nur 2 Männer später (während des 2. Weltkriegs wurde der Nobelpreis vier Jahre lang nicht vergeben) bekam die Chilenin Gabriela Mistral im Jahr 1945 den Literatur Nobelpreis. Dann war lange Pause für die Schriftstellerinnen, zwanzig Jahre lang wurden nur Männer mit dem Preis geehrt. Erst 1966 kam wieder eine Frau zum Zug, Nelly Sachs aus Schweden, die sich allerdings den Preis mit dem Israeli Samuel Agnon teilen musste. Wer jetzt gehofft hatte, dass das Nobelpreis-Komitee endlich mehr Frauen berücksichtigen sollte, wurde schmählich enttäuscht, denn es dauerte schließlich sogar 25 Jahre bis 1991 die weiße Südafrikanerin Nadine Gordimer den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekam.
Nach Nadine Gordimer aber kam endlich der Umschwung und schon zwei Jahre später, 1993, wurde die US-Amerikanerin Tony Morrison, als erste nicht weiße Frau, ausgezeichnet. Es folgten 1996 die Polin Wislawa Szymborska, 2004 Elfriede Jelinek, 2007 Doris Lessing (Großbritannien), 2009 Herta Müller (Rumänien/Deutschland), 2013 Alice Munro (Kanada), 2015 Swetlana Alexijewitsch (Belarus), 2018 Olga Tokarczuk (Polen) und nun 2022 Annie Ernaux.
So steht es jetzt im Literaturpreis-Ranking im Jahr 2022 endlich 102 Männer zu 17 Frauen. Niemand wird annehmen, dass Frauen eben schlechter schreiben als Männer, dass überhaupt weniger Frauen als Männer schreiben. Nein, es gibt keine sachliche, keine auf literarischen Qualitätskriterien basierende Begründung dafür, dass so viel mehr Männer den höchsten Literaturpreis, den es auf der Welt gibt, verdient hätten als Frauen. Es ist ganz einfach Benachteiligung von Schriftstellerinnen/Dichterinnen, ein Übersehen von Frauen in diesem Bereich, das sich von ganz unten bis ganz hinauf zum Nobelpreis-Komitee durchzieht.
Übrigens, damit die Frauen beim Literatur Nobelpreis mit den Männern gleichziehen könnten, dürfte in den nächsten 85 Jahren der Preis ausschließlich an Frauen vergeben werden. Dann würde es im Jahr 2107 endlich 102 zu 102 stehen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen