Anm.: Tagesreise nach Odessa, eine Art Tagebuch, von René Bauer, durchgeführt während der Corona-Reisebeschränkungen 2020 mit Google Street View auf einer Virtual-Reality-Brille zuhause in seinem Schlafzimmer. Es folgen noch weitere Reisen.
Doch zurück ins Jetzt. Wieder bin ich in einer Stadt, kopfsteingepflasterte Alleen, ungewöhnlich breite Straßenbahnschienen. Auf einem Parkplatz vor mir ein altes Ostblockauto, in der Art "Trabant", nein, eher tschechisch oder russisch, habe sicherlich keine Zeitreise in die DDR gemacht. Neben mir ein verrosteter, gelber Omnibus. Hilflos sehe ich mich um, suche nach Hinweisen.
Auf einem Werbeschild über mir kyrillische Schrift und eine Webadresse. Statt .com haben wir .ua und wenn mich nicht alles täuscht, ist das die Ukraine. Es hat vor kurzem geregnet, es fehlen Pflastersteine, Laub liegt auf der Fahrbahn. Dort und da stehen halb abgerissene Häuser mit schönen, altmodischen Fassaden, aber sehr heruntergekommen. Dies dürfte eine ältere Stadt sein.
Lada? Eine Erinnerung an meine Jugend. So könnten die Autos heißen.
Hier parken die Fahrzeuge grundsätzlich auf dem Gehsteig, das passt zum traditionellen Rollenverhältnis von "Fußgängern" und "Autos" in den östlichen Ländern. Ist mein Eindruck. Eventuell rassistisch?
Direkt auf dem Gehsteig an der nächsten Kreuzung verkaufen trübsinnig dreinschauende Leute etwas Gemüse aus ein, zwei Sperrholzkisten, die vor ihnen am Boden stehen. Bei dem Händler vor mir dürfte es sich um einen Zwiebelspezialisten handeln, an der nächste Ecke sehe ich einen mit Kürbissen und Äpfeln. Ich frage, was ein Sack Zwiebel kostet, aber der Verkäufer blickt durch mich hindurch. Geld habe ich zwar keines, aber frech nehme ich mir eine weiße Zwiebel und beiße hinein. Geschmacklos.
Die erste Bank, die ich bemerke, ist die "Bank of Cyprus", am Bankomaten behebe ich Geld, die Scheine zieren bärtige Männer mit grimmigen Gesichtern. Dem Zwiebelhändler gebe ich einen 2er, vielleicht ist das viel zu viel, kenne ich doch den Wert dieser Währung nicht, geschweige denn, dass ich wüsste, wie sie heißt.
Einen Obi gibt's auch, habe aber derzeit keinen Bedarf an Baustoffen oder Gartenmöbeln.
Ich sehe mich um, suche das Stadtzentrum, doch ich kann keine Hochhäuser erspähen, keine Kirchen oder Kathedralen, also mache ich es, wie bei meinen letzten Reisen und setze ich mich auf ein Auto, aufs Dach, lasse mich fahren, immer den Straßenbahnschienen nach.
Das Wetter ist sehr wechselhaft, einmal scheint mir die Sonne ins Gesicht, eine Kreuzung weiter regnet es, Schnee schmilzt auf den Dächern. Was mir gefällt: Die Straßenbahn hat ein lustiges Aussehen, zugepackt mit Werbung, ganz bunt, aber auch sehr kurz und niedrig, nur ein einziger Wagon.
Das Auto braust mit mir davon, bringt mich an eine Haltestelle in einer Gegend, die von vielen Menschen frequentiert ist. Endlich habe ich einen Park gefunden. Als ich ihn betrete, ist Winter. In der Mitte des Parks ein Denkmal. Ein halbnackter, sehr robust aussehender Mann, mit enormen Muskeln und Rauschebart, sitzt auf einem Felsen, hinter ihm ein Engel auf einer Säule. Hübsch eigentlich. Ein christliches Motiv? Ein Heiliger? Vielleicht der Stadtgründer.
Ein paar Meter weiter entdecke ich eine zweite, größere Statue. Als ich um sie herumgehe, sehe ich, es ist ein Reiter, der gerade von seinem Pferd abgestiegen ist und sich hingesetzt hat.
Wahrscheinlich war er müde.
Endlich weiß ich, wo ich mich befinde. In Odessa. Ein Tourist hält einen Plan in der Hand, darauf prangt der Name. Auf gut Glück betrete ich ein Haus, im Gang steht eine Tür offen, ich klopfe geräuschlos, gehe hindurch. Anscheinend will jemand diese Wohnung verkaufen, sie ist komplett leer, Baumaterialien liegen am Estrich, der Boden ist noch nicht verlegt. An der Wand ein Plan der Räume. Vom Balkon schaue ich auf die Straße unter mir, doch ein riesiger Baum verstellt mir die Sicht, no room with a view.
Wieder draußen winke ich einem Gemüsehändler mit ein paar Geldscheinen, frage ihn, ob er mein Guide sein will. Wortlos nimmt er mich auf seine Schultern. Ich nenne ihn Juri.
Juri trägt mich in ein Geschäft mit pompösen, protzigen Betten, wallend-wolkiger Bettwäsche und luxuriösen Morgenmänteln. Alles ist zusammengepfercht auf engstem Raum, uns bleibt gerade so viel Platz, dass wir uns zwischen den prunkvollen Schlafstätten hindurchschlängeln können. Es muss Weihnachten sein, in die wenigen freien Ecken zwängen sich riesige, vollbehangene Christbäume, dadurch ist alles noch enger. Ich zähle mal durch. 9 oder 10 Bäume. An einer Wand ein Gemälde, prächtiger Rahmen, kitschiges Motiv. Eine mediterrane Terasse mit Blick aufs sonnenbeschienene Meer, draußen Segelboote, rundum üppige Sträucher mit knallbunten, riesigen Blüten, in der Mitte ein einsamer Tisch, darauf eine Blumenvase und davor ein einsamer Sessel. Niemand sitzt auf dem Sessel, niemand schaut hinaus aufs Meer. Eigentlich eine einsame, traurige Szene.
Ich kaufe mir einen Morgenmantel und treibe meinen Guide wie ein Pferd mit leichten Fußbewegungen und Stupsern wieder hinaus auf die Straße. Er will mir ein Lokal zeigen, es ist leer wie üblich. Am Eingang ein altes, abgenutztes Pianino. Freudlos klimpere ich eine kurze Melodie, die Tasten schweigen, es bleibt still. Es klingt nicht.
Im Nebenraum finde ich ein Regal voller Weinflaschen, kein Kellner zu sehen. Ich ziehe mir eine Flasche heraus, entkorke sie und leere sie in einem Zug. Bottoms up! Durch die Geschmacklosigkeit bleibt mein Zechen eher symbolisch.
Das Beisl ist sehr urig, schöner Holzboden, überhaupt viel Holz, hohe Decken, ein Kronleuchter aus Messing, lederbezogene Sitzbänke, rot tapezierte Wände. Aber ohne Bedienung und ohne Gäste ein langweiliger Ort.
Gleich in der Nähe entziffere ich ein Schild. Tapisserie. Drinnen sitzen sogar Gäste an einem Tisch, essen Kuchen und trinken Kaffee. Sehr unüblich für einen Wandteppich. Aber es ist das erste Mal, dass ein Ober mich offensichtlich erkennt, denn er sieht mich an, wartet auf eine Bestellung, aber ich mag nichts Süßes. Oder obwohl, wenn ich in die Vitrine schaue, alles ist so gut gemacht, so hübsch, sind so kleine Törtchen, wie echte Äpfel, irgendwas mit Schokolade und dann, sehe ich komische Backwerke mit Smilys. Traurige und böse Smilys. Nichts für mich.
Weil es wieder so ist, dass ich nicht weiterkomme, kyrillisch nicht lesen kann, bringt mir eine Karte auch nichts. Also komm her Juri, lass mich wieder aufsteigen, schlepp mich davon, zeig mir deine Stadt!
Er schleppt mich wie so oft auf meinen bisherigen Reisen sofort in ein Einkaufszentrum, fährt uns in einem Emporium in einem Glaslift in den 4. Stock. Davon wird mir übel, bekomme Höhenangst. Er hält mich über das Geländer in der Luft, so ein Aas! Muss ihn schimpfen. Ohne zu murren nimmt er es hin.
In einem Pelzgeschäft, tausche ich den Morgenmantel gegen einen Pelzmantel, es ist ein Frauenmantel, aber was soll's, ich mag so modische Dinge. Im Laden nebenan, gibt es Wasserpfeifen. Schön! Kauf ich eine. Verzweifelt frag' ich meinen Juri von der Schulter herab nach Sehenswürdigkeiten, zuerst auf Deutsch, auf Englisch, auf Spanisch und Schwedisch, leider dürfte ich einen Guide getroffen haben, der keine dieser Sprachen beherrscht. Kurzerhand bringt er mich in ein Friseurgeschäft. Beim nächsten Mal sollte ich vielleicht mein Handy mitnehmen, damit ich wenigstens irgendetwas googlen könnte oder einen Übersetzerdienst verwenden ...
Nachdem ich mir meine Haarpracht nicht verhunzen lassen will, schleppt er mich vom Friseur weg, hinaus in die Stadt, stellt uns auf einen kleinen Platz, Parkbänke, Bäume, nett. Ich denk, OK, Sehenswürdigkeiten, aber nein, er trifft sich mit seiner Freundin, oder einer Bekannten. Und da stehen wir nun beieinander, sie ignorieren mich völlig, sie trinkt Cola, oder Coffee-to-go und unterhalten sich.
Langsam erwäge ich wirklich, von den Schultern des Guides herunterzusteigen und mich wieder auf ein normales Autodach zu setzen. Ist doch viel bequemer.
Endlich! Habe einen Park gefunden, der den Namen auch verdient, ziemlich groß, voller Leute, es ist Nacht. Hier kann man gut spazieren, Ausflugbusse warten auf die Rückkehr ihrer Ausflügler, dort eine Skulptur eines Mannes, wie immer hockt er auf einer Bank und schaut den anderen zu, wie sie geschäftig umherstehen. Ein paar Meter weiter, noch eine Skulptur, diesmal ein leerer Sessel. Scheint ein gemütliches Volk zu sein, diese Odessaner. Da fällt mir ein, das einzige, was ich von Odessa kenne, ist die berühmte Szene aus dem Film Panzerkreuzer Potemkin! Dieser Kinderwagen, der die Stiege hinab poltert, ich könnte die Stiege suchen ... Dazu muss ich aber erst mal das Meer finden.
Naja. War nicht so schwierig. Nach fünf Minuten Meer gefunden, Stufen gefunden, die potemkinschen, aber ich hätt's mir malerischer vorgestellt. Unten am Treppenende liegt einfach ein Militärhafen, fertig. Als ich die Treppe wieder hochgehe, kommt mir ein Kinderwagen entgegen und rumpelt hinunter. Komisch. Die Geschichte wiederholt sich.
Auf gut Glück laufe ich los, in eine zufällige Richtung. Ich laufe durch einen Friedhof, dann zu einem Strand, einem hellen Sandstrand wo Leute baden, das Meer ist grün, dann Felsen, ein Ankermuseum, viele alte Schiffsanker, wieder ein Strand, angrenzend das Hotel Poseidon. Schönes Doppelbettzimmer. Hier werd ich übernachten.
Witzig! In der Küche steht eine Couch, da kann man sich vor den Herd hinsetzen oder vor die Abwasch und dem Abwäscher bei der Arbeit anfeuern . Ein Jacuuzi wartet auf mich auf der überdachten Terasse, ein wundervoller Ausblick aufs Meer lässt mich verweilen. Kurzerhand lege ich mich in den Whirlpool und schlafe ein. Unruhige Träume begleiten mich, in denen ich auf den Schultern einer sitzenden Skulptur von Sergei Eisenstein einen Kinderwagen ins Meer plumpsen höre.
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