Donnerstag, 22. Dezember 2022

Apropos Literaturnobelpreis

von Judith Gruber-Rizy


Es ist bereits der 119. Nobelpreis für Literatur, der heuer an die Schriftstellerin Annie Ernaux vergeben wurde. Die Begründung der schwedischen Akademie für diese höchste Auszeichnung, die der Französin zuteil wird, ist wie immer knapp: „Für den Mut und die klinische Schärfe, mit der sie die Wurzeln, Entfremdungen und kollektiven Fesseln der persönlichen Erinnerungen aufdeckt“. 

Seit 1901 gibt es den Literaturnobelpreis, der allererste wurde an den Franzosen Sully Prudhomme (1839 – 1907) vergeben. Als erste Frau wurde 1909 die Schwedin Selma Lagerlöf damit ausgezeichnet. Womit klar war, dass diese Auszeichnung nicht nur für Männer gedacht war. Aber – von den insgesamt 119 Literatur Nobelpreisen wurden 102 an Männer überreicht und nur 17 (da ist Annie Ernaux bereits mitgerechnet) an Frauen. Also 85,7 % zu 14,3 %. 

Schon die Begründung der Preisvergabe an Selma Lagerlöf ist vielsagend: „Aufgrund des edlen Idealismus, des Phantasiereichtums und der seelenvollen Darstellung, die ihre Dichtung prägen“. Bei Rudyard Kipling, der zwei Jahre vor Lagerlöf den Nobelpreis bekam, klingt die Begründung ganz anders: „In Anerkennung der Beobachtungsgabe, der ursprünglichen Einbildungskraft sowie der männlichen Stärke in Auffassung und Schilderungskunst, die die Schöpfungen dieses weltberühmten Schriftstellers auszeichnen.“ Männliche Stärke im Gegensatz zur seelenvollen Darstellung also. 

Auch bei der zweiten Frau, die 1926 den Literaturnobelpreis verliehen bekam, bei der Italienerin Grazia Deledda, sagt die Begründung viel darüber aus, wie das schwedische Nobelpreis-Komitee dachte: „Für ihre von hohem Idealismus getragene Verfasserschaft, die mit Anschaulichkeit und Klarheit das Leben ihrer väterlichen Herkunft schildert und allgemeinmenschliche Probleme mit Tiefe und Wärme behandelt.“

Dass bereits zwei Jahre nach Grazia Deledda wieder eine Frau ausgezeichnet wurde, diesmal die Norwegerin Sigrid Undset, überrascht. Dann allerdings vergingen zehn Jahr bis 1938 Pearl S. (Sydenstricker) Buck aus den USA, die aber vorwiegend in China gelebt hatte, den Preis „für ihre reichen und echten epischen Schilderungen aus dem chinesischen Bauernleben und ihre biographischen Meisterwerke“ bekam. Allerdings ist ausgerechnet diese Preisvergabe wahrscheinlich die literarisch umstrittenste in der Nobelpreisgeschichte (bei Peter Handke war es ja nicht literarische Kritik sondern die Kritik seiner politischen Haltung). Kritiker erklärten ihre Werke für literarisch wertlos, ja schlichtweg für Trivialliteratur und Pearl S. Buck daher eigentlich als dieser hohen Auszeichnung für unwürdig. Man mag nun über die Romane der vielgelesenen Pearl S. Buck geteilter Meinung sein, die Frage jedoch, ob man über einen männlichen Nobelpreisträger ebenso hart geurteilt hätte, sollte doch erlaubt sein. 

Nur 2 Männer später (während des 2. Weltkriegs  wurde der Nobelpreis vier Jahre lang nicht vergeben) bekam die Chilenin Gabriela Mistral im Jahr 1945 den Literatur Nobelpreis. Dann war lange Pause für die Schriftstellerinnen, zwanzig Jahre lang wurden nur Männer mit dem Preis geehrt. Erst 1966 kam wieder eine Frau zum Zug, Nelly Sachs aus Schweden, die sich allerdings den Preis mit dem Israeli Samuel Agnon teilen musste. Wer jetzt gehofft hatte, dass das Nobelpreis-Komitee endlich mehr Frauen berücksichtigen sollte, wurde schmählich enttäuscht, denn es dauerte schließlich sogar 25 Jahre bis 1991 die weiße Südafrikanerin Nadine Gordimer den Nobelpreis für Literatur zugesprochen bekam. 

Nach Nadine Gordimer aber kam endlich der Umschwung und schon zwei Jahre später, 1993, wurde die US-Amerikanerin Tony Morrison, als erste nicht weiße Frau, ausgezeichnet. Es folgten 1996 die Polin Wislawa Szymborska, 2004 Elfriede Jelinek, 2007 Doris Lessing (Großbritannien), 2009 Herta Müller (Rumänien/Deutschland), 2013 Alice Munro (Kanada), 2015 Swetlana Alexijewitsch (Belarus), 2018 Olga Tokarczuk (Polen) und nun 2022 Annie Ernaux. 

So steht es jetzt im Literaturpreis-Ranking im Jahr 2022 endlich 102 Männer zu 17 Frauen. Niemand wird annehmen, dass Frauen eben schlechter schreiben als Männer, dass überhaupt weniger Frauen als Männer schreiben. Nein, es gibt keine sachliche, keine auf literarischen Qualitätskriterien basierende Begründung dafür, dass so viel mehr Männer den höchsten Literaturpreis, den es auf der Welt gibt, verdient hätten als Frauen. Es ist ganz einfach Benachteiligung von Schriftstellerinnen/Dichterinnen, ein Übersehen von Frauen in diesem Bereich, das sich von ganz unten bis ganz hinauf zum Nobelpreis-Komitee durchzieht. 

Übrigens, damit die Frauen beim Literatur Nobelpreis mit den Männern gleichziehen könnten, dürfte in den nächsten 85 Jahren der Preis ausschließlich an Frauen vergeben werden. Dann würde es im Jahr 2107 endlich 102 zu 102 stehen. 


Montag, 12. Dezember 2022

Land. Kind. Pandemie. Das zweite Jahr. (2022)

 

Das ist kein Jahresrückblick, auch kein halber, ABER:

 

Zuerst habe ich aufgehört mich zu schminken. Ich habe auch versucht, nicht mehr jeden Tag zu duschen und meine Haare weniger oft zu waschen, aber davon bin ich wieder abgekommen. Ich habe die Haare dann kurz schneiden lassen. Das mit der Brille habe ich nicht geschafft, aber ich habe angefangen, meine Kontaktlinsen mit der Reinigungslotion zu bearbeiten und die Aufbewahrungslösung jeden Tag zu erneuern. Ich bemühe mich, etwas anderes als eine Jogginghose anzuziehen und die trockenen Hautstellen mehrmals täglich einzucremen. Wenn es juckt, bemühe ich mich, nicht zu fest zu kratzen. Obwohl ich nie lächle, erscheinen die ersten Falten um meinen Mund. Ich habe eine Anti-Aging Creme gekauft. Ich habe ein Auto gekauft. Ich habe ein E-Bike gekauft. Ich habe ein Klima-Ticket gekauft. Ich habe ein neues Handy gekauft, weil das alte zu alt war, um das Betriebssystem zu aktualisieren und eine Aktualisierung des Betriebssystems nötig ist, um diverse Apps nutzen zu müssen, und ohne gewisse Apps vieles unmöglich ist, zum Beispiel ein Zugriff auf mein Bankkonto. Ich schaue aber nicht mehr oft aufs Handy. Auch den Computer schalte ich immer seltener ein. Manchmal überlege ich, mich von allen Social Media-Plattformen abzumelden. Irgendwann ist mir aufgefallen, dass ich kaum noch Alkohol trinke und dass ich häufig vergesse zu rauchen. Ich glaube, ich esse normal, aber ich erinnere mich, dass ich früher oft große Lust auf Salat hatte, ich erinnere mich, dass früher oft Speichelfluss eingesetzt hat, wenn ich nur an bestimmtes Essen gedacht habe, ich erinnere mich, dass ich früher überhaupt leicht feucht geworden bin. Ich wundere mich, wie viel Begehren ich früher empfunden habe. Ich frage mich, ob meine Haare nur langsam oder gar nicht mehr wachsen. Natürlich habe ich seit zwei Jahren keine Nacht durchgeschlafen. Natürlich ist es eine Aufgabe. Natürlich ist jede erschöpft. Natürlich haben andere Eltern auch keine Paarbeziehung mehr. Natürlich habe ich mir das so ausgesucht. Natürlich ist es auch ein strukturelles, ein gesellschaftliches, ein politisches Problem. Natürlich kann es auch mit dem gestörten Geruchssinn zusammenhängen und mit irgendwelchen Hormonen. Natürlich könnte ich wegfahren. Natürlich sind das Luxusprobleme. Natürlich gibt es immer ein Lösung. Ich lese noch. Auf social media lese ich zum Beispiel, dass die Auswirkungen von Mutterschaft den Symptomen einer Depression gleichen. Im Text von Ana Marwan, der den Bachmannpreis gewinnt, bleibe ich hängen am Satz: Wie würde ich leben, würde ich leben? Ich weine bei dem Teil über das fiktive Kind: Ich stelle mir vor, ich habe vergessen, dass ich mich schon kurz vor ihm aufgegeben habe. Natürlich war ich schon immer rührselig. Ich stelle mir vor, ich hätte diesen Text geschrieben, ich stelle mir vor, ich hätte geschrieben, stelle mir vor, ich würde schreiben, stelle mir vor, ich würde die richtigen Wörter finden. Ich finde nur einen toten Vogel vor der Haustür. Ich lese The bell jar von Sylvia Plath, blank and stopped as a dead baby, the world itself was the bad dream. Ich nehme mir vor, nur mehr auf Englisch zu lesen, da es so weniger besorgniserregend scheint, dass ich mir der Bedeutung der Wörter nicht mehr sicher bin. Ich sage noch immer nicht griaß di, aber es gibt auch immer weniger Anlässe. Vor kurzem sagte ein junger Autor zu mir, wer nur eine Stunde pro Tag schreibt, ist selber schuld. Dann bin ich auf unserem Grundstück in ein Loch gefallen. Kein Erdloch, eher ein Wurmloch. Seitdem erinnere ich mich wieder an meine Träume. Seitdem habe ich Flashbacks aus meinem Leben. Zeitgleich haben die Ameisen einen Weg ins Haus gefunden. Ich sauge sie mit dem Handstaubsauger ein. Manchmal frage ich mich, wie ich mich an mein ungeschminktes Gesicht gewöhnen konnte. Man sagt mir, ich soll mich auf das konzentrieren, was mich lebendig hält. Ich werde nicht anfangen Gemüse anzubauen, aber ich möchte die Bäume retten, die wir gepflanzt haben. Der Mann wird den Geburtstagskuchen für das Kind backen. Ich pflücke schwarze Ribisel und versuche wieder zu schreiben.

Mittwoch, 7. Dezember 2022

Apfent, Apfent, das Auge tränt 6.0 – Keks, Drugs N' Rock N' Roll


Die große Weihnachts-Lesebühne der GAV OÖ

20. Dezember, 19.30 Uhr, Kulturverein Strandgut (Ottensheimer Straße, 4040 Linz). Eintritt frei!

Mit Rudi Habringer, Walter Kohl, Dominika Meindl und Kurt Mitterndorfer

Alle Jahre wieder ringt das Weihnachts-Ressort in Oberösterreichs größter Literaturvereinigung um Stille, Frieden und innere Einkehr. Die Früchte dieses Ringens präsentiert das Quartett bei der traditionellen großen Jahresabschluss-Lesebühne. Und weil die literarische Weihnachtsfeier seit 2019(!) ausfallen musste, ist der Gabentisch bei der Tombola des Grauens heuer überreich gedeckt. Ja, richtig gelesen: Das ist die einzige Lesereihe, bei der es GESCHENKE gibt! 

Ein Fixstern am heimischen Firmament der satirischen Unterhaltung ist Rudi Habringer, der in Sachen Dramolett, Prosa und einschlägigem Liedgut aus der Fülle des Vollen schöpft. Musikalisch holt aber seit Kurzem auch Walter Kohl auf! Wie stets setzt er der gedankenlosen Fröhlichkeit die nötige Mahnung zur Umkehr entgegen. Das gilt auch für Kurt Mitterndorfer, der es in seinen kurzen Texten an der notwendigen gesellschaftskritischen Strenge nicht mangeln lassen wird. Im Gegensatz zur "Präsidentin" Dominika Meindl, von der bescheuerte Ansprachen zu erwarten sind, und die den drei Kollegen das eine oder andere Dramolett aufzwingen wird. Ihre beste Rolle ist noch die ersehnte Bescherung am ersehnten Ende: Tombola-Geschenke für das Publikum! Literatur und Präsente! Existenzielles Schrottwichteln!

Das Quartett performt im Ringerl, ob allein oder gemeinsam, in allen Formen und Farben. Das ist überraschend oder berührend, satirisch oder literarisch gehaltvoll – in Summe aber wahrhaft unterhaltsam.

Ficken mit dem Klassenfeind. Walter Josef Kohl

Foto: Dieter Decker Rezension von Dominika Meindl  „ Bei all der sozialen Aufsteigerei, beim sich Emporarbeiten von ganz unten, vom dörfl...