Donnerstag, 18. Februar 2021

Schönheit der Unvermeidlichkeit

von Corinna Antelmann


„Aber wir können unmöglich ein Gartenfest geben, wenn gleich hinter unserm Tor ein Toter liegt!“

Das Draußen ist immer dort, wo die Welt tobt, das Innen der Raum, in dem Introspektion stattfindet und geruht wird. Das eine bedeutet Geselligkeit, Aktivität, Gemeinschaft, das andere Versunkenheit in sich selbst, Lektüre, Konzentration.

Ist das so?

Sagen wir: Neben den Spaziergängen, die draußen in aller Versunkenheit stattfinden, auch in der Literatur zahlreich zu finden, ersetzt uns das Draußen derzeit die einzige Möglichkeit, Feste zu feiern und feste zu feiern, und hier sei die ursprüngliche Form des Festes gemeint, in der es der Zusammenkunft dient, als Ausdruck von Zugehörigkeit, von Freude und Begeisterung. Das gemeinschaftliche Erleben verlagert sich aus den Innenräumen, solange diese auf eine überschaubare Anzahl von Menschen beschränkt bleiben müssen.

Feste gehören zum Leben wie das Säen, das Reifen, die Ruhe des Feierabends, das zielgerichtete Werken. Denn so wie jede dieser Phasen sich in die nächste wandeln will, so will auch jede Arbeit einen Abschluss finden in der Dynamik und Ausgelassenheit. Und auf die Ausgelassenheit folgt dann wieder ein Sich-Sammeln, damit sich neue Früchte bilden können, die wiederum reifen wollen und betrachtet, um abermals ins Schaffen zu führen ... undsoweiterundsofort.

Gerade in der Kunst ist der Abschluss einer Arbeit an Formen der Zusammenkunft gebunden: Das Bühnenstück benötigt die Bühne, der Kinofilm den Kinosaal, das Gemälde die Ausstellung, das Schreiben von Literatur die Lesung, und so kann der digitale Raum (wie er derzeit genutzt wird) nur beschränkt bleiben, wird er doch nach dem Genuss von Kunst zumeist eben im dem Moment verlassen, wenn die Arbeit geliefert wurde, ohne das Fest mitzudenken, den Moment, an dem das Holz nach der daoistischen Lehre der Fünf Wandlungsphasen ins Feuer übergeht, also im Körper transformiert wird.

Die Ausgelassenheit wird zur Eingelassenheit.

Nehmen wir beispielsweise die literarische Arbeit: Bevor eine Lesung stattfindet, werden ebenfalls all diese Phasen durchlaufen: Die Fruchtbildung, oft einsam am Schreibtisch, manchmal doch auch draußen, wie wir es von Peter Handke kennen, der vor seinem Haus in Frankreich sitzend in seiner kleinen Handschrift Buchstaben aneinanderreiht, die zu Sätzen werden und schließlich zu einem Buch, wenn der Text gereift ist und in Ruhe gelassen wurde, bevor er im konzentrierten Endspurt noch einmal eine Steigerung erfährt, dann korrigiert, gesetzt und gedruckt wird. Und jetzt geht das Buch an die Leserschaft, die sich versunken der Lektüre widmet, doch dazwischen liegt, bitteschön, das Fest, genau. Die abgeschlossene Arbeit dürstet auch hier nach Ausgelassenheit, damit die Anstrengung in Freude und Ekstase übergehen und der Nährboden erneut genährt werden kann, um den Keim des Neuen zu ermöglichen. Ja, das Feuer nährt die Erde, Erde Metall und Metall das Wasser, das Wasser dann wieder das Holz, doch wird eine der fünf Wandlungen ausgelassen (oder eingelassen), so beginnt der Kreislauf zu stocken und nicht allein in der Traditionellen Chinesischen Medizin führt ein unterbrochener Energiefluss unweigerlich in die Erschöpfung und schließlich zu Krankheit. Eben die Krankheit aber ist es, die wir zu vermeiden suchen, indem wir derzeit auf Feste verzichten.

Was tun?

Werden wir erfinderisch und nutzen die Möglichkeiten, die sich bieten, um dennoch im Fluss zu bleiben und in mehrfacher Hinsicht gesund. Holen wir das Feuer nach draußen, vor die Rodlbude, auf die Plätze, lesen wir vor Publikum, statt allein in der Laube, und begeistern uns im gemeinsamen Erleben.

Veranstalten wir ein Gartenfest (mit Abstand).

Wenige Bilder steigen in mir auf, wenn ich nach literarischen Beispielen suche, in denen ein Gartenfest von inhaltlicher Bedeutung wäre, aber dann kommt mir Katherine Mansfield und ihre gleichnamige Erzählung in den Sinn, in der anhand des Festes zugleich vom Nebeneinander von Tod und Leid, Freude und Fülle erzählt- von nichts anderem also als vom Wesen des Lebens selbst, in dem alle Dinge, die vermeintlich nicht auf einmal geschehen dürften, da sie sich auszuschließen scheinen, unvermeidlich eben doch nicht voneinander zu trennen sind: Während des Gartenfestes, zu dem die Familie Sheridan in Mansfields Erzählung lädt, stirbt ein Nachbar.

Gefeiert wird dennoch.

Das Format Literatur-frei-Haus, das ich mit meinem Kollegen Rudolf Habringer bereits vor dem ersten Lockdown entwickelte, fordert Privatpersonen auf, uns einzuladen, um sich im Laufe des Abends im kleinen Kreise per Voting ein literarisches Wunschprogramm zusammenzustellen. Dass diese Form der Veranstaltung auch in Form eines (überschaubaren) Gartenfestes durchgeführt werden kann, hat es uns im Sommer, der Jahreszeit des Feuers, ermöglicht, mit der Einladung zur Gartenlesung eben dieses Feuer zu spüren, das Teil des Lebens ist - ein wunderbarer Nebeneffekt des Konzepts 

… und schließlich war das Wetter ideal. Sie hätten keinen makelloseren Tag für ein Gartenfest haben können.

Der lange Tisch bog sich unter der Vielfalt an Speisen (verbuchen wir die Sentenz unter Hyperbel), wie wir es, wenn nicht aus der Literatur, so doch aus zahlreichen Filmen kennen, vor allem solchen, die in der französischen Provence spielen (schon wieder Frankreich!).

Die Geselligkeit, der Garten, die Rückkehr in die Welt nach langer Zeit des Ruhens und Schaffens, welch eine Freude, 

was für ein Glück mit Menschen zusammen zu sein, die alle glücklich sind, und Hände drücken und Wangen berühren (das müssen wir auslassen, Anmerkung der Autorin) und andern Augen zulächeln (das wiederum ist möglich bis unentbehrlich!).

Die Literatur ist ein kleiner Teil des Lebens nur und die Lesung ein Ausschnitt, und dennoch gehören alle Teile zum großen Ganzen und können ein Beispiel liefern für den Wechsel der verschiedene Zustände, den wir durchlaufen wollen. Nehmen wir also das Bild des Gartenfestes und nutzen es, um punktuell immer wieder in den Fluss des Lebens zu steigen, der alles beinhaltet, von der Geburt bis zum Tod, und allen Geschehnissen zum Trotz nicht am Fließen gehindert werden will.

Gestaut gar.

Ein kleiner Nachtrag noch, weil auch der Sommer nicht Sommer bleiben will, sondern übergeht in den Herbst und schließlich in den Winter, sodass nicht jede Zeit den Duft von Lavendel verströmen kann: Ich, die ich aus Norddeutschland stamme, erinnere mich an ein Osterfest im Schnee. Im Schrebergarten meiner Schwester eröffneten wir die Grillsaison, dem Wetter zum Trotz, um zusammenzukommen an der frischen Luft.

Es ist köstlich, wenn man einen Vorwand dafür hat, im Freien zu essen.

Wir sind den Wandlungen unterworfen wie den Jahreszeiten, und jeder Abschnitt hat seine eigene Besonderheit, aber immer gilt das deutsche Sprichwort: Es gibt kein schlechtes Wetter, nur ungeeignete Kleidung.

„Ist das Leben …“, stammelte sie, „ist das Leben nicht …“ Aber wie das Leben war, konnte sie nicht erklären. Es machte nichts.

 

Zitate aus Katherine Mansfield: Das Gartenfest, 1922


 

Mittwoch, 17. Februar 2021

Von Filtern, Verschwörungstheorien, Corona-Tagebüchern und der nicht zu unterschätzenden Kraft der literarischen Phantasie

Weiterer Beitrag zu den „Nachrichten aus dem Inneren“

von Elisabeth Strasser


Knapp elf Monate ist es her, seit die Rubrik „Nachrichten aus dem Inneren“ auf diesem Blog begonnen wurde. Vor zehn Monaten schrieb ich den Beitrag „Wenn Stubenhocker trotzdem raus müssen“ (gerne nachzulesen auf diesem Blog).
Und wo stehen wir jetzt?
Kaum woanders als damals.
Geändert hat sich höchstens, dass wir uns an einiges bereits gewöhnt haben.
Von einem abschließenden Rückblick kann also keine Rede sein. 

Mittlerweile befinden wir uns im dritten (oder vierten? fünften?) Lockdown. Man kommt mit dem Zählen nicht mehr ganz nach, weil ein Lockdown in den anderen übergeht und nicht mehr so ganz klar ist, ob der eine überhaupt aufgehört hat oder es nur eine Lockerung zwischendurch gab, wie offenbar momentan.

Warum ich Abkürzungen nicht mag

Damals, im April 2020, standen wir gerade vor der MNS-Pflicht. Abkürzungen mag ich übrigens gar nicht, weil sie dazu verleiten, den Begriff, für den sie stehen, nicht mehr bewusst wahrzunehmen. Doch wir wissen inzwischen: MNS = Mund-Nasen-Schutz.

Im Laufe des letzten Jahres wurden fleißig Corona-Sicherheitskonzepte zusammengestellt, um Treffen mehrerer Leute über die Höchstzahl hinaus (die lag damals Mitte des Jahres bei zehn Personen) zu ermöglichen.
Im Arbeitsalltag bekam ich solche Konzepte zum korrekturdurchlesenden Prüfen. In einem davon zog sich – ohne dass es mir auf den ersten Blick aufgefallen wäre – ein Fehler durch: Es war von „Mund-Naschen-Schutz“ die Rede. Oh ja, eine Schutzmaske verhindert gewiss Naschen nebenbei. So leicht kann man sich keine Kekse und keine Schokolade in den Mund stecken mit Maske davor. Allein die Abkürzung hätte auf den Gedanken gar nicht gebracht.

Nun gibt es wieder neue Masken: FFP2. Da ich Abkürzungen nicht mag, musste ich natürlich nachforschen, was diese bedeutet. „Filtering Face Piece“, ein Stück/ein Teil im Gesicht also, das filtert. Na gut, eigentlich nur vor einem Teil des Gesichtes, die Augen sollten unbedeckt bleiben, die Hand vor den Augen oder den Boden vor dem nächsten Schritt sollte man schon sehen, obwohl Brillenträger in der Situation mit MNS ganz gut ziemliche Blindheit nachfühlen können, sobald die Brillengläser beim Eintritt in einen Raum oder einen Bus sofort beschlagen.

Gedankenfilter und Filterblasen

Es geht also um Filtern. Filtern unterstützt die Gabe der Unterscheidungskraft. Die Guten ins Töpfchen … Das Gute (in dem Fall halbwegs genügend Luft) durchzulassen und das Schlechte (in dem Fall mögliche durch die Luft schwirrende Viren) abzuhalten.

Gedankenfilter sind auch nicht schlecht. Alles, was auf uns an Meinungen und Sichtweisen und Irgendwoeinmalgehörthaben, in Postings, in wissenschaftlichen Dokumentationen, an Expertenaussagen und was sich sonst noch alles zu Wort meldet, einzudringen versucht, durch solche Filter nach möglichst vernünftigen Kriterien zu prüfen. Was ist blanker Unsinn? Was ist belegbar und nachvollziehbar? Wo spricht die pure Hysterie? Wo die Verharmlosung? Wem kann ich vertrauen?

Filter treten wiederum in noch einer weiteren Rolle auf, nämlich jener, der sogenannten „Filterblase“. Wer sich über alles, was sich in der Welt im Großen oder im Kleinen tut, vorwiegend auf Informationen aus seinen Social Media-Kanälen verlässt, stülpt einen Filter über sein Weltbild oder bekommt ihn übergestülpt. Es dringt nur mehr das durch ins Bewusstsein, was jene, die gleicher oder ähnlicher Meinung sind, an Offenbarungen in die Welt setzen. Die Welt sieht dann so aus, wie ich immer schon gedacht habe, dass sie aussieht, weil gefühlte 87 Prozent der Leute der gleichen Meinung sind. Die restlichen sind die Spinner und Querulanten, die es nicht lassen können, in ihren Kommentaren herumzumeckern. Der Shitstorm komme über sie!
Wir aber, meine FBF (= FaceBookFreunde/Follower) und ich, sind dagegen jene, die fürwahr informiert sind, die wissen wie der Hase läuft, was sich wirklich abspielt in der Welt. Wir haben von all dem Kenntnis, was die offiziellen Medien uns verschweigen!

Verschwörungstheorien treiben – selbstverständlich – in Krisenzeiten, in Zeiten der Unsicherheit, ihre Blüten. Vernünftige Leute erkennen diese auf den ersten Blick und glauben – selbstverständlich – daran ohnehin nicht. Oder doch? Lassen wir uns nicht doch manchmal leichter manipulieren als wir denken und haben womöglich eine allzu hohe Meinung von uns selber, indem wir meinen, darauf ganz sicher nicht herzeinzufallen? Noch dazu bei einer Sache, in der selbst die Wissenschaft noch ziemlich herumschwimmt in der trüben Brühe der vielen Unsicherheiten.

Faszinierende Literatur

Für all jene, die fiktive Literatur schreiben, Geschichten erfinden, geschöpft aus den Absurditäten der Realität, den Verrücktheiten der Menschen, deren Sorgen und Hoffnungen, deren Glauben an das Gute oder deren Angst vor Vereinnahmung, geschöpft aus den Ausgeburten der Vorstellungskraft … für all jene sind Verschwörungstheorien – wie sich das so trefflich ausdrücken lässt – ein gefundenes Fressen, das sich gut wiederkäuen lässt und mit Zugabe des eigenen Saftes in neuen Formen und neuen Facetten wiedergeben. Faszinierend und höchst unterhaltsam ist das allemal, für die Schreibenden genauso wie die Lesenden.

Eine der wunderbaren Möglichkeiten der Literatur ist schließlich, den Geschehnissen und Gegebenheiten der meist banalen Wirklichkeit einen Sinn zu geben. Nichts darf bei einer gut gemachten Geschichte „einfach so“ passieren, jede Kleinigkeit hat eine tiefere Bedeutung, die die Handlung vorantreibt und erstaunliche Zusammenhänge im Laufe der Geschichte offenbart, Rätsel aufgibt und am Ende möglichst verblüffend auflöst. Ganz anders eben als in der banalen Wirklichkeit.

Genau so funktionieren Verschwörungstheorien, wenn sie feststellen: Das kann alles nicht so einfach sein, kein Zufall, es steckt etwas dahinter. Es steckt jemand dahinter, der im Hintergrund die Fäden zieht, uns alle manipuliert, eines geheimnisvolles Zweckes wegen, der entweder alles zum Guten wenden will (so wie die wohlwollenden Feen in Märchen), die Menschen wie Spielfiguren zur eigenen Unterhaltung einsetzt (wie es in antiken Göttersagen erscheint) oder schlicht seine Macht ins Unendliche ausweiten will und ausleben (wovon moderne Verschwörungsmythen erzählen). Oft läuft es dabei auf eine Geheimgesellschaft hinaus. Das scheint besonders faszinierend, weil sich schön rätseln lässt: Wer mag dabei sein? Was führen die wirklich im Schilde und zu welchem Zweck? Wer steckt dahinter? Was wiederum zur Frage führt: Wem kann ich überhaupt noch vertrauen?

Goethe hat es bereits in „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ vorgeführt, in dem Fall mit einer Geheimgesellschaft, die das Geschick des Protagonisten wohlwollend lenkt. Die literarische Romantik greift das Motiv auf, das Geheimnis, das hinter den alltäglichen Dingen steht. Eines der faszinierendsten Bücher der letzten Jahrzehnte dazu ist Umberto Ecos „Das Foucaultsche Pendel“. Wie er es meist tut, „erfindet“ der hoch gebildete Schriftsteller ziemlich nichts, er braut aus uralten Verschwörungstheorien eine neue Geschichte zusammen. Er führt in dem Roman vor, was passieren kann, wenn jemand mit Verschwörungstheorien spielt und auf jemanden trifft, der diese Spielerei dann wirklich ernst nimmt. Verschwörungsgeschichten wurden seit Menschengedenken tradiert, mit Begeisterung weitererzählt und ausgeschmückt. Je suspekter umso besser.

Meinungsfreiheit und Meinungen frei von Fakten und Verantwortung

Heute haben wir Facebook und dergleichen an Plattformen, mittels derer jede und jeder theoretisch der ganzen Welt alles, was durch den Kopf schwirrt, mitteilen kann. Der Multiplikationsfaktor der Vervielfältigung bewegt sich gegen unendlich. Meinungen völlig frei von Fakten, mehr oder weniger gefährliches Halbwissen, schlichte Dummheit verbunden mit dem Ehrgeiz, überall seinen Senf dazuzugeben (um ein paar „Likes“ aus der meinungsinternen „Filterblase“ zu bekommen) – sinnbefreit, weil inhaltlich verkürzt, missverständlich, weil ohne Rücksicht auf grammatikalisch halbwegs korrekte Sätze – all das feiert fröhliche Urständ in Namen der Meinungsfreiheit.
Schön, dass wir diese haben. Feiern wir dieses kaum je dagewesene Ereignis in der Menschheitsgeschichte! Und gebrauchen wir die Filter des notwendigen „Was kann stimmen?“ Dass diese Filter der Vernunft, gefüttert und ausgekleidet von Bildung und Erfahrung, dem Massenauswurf an unüberlegten verbalen Schnellschüssen meist hinterher sind, scheint evident.
Trotzdem – um es zu wiederholen – seien wir dankbar für die Meinungsfreiheit, missbrauchen und verspielen wir sie nicht, sie kann schnell wieder dahin sein!

Gegenentwürfe?

Als Autorin, die – eigentlich – ihre Freude daran hat, möglichst phantastische Geschichten zu erzählen, in denen durchaus und gerne abenteuerliche Verschwörungstheorien eine Hauptrolle spielen können, stelle ich mir nun aber die Frage: Kann/soll/darf man das sinnvollerweise überhaupt heute noch, wenn die Realität dessen, was in „Social Media“ im Umlauf ist, alle Dichterphantasie bereits übersteigt (gewiss nicht im Erzählstil, nicht in der Dramaturgie oder Darstellung, aber bestimmt auf der Ebene des Inhalts) und längst überholt hat? Sollte man nicht eher dagegen arbeiten mit allen möglichen Mitteln? Gewiss besser nicht mit dem „moralischen Zeigefinger“, der gutgemeint ohnehin meist nichts nutzt, sondern weit eher mittels Lächerlichmachen, mittels der Parodie und der Satire. – Ein Roman, der diesem Ansinnen ungefähr entspricht, ist übrigens letztes Jahr erschienen: „Jokerman“ von Stefan Kutzenberger. Eine Gruppe „Eingeweihter“ vermeint in dieser Geschichte aus Song-Texten von Bob Dylan die Weltpolitik beeinflussende Botschaften herauszulesen. Eine so schön großartige, abstruse Idee ist das. Das Buch wurde bereits viel besprochen, man mag sich selbst ein Bild machen, inwieweit mehr oder weniger gelungen das Thema umgesetzt wurde.

Von Dokumentieren, Erzählen und der Gabe der Phantasie

Am Ende kommen wir doch wieder auf das schon so unleidliche Thema „Corona“ zurück:
Unmengen an Literatur, an Erzählbänden, womöglich auch Romanen zu dem Thema sind entstanden oder im Entstehen begriffen. Jede Menge Blogs und öffentliche Tagebücher.
Meist handelt es sich um schlichte Dokumentation. Dokumentation ist wichtig. In fünfzig oder hundert Jahren, wird es gewiss (falls die Menschheit und deren Kultur bis dahin überlebt hat) jede Menge Corona-Gedenkveranstaltungen und Gedenkausstellungen geben. Also dokumentieren wir fleißig weiter, heben wir längst verfallene Eintrittskarten von nicht zustande gekommenen Konzerten oder Fußballspielen auf. Und auch erstellte Sicherheitskonzepte mit und ohne Schreibfehler. Das wird alles einst ausgestellt und kann von den nachfolgenden Generationen bestaunt werden. Aber dokumentieren wir vor allem auch für uns selbst. Das Erinnerungsvermögen neigt zum Schwinden, sobald etwas hinter uns liegt.

Dokumentieren kann man mittendrin im Geschehen. Die Folgen werden sich erst später herausstellen, erst im Rückblick wird sich vieles erschließen lassen. Wirklich „erzählen“ kann man von etwas erst im Nachhinein, wenn aus dem Geschehen Geschichte geworden ist. Erzählen läuft immer auf etwas hinaus, auf ein Ende, einen Ausgang, auf Perspektiven, die sich eröffnen. Ob das nun ein „Happy End“ ist oder eine ultimative Katastrophe, lässt sich erst im Nachhinein zeigen. Derzeit können wir noch nicht erzählen von Corona, bloß dokumentieren aus der Mitte des Geschehens heraus.

Dennoch, wir haben die Gabe der Phantasie: Wir können uns von der aktuellen Situation anregen lassen, Geschichten zu erdenken, welche die momentane Situation anregt. Daraus können Utopien entstehen oder Dystopien. Es kann mit Geschichten Hoffnung gemacht und getröstet werden oder ein ultimativer Untergang imaginiert, um zu sagen: Ändern wir den Kurs, es ist noch nicht zu spät, vielleicht noch nicht, versuchen könnten wir es immerhin.

Beides ist berechtigt, beides notwendig.

Man unterschätze nur die Gabe der Phantasie und die Wirksamkeit der Literatur nicht.


Montag, 15. Februar 2021

Meine Coronareisen - Tag 3

 Anm.: Tagesreise nach Odessa, eine Art Tagebuch, von René Bauer, durchgeführt während der Corona-Reisebeschränkungen 2020 mit Google Street View auf einer Virtual-Reality-Brille zuhause in seinem Schlafzimmer. Es folgen noch weitere Reisen. 


Aufgewacht mitten auf der Straße wie üblich. Habe mich noch immer nicht ganz mit dieser plötzlichen Orientierungslosigkeit angefreundet. Was wenn ich aus diesem Reisemodus nie wieder aussteigen kann? Meine Sinne fühlen sich unterfordert, kein Geruch, keine Geräusche, keine Bewegung, alles ist zwar da, aber die Existenz ist beschränkt auf die visuelle Form. Nur selten habe ich den Eindruck, dass mich jemand direkt ansieht, jemand mich bemerkt, was mich eher verstört. Es erinnert mich an einen meiner Albträume, als ich erst einige Jahre alt war. Ich wachte auf im Bett meiner Eltern, die beide noch schliefen, neben mir der Schlafzimmerschrank mit seiner großen Spiegeltür, im Spiegel zu sehen das Bett, aber es saß eine fremde Frau darin, sie trug ein elegantes, leichtes, weißes Kleid. Sie wirkte nachdenklich, fast traurig. Als ich sie länger betrachtet hatte, drehte sie ihren Kopf plötzlich langsam in meine Richtung, blickte mich direkt aus dem Spiegel an. Ich schreckte auf aus meinem Schlaf, vor Furcht zitternd. Meine Mutter schnarchte friedlich.

Doch zurück ins Jetzt. Wieder bin ich in einer Stadt, kopfsteingepflasterte Alleen, ungewöhnlich breite Straßenbahnschienen. Auf einem Parkplatz vor mir ein altes Ostblockauto, in der Art "Trabant", nein, eher tschechisch oder russisch, habe sicherlich keine Zeitreise in die DDR gemacht. Neben mir ein verrosteter, gelber Omnibus. Hilflos sehe ich mich um, suche nach Hinweisen. 

Auf einem Werbeschild über mir kyrillische Schrift und eine Webadresse. Statt .com haben wir .ua und wenn mich nicht alles täuscht, ist das die Ukraine.  Es hat vor kurzem geregnet, es fehlen Pflastersteine, Laub liegt auf der Fahrbahn. Dort und da stehen halb abgerissene Häuser mit schönen, altmodischen Fassaden, aber sehr heruntergekommen. Dies dürfte eine ältere Stadt sein.

Lada? Eine Erinnerung an meine Jugend. So könnten die Autos heißen.

Hier parken die Fahrzeuge grundsätzlich auf dem Gehsteig, das passt zum traditionellen Rollenverhältnis von "Fußgängern" und "Autos" in den östlichen Ländern. Ist mein Eindruck. Eventuell rassistisch?

Direkt auf dem Gehsteig an der nächsten Kreuzung verkaufen trübsinnig dreinschauende Leute etwas Gemüse aus ein, zwei Sperrholzkisten, die vor ihnen am Boden stehen. Bei dem Händler vor mir dürfte es sich um einen Zwiebelspezialisten handeln, an der nächste Ecke sehe ich einen mit Kürbissen und Äpfeln. Ich frage, was ein Sack Zwiebel kostet, aber der Verkäufer blickt durch mich hindurch. Geld habe ich zwar keines, aber frech nehme ich mir eine weiße Zwiebel und beiße hinein. Geschmacklos.

Die erste Bank, die ich bemerke, ist die "Bank of Cyprus", am Bankomaten behebe ich Geld, die Scheine zieren bärtige Männer mit grimmigen Gesichtern. Dem Zwiebelhändler gebe ich einen 2er, vielleicht ist das viel zu viel, kenne ich doch den Wert dieser Währung nicht, geschweige denn, dass ich wüsste, wie sie heißt.

Einen Obi gibt's auch, habe aber derzeit keinen Bedarf an Baustoffen oder Gartenmöbeln.

Ich sehe mich um, suche das Stadtzentrum, doch ich kann keine Hochhäuser erspähen, keine Kirchen oder Kathedralen, also mache ich es, wie bei meinen letzten Reisen und setze ich mich auf ein Auto, aufs Dach, lasse mich fahren, immer den Straßenbahnschienen nach.

Das Wetter ist sehr wechselhaft, einmal scheint mir die Sonne ins Gesicht, eine Kreuzung weiter regnet es, Schnee schmilzt auf den Dächern. Was mir gefällt: Die Straßenbahn hat ein lustiges Aussehen, zugepackt mit Werbung, ganz bunt, aber auch sehr kurz und niedrig, nur ein einziger Wagon.

Das Auto braust mit mir davon, bringt mich an eine Haltestelle in einer Gegend, die von vielen Menschen frequentiert ist. Endlich habe ich einen Park gefunden. Als ich ihn betrete, ist Winter. In der Mitte des Parks ein Denkmal. Ein halbnackter, sehr robust aussehender Mann, mit enormen Muskeln und Rauschebart, sitzt auf einem Felsen, hinter ihm ein Engel auf einer Säule. Hübsch eigentlich. Ein christliches Motiv? Ein Heiliger? Vielleicht der Stadtgründer.

Ein paar Meter weiter entdecke ich eine zweite, größere Statue. Als ich um sie herumgehe, sehe ich, es ist ein Reiter, der gerade von seinem Pferd abgestiegen ist und sich hingesetzt hat.

Wahrscheinlich war er müde.

Endlich weiß ich, wo ich mich befinde. In Odessa. Ein Tourist hält einen Plan in der Hand, darauf prangt der Name. Auf gut Glück betrete ich ein Haus, im Gang steht eine Tür offen, ich klopfe geräuschlos, gehe hindurch. Anscheinend will jemand diese Wohnung verkaufen, sie ist komplett leer, Baumaterialien liegen am Estrich, der Boden ist noch nicht verlegt. An der Wand ein Plan der Räume. Vom Balkon schaue ich auf die Straße unter mir, doch ein riesiger Baum verstellt mir die Sicht, no room with a view.

Wieder draußen winke ich einem Gemüsehändler mit ein paar Geldscheinen, frage ihn, ob er mein Guide sein will. Wortlos nimmt er mich auf seine Schultern. Ich nenne ihn Juri.

Juri trägt mich in ein Geschäft mit pompösen, protzigen Betten, wallend-wolkiger Bettwäsche und luxuriösen Morgenmänteln. Alles ist zusammengepfercht auf engstem Raum, uns bleibt gerade so viel Platz, dass wir uns zwischen den prunkvollen Schlafstätten hindurchschlängeln können. Es muss Weihnachten sein, in die wenigen freien Ecken zwängen sich riesige, vollbehangene Christbäume, dadurch ist alles noch enger. Ich zähle mal durch. 9 oder 10 Bäume. An einer Wand ein Gemälde, prächtiger Rahmen, kitschiges Motiv. Eine mediterrane Terasse mit Blick aufs sonnenbeschienene Meer, draußen Segelboote, rundum üppige Sträucher mit knallbunten, riesigen Blüten, in der Mitte ein einsamer Tisch, darauf eine Blumenvase und davor ein einsamer Sessel. Niemand sitzt auf dem Sessel, niemand schaut hinaus aufs Meer. Eigentlich eine einsame, traurige Szene.

Ich kaufe mir einen Morgenmantel und treibe meinen Guide wie ein Pferd mit leichten Fußbewegungen und Stupsern wieder hinaus auf die Straße. Er will mir ein Lokal zeigen, es ist leer wie üblich. Am Eingang ein altes, abgenutztes Pianino.  Freudlos klimpere ich eine kurze Melodie, die Tasten schweigen, es bleibt still. Es klingt nicht. 

Im Nebenraum finde ich ein Regal voller Weinflaschen, kein Kellner zu sehen. Ich ziehe mir eine Flasche heraus, entkorke sie und leere sie in einem Zug. Bottoms up! Durch die Geschmacklosigkeit bleibt mein Zechen eher symbolisch. 

Das Beisl ist sehr urig, schöner Holzboden, überhaupt viel Holz, hohe Decken, ein Kronleuchter aus Messing, lederbezogene Sitzbänke, rot tapezierte Wände. Aber ohne Bedienung und ohne Gäste ein langweiliger Ort.

Gleich in der Nähe entziffere ich ein Schild. Tapisserie. Drinnen sitzen sogar Gäste an einem Tisch, essen Kuchen und trinken Kaffee. Sehr unüblich für einen Wandteppich. Aber es ist das erste Mal, dass ein Ober mich offensichtlich erkennt, denn er sieht mich an, wartet auf eine Bestellung, aber ich mag nichts Süßes. Oder obwohl, wenn ich in die Vitrine schaue, alles ist so gut gemacht, so hübsch, sind so kleine Törtchen, wie echte Äpfel, irgendwas mit Schokolade und dann, sehe ich komische Backwerke mit Smilys. Traurige und böse Smilys. Nichts für mich.

Weil es wieder so ist, dass ich nicht weiterkomme, kyrillisch nicht lesen kann, bringt mir eine Karte auch nichts. Also komm her Juri, lass mich wieder aufsteigen, schlepp mich davon, zeig mir deine Stadt!

Er schleppt mich wie so oft auf meinen bisherigen Reisen sofort in ein Einkaufszentrum, fährt uns in einem Emporium in einem Glaslift in den 4. Stock. Davon wird mir übel, bekomme Höhenangst. Er hält mich über das Geländer in der Luft, so ein Aas! Muss ihn schimpfen. Ohne zu murren nimmt er es hin.

In einem Pelzgeschäft, tausche ich den Morgenmantel gegen einen Pelzmantel, es ist ein Frauenmantel, aber was soll's, ich mag so modische Dinge. Im Laden nebenan, gibt es Wasserpfeifen. Schön! Kauf ich eine. Verzweifelt frag' ich meinen Juri von der Schulter herab nach Sehenswürdigkeiten, zuerst auf Deutsch, auf Englisch, auf Spanisch und Schwedisch, leider dürfte ich einen Guide getroffen haben, der keine dieser Sprachen beherrscht. Kurzerhand bringt er mich in ein Friseurgeschäft. Beim nächsten Mal sollte ich vielleicht mein Handy mitnehmen, damit ich wenigstens irgendetwas googlen könnte oder einen Übersetzerdienst verwenden ...

Nachdem ich mir meine Haarpracht nicht verhunzen lassen will, schleppt er mich vom Friseur weg, hinaus in die Stadt, stellt uns auf einen kleinen Platz, Parkbänke, Bäume, nett. Ich denk, OK, Sehenswürdigkeiten, aber nein, er trifft sich mit seiner Freundin, oder einer Bekannten. Und da stehen wir nun beieinander, sie ignorieren mich völlig, sie trinkt Cola, oder Coffee-to-go und unterhalten sich.

Langsam erwäge ich wirklich, von den Schultern des Guides herunterzusteigen und mich wieder auf ein normales Autodach zu setzen. Ist doch viel bequemer.

Endlich! Habe einen Park gefunden, der den Namen auch verdient,  ziemlich groß, voller Leute, es ist Nacht. Hier kann man gut spazieren, Ausflugbusse warten auf die Rückkehr ihrer Ausflügler, dort eine Skulptur eines Mannes, wie immer hockt er auf einer Bank und schaut den anderen zu, wie sie geschäftig umherstehen. Ein paar Meter weiter, noch eine Skulptur, diesmal ein leerer Sessel. Scheint ein gemütliches Volk zu sein, diese Odessaner. Da fällt mir ein, das einzige, was ich von Odessa kenne, ist die berühmte Szene aus dem Film Panzerkreuzer Potemkin! Dieser Kinderwagen, der die Stiege hinab poltert, ich könnte die Stiege suchen ... Dazu muss ich aber erst mal das Meer finden.

Naja. War nicht so schwierig. Nach fünf Minuten Meer gefunden, Stufen gefunden, die potemkinschen, aber ich hätt's mir malerischer vorgestellt. Unten am Treppenende liegt einfach ein Militärhafen, fertig. Als ich die Treppe wieder hochgehe, kommt mir ein Kinderwagen entgegen und rumpelt hinunter. Komisch. Die Geschichte wiederholt sich. 

Auf gut Glück laufe ich los, in eine zufällige Richtung. Ich laufe durch einen Friedhof, dann zu einem Strand, einem hellen Sandstrand wo Leute baden, das Meer ist grün, dann Felsen, ein Ankermuseum, viele alte Schiffsanker, wieder ein Strand, angrenzend das Hotel Poseidon. Schönes Doppelbettzimmer. Hier werd ich übernachten.

Witzig! In der Küche steht eine Couch, da kann man sich vor den Herd hinsetzen oder vor die Abwasch und dem Abwäscher bei der Arbeit anfeuern . Ein Jacuuzi wartet auf mich auf der überdachten Terasse, ein wundervoller Ausblick aufs Meer lässt mich verweilen. Kurzerhand lege ich mich in den Whirlpool und schlafe ein. Unruhige Träume begleiten mich, in denen ich auf den Schultern einer sitzenden Skulptur von Sergei Eisenstein einen Kinderwagen ins Meer plumpsen höre. 

Ficken mit dem Klassenfeind. Walter Josef Kohl

Foto: Dieter Decker Rezension von Dominika Meindl  „ Bei all der sozialen Aufsteigerei, beim sich Emporarbeiten von ganz unten, vom dörfl...