Donnerstag, 19. Dezember 2024

"Mein Vater, ein hochgradig beknackter Typ": Katharina Rieses "Die gute Wurst aus Holz"

Rezension von Dominika Meindl  

Vielleicht trügt die Erinnerung, aber gab es nicht einen Preis für den bemerkenswertesten literarischen Titel? Wenn ja, hätte "Die gute Wurst aus Holz" im Jahr 2023 unbedingt in die Top 10 gehört. Aber das nur als Versuch eines leichtfüßigen Einstiegs in die Rezension eines Buches (Memoir? Reisebericht? Kurzprosa? Monolog?), in dem das Leichte und das Schwere in poetische Balance gebracht wurden. Katharina Riese, 1946 in Linz auf die Welt gekommen, beschreibt darin ihre Annäherung an ihren Vater: Max Ernst Peukert, sudetendeutscher Erfinder und Lebensmittelchemiker, 1947 mit bloß 42 Jahren verstorben.

Der unbekannte Vater ist ein mächtiges Motiv in der Literatur - besonders, wenn er aktiver Teil des NS-Regimes war. Nicht von ungefähr wird Martin Pollack gleich zu Beginn zitiert, der von der tiefen Sprachlosigkeit spricht, die in der Nachkriegszeit als Fundament des Wiederaufbaus gewaltsam errichtet wurde. Peukert forschte im Dienst der NS-Kriegswirtschaft an etwas, das seltsam aktuell geworden ist: pflanzlichem Wurstersatz, der "Lenzinger Myzelwurst" oder "Sogspäwurst". Bei den Nazis natürlich nicht aus ethischen Erwägungen (warum essen wir überhaupt noch Tiere!?), sondern als Hilfe gegen den selbstverschuldeten Hunger in Kriegszeiten ("Schließung der Eiweißlücke"). 

Gleich nach dem Fall des Eisernen Vorhangs begibt sich Riese zu einer Reise ins Riesengebirge, um den Geburtsort des Vaters zu besuchen - um sofort in dichtem Nebel verloren zu gehen, wie ein Vorzeichen für das kommende Unterfangen. Im Folgenden umkreist sie den Unbekannten in kurzen "Satellitentexten", berichtet von der Schreibhemmung, Recherchefahrten in Oberösterreich ("in situ", von "Schauplatz zu Schauplatz") und der eigenen, nicht ganz linearen Familiengeschichte. "Jedes Kind hat seine eigenen Eltern. Es sind andere als die seiner Geschwister. Und: Die wenigsten Kinder wissen viel über ihre Eltern, bevor sie Eltern geworden sind". Beim heimlichen Schnüren im Haus findet das Kind ein Foto vom Vater und erschrickt wegen seines Barts. "Ich bin die Tochter von Adolf Hitler!" 

Rieses Sprache ist klar und höchst einnehmend, immer wieder voll treffender Ironie. "Den Flüssen geht es so wie den Frauen bei der Heirat. Nach der Vereinigung verlieren sie ihren Namen." Oder: "Intimiät und Desaster. Alles, was ist, muss nicht sein." Die skurrilsten Kapitel schreibt die Realität, oder besser - das Archiv. Da findet sich etwa in Roman Sandgrubers Monografie über Lenzing das "Biosyn-Gedicht" über die "großen Zeiten", in denen müsse man den "Magen auf die gute Wurst aus Holz" vorbereiten. 

"Was geht uns das an, welchen Mist unsere Eltern verbrochen haben?" sagt Rieses Halbschwester einmal über die "Privatkatastrophe" der Eltern. Sie hat recht, aber zum Glück hat sich Katharina eben doch für den "Mist" interessiert, als einzige. Was sie über andere schreibt, gilt unbedingt auch für ihr eigenes Buch: "Was mich, sagt die Autorin, wie ein von der Sense erfasstes Grasbüschel umsäbelt, ist die Lektüre von 'Kindern', die über ihr Heranwachsen mit gestörten Eltern plausibel und verständlich schreiben können." 

Eine großartige Spurensuche, ein "Gewebe zwischen Familien- und Zeitgeschichte", in fantastischen Kurztexten und stilistischer Vielfalt. Man mag dauernd unterstreichen: "Der Zweite Weltkrieg war, die Fernsehprogramme beweisen es, das aufregendste aller Männerspiele." 

Foto: privat

Katharina Riese, Die gute Wurst aus Holz. Dr. Peukert. Erfinder. Vater. Klever Verlag. 144 S. Hardcover. 22 €

Ein Lebenslauf Rieses ist auf der Website der GAV zu finden: www.gav.at/pages/mitglieder.php?ID=457

Dienstag, 17. Dezember 2024

Vom Tod eines Sprachkünstlers

 Nachruf und Porträt von Herbert Christian Stöger


Urs Allemann ist tot. Ein Sprachkünstler, dessen Vortrag immer ein Erlebnis war. War er ein Formalist und vielleicht unfreiwilliger Provokateur? Auf jeden Fall arbeitete er sich an der Vielfälligkeit der Sprache ab. Der Schweizer Autor gewann 1991 mit seinem Text „Babyficker" den Preis des Landes Kärnten, damals noch als Ingeborg Bachmannpreis und nunmehr unter dem Titel "Tage der deutschsprachigen Literatur" bekannten Lesewettbewerbes. Allemann geborgen 1948 in Schlieren bei Zürich. Er studierte Germanistik, Anglistik, Soziologie und Sozialpsychologie. Zwischen 1986 und 2004 war er als Literaturredakteur der Basler Zeitung tätig.

Für mich war es wie eine Initialzündung, den Autor bei seinem Auftritt in Klagenfurt zu sehen, wie man mit Sprache umgehen kann. Damit warf er auch die Frage auf, was darf Literatur und wie darf sie es. Meiner Kenntnis nach gab es selten so eine große Aufregung um den zweiten Preis in Klagenfurt. Die FPÖ vermochte die Preisübergabe nicht zu verhindern. Er wandte sich später mehr der Lyrik zu, wobei sein erstes veröffentlichtes Buch mit dem Titel „Fuzzhase" (bei Ammann, Zürich 1988 erscheinen) auch ein Gedichtband war. Noch vor ein paar Jahren war er in der Künstlervereinigung Maerz in Linz zu Gast, wo ich ihn beim Gespräch in der Alten Welt kennenlernen durfte. Abgesehen von seinem preisgekrönten Text in Klagenfurt ließ sich seine Kunst in der Prosa in dem Erzählband „Öz & Kco" (Sieben fernmündliche Delirien. Ammann, Zürich 1990) und „Der alte Mann und die Bank" (Ein Fünfmontagsgequassel. Deuticke, Wien 1993) nachlesen. 2012 erhielt er den Heimrath-Bäcker-Preis in Linz zuerkannt. Sein letztes Buch „Carruthers-Variationen" erschien im Klever Verlag, Wien. Noch bevor er seinen letzten Preis entgegennehmen konnte, verstarb er 75-jährig. Ulf Stolterfoht, alleiniger Juror, schrieb in seiner Begründung zum Erich-Fried-Preis, „daß sich in Allemanns Vortrag Experiment und Formbewußtsein treffen würden."


Mittwoch, 4. Dezember 2024

Apfent 9.0 – Keks, Drugs N' Rock N' Roll!

Die große Weihnachts-Lesebühne der GAV OÖ 

Foto: der famose Dieter Decker!


11. Dezember, Mittwoch, 19.30 Uhr, Kulturverein Strandgut (Ottensheimer Straße, 4040 Linz). Eintritt frei!

Mit Walter Kohl, Dominika Meindl, René Monet und Kurt Mitterndorfer
 

Alle Jahre wieder ringt das Weihnachts-Ressort in Oberösterreichs größter Literaturvereinigung: um Stille, Frieden und innere Einkehr. Die Früchte dieses Ringens präsentiert das Quartett bei der traditionellen großen Jahresabschluss-Lesebühne. Dabei ist der Gabentisch bei der Tombola des Grauens stets überreich gedeckt. Ja, richtig gelesen: Das ist die einzige Lesereihe, bei der es GESCHENKE gibt!

Die gräuliche Tombola kennen Feinspitze von der Mutterlesebühne "Original Linzer Worte" und von daher stammt auch das Multitalent René Monet, seines Zeichens Chefingenieur des heimischen Literaturbetriebs. Er steht für besinnungslose Weihnachtslieder und abgründig-anrührende Erzählungen. Walter Kohl ist voll auf den True-Crime-Hype aufgesprungen, er wird weihnachtliche Kriminal-Gstanzln vortragen, dazu gibt es einen Podcast über schauerliche Xmas-Verbrechen. Und Karl May darf nicht fehlen: Dessen berühmtes Weihnachtsgedicht, vom Meister selbst als Lied angelegt, interpretiert Kohl als Folksong, als ambient electro dance song, als Death-Metal-Nummer und vieles mehr. Der liebe Alt-Vorsitzende Kurt Mitterndorfer setzt der gedankenlosen Fröhlichkeit die nötige Mahnung zur Umkehr entgegen, indem er es in seinen kurzen Texten an der notwendigen gesellschaftskritischen Strenge nicht mangeln lassen wird. Im Gegensatz zur "Präsidentin" Dominika Meindl, die sich alljährlich vom Christkindi eine gute Sterbstunde für die Despoten der Welt wünscht und Antimaterie zum Fest der Liebe schenkt. Ihre beste Rolle ist noch die ersehnte Bescherung am ersehnten Ende: Tombola-Geschenke für das Publikum! Literarisches Schrottwichteln!

Das Quartett performt im Ringerl, ob allein oder gemeinsam, in allen Formen und Farben. Das ist überraschend oder berührend, satirisch oder literarisch gehaltvoll – in Summe aber wahrhaft unterhaltsam.

Dienstag, 3. Dezember 2024

Herbstlese. Ein Fest für die Literatur, ein neues Format an einem neuen Veranstaltungsort

Nachbericht von Elisabeth Strasser

Lasst uns Literatur, Dichten und Denken zum Jahresausklang feiern!“, stand als Untertitel auf der Einladung zu diesem von mir erfundenen Format, bei dem am 26. November 2024 fünf Autor:innen eingeladen waren, um im zur Neige gehenden Jahr über Gelungenes, über Erfolge, Freuden und Neugeplantes im Zusammenhang mit ihrem literarischen Schaffen zu berichten. Dies in Form von Leseauszügen und im Rahmen kurzer Interviews mit Fragen zum vorgelesen Text, zum Werk und zur Person.

Und das an einem erstmals für eine Veranstaltung im Rahmen der GAV OÖ genutzten Lokal, dem Haus Willy*Fred, zentral in Linz am Graben Nr. 3 gelegen. Was es mit diesem Haus und seinem alternativen Wohnprojekt auf sich hat, das stellte Aileen Derieg vom Willy*Fred am Beginn des Abends vor.

Näheres dazu hier: www.willy-fred.org

Auf die Bühne – genauer gesagt, auf das schöne Bühnensofa – konnte ich an diesem Abend bitten: Corinna Antelmann, Johann Kleemayr, Dominika Meindl, Richard Wall und Klaus Wieser.

Texte vorlesen, über die eigenen Schreibintentionen sprechen, sich als Autor:in dem Publikum vorstellen, war dabei das eine; das andere – und ein nicht unwesentlicher Bestandteil des Abends – bestand darin, Gespräch und Austausch zwischen Publikum und Auftretenden zu ermöglichen, anlässlich einer Pause im Programm und beim Ausklang mit dem einen oder anderen Getränk.

Eine Vielfalt an Beiträgen ließ sich hören – von Ernsthaft-Nachdenklichem bis zu Witzig-Lustigem. Die Autor:innen boten Einblick in ihr Schreiben, was ihnen dabei Anliegen ist, wie sie es mit Performance halten, ob sie damit eine Chance für gesellschaftspolitischen Einfluss sehen, etwas tatsächlich „bewegen“ können, und wie unterschiedlich sie z.B. an Erzähltexten oder an Lyrik arbeiten. Ein Aspekt beschäftigte sich etwa mit der Frage, warum Lyrik im deutschsprachigen Raum nicht jenen Stellenwert besitzt, den sie verdient, während dies anderswo anders ist.

Wie notwendig – letztlich lebensnotwendig – Literatur ist, wurde bei diesem Anlass (wieder einmal) klar.

Das hat uns an dem Abend die Maus Fredermink aus Dominika Meindls ungeheuer witzig aktualisierter Fabel „Von Mäusen und Menschen“ klargemacht. Die Maus, die Sonnenstrahlen sammelt, was ihren Mitmäusen – besonders Karl, der Kanzlermaus – als ein unsinniges Vorhaben erscheint, sie alle aber damit den Winter überstehen lässt.


Dem schließt sich der fliegende Teppich, der mittels Geschichten hinaufträgt, um neue Perspektiven zu offenbaren, aus Corinna Antelmanns Prolog ihres in Arbeit befindlichen Romans an. Damit verbunden war die Frage, wieweit junge Leute der „digital-native-Generation“ sich mit Geschichten erreichen lassen. Letztlich ging es um die am Ende des Leseauszugs gestellte Frage: „Was bedeutet ‚Mut‘ für mich?“ in einer eigentlich freien Gesellschaft, wo alle ihren Senf zu allem dazugeben können, es zwar keine Zensur gibt, aber es gibt Shitstorms; einerseits sprachliche Brutalität, andererseits Überempfindlichkeit.

 

Geschichten, die aus der eigenen biografischen Erfahrung geschöpft sind, erzählten Johann Kleemayr und Klaus Wieser. Johann Kleemayr las Auszüge aus einem Romanprojekt mit dem Titel „Der Tag, an dem Hans Schriftsteller wurde / und der Tag, an dem Hans kein Schriftsteller wurde, mit einem Roman im Roman“, in dem ein junger Mann namens Roman die Hauptrolle spielt. – Dabei ging es auch um die Frage nach „autobiografischem“ und „autofiktionalem“ Schreiben – also was wirklich 1:1 eigene Geschichte ist, und was literarisch verdichtet. – All das mag alle anregen, die eigene Biografie zu erzählen oder zumindest für sich zu überdenken, zu reflektieren.

Klaus Wieser setzt seine „Gruber-Geschichten“ fort, nachdem neu sein Band „Onkel Emmerich – Gruber Geschichten“, erschienen ist. Im vorgelesenen Auszug ging es neben Gruber um Herbert K. und die witzigen Abenteuer der beiden. Am Beispiel einer lyrischen Zugabe schilderte Klaus Wieser seine unterschiedlichen Arbeitsweisen bei Lyrik und Prosa, und was für ihn als Inspiration dient.



Von alledem, worum es im Leben geht, singen die Barden Lieder, die das ausdrücken und in Bilder verwandeln, was wir selber empfinden. – Richard Wall – nicht nur als Dichter, sondern auch als Bild-Künstler tätig, versteht sich darauf, Gedankenbilder in Sprachbilder umzuwandeln, wovon er in neun Gedichten Beispiele präsentierte.

Und Klaus Wieser stellte ein ganz neu im Zusammenhang mit seiner kürzlichen Japan-Reise entstandenes Haiku vor, das die japanische Praxis, zerbrochene Gefäße mit einer mit Goldstaub versetzten Paste zu reparieren, aufgreift und außerdem als ein treffliches Bild für literarisches Schaffen gelten kann:

Bruchstellen im Leben, die wir alle haben, werden damit nicht verborgen, sondern veredelt mit dem Goldstaub der Poesie, mit dem Wortwitz einer Dichtung, mit der Spannung einer Geschichte, die uns neue Perspektiven gibt, uns zum Nachdenken anregt oder uns zum Lachen bringt.

Die Notwendigkeit, Geschichten zu erzählen und Lieder zu dichten, wird nicht aufhören.

Genau das ist an diesem Herbstlese-Abend wiederum deutlich geworden.


Fotos © Dominika Meindl


Dienstag, 26. November 2024

Herbstlese 2024

Das neue Format der GAV OÖ: Lasst uns Literatur, Dichten und Denken zum Jahresausklang feiern!


 

Dienstag, 26. November 2024, 19 Uhr

Willy*Fred, Linz, Graben 3


Autorinnen und Autoren blicken zurück auf das zur Neige gehende Jahr und geben 

Einblick in ihr aktuelles Schaffen.


mit

Corinna Antelmann

Johann Kleemayr

Dominika Meindl

Richard Wall

Klaus Wieser

& Elisabeth Strasser


Ausklang bei Getränken & Gesprächen


 

 


https://www.willy-fred.org/


Freitag, 22. November 2024

X-Blatt - Vielfältige Literatur im Kleinformat

Von Elisabeth Strasser


Der Literaturautomat

Er dürfte (hoffentlich) schon ziemlich bekannt sein, der Literaturautomat im Lokal Extrablatt an der Spittelwiese zentral in Linz gelegen. – Wer ihn nicht kennt und zufällig darauf stößt, kann sich davon überraschen lassen: So etwas gibt es tatsächlich!

2016 wurde er installiert, nach einer Idee von Kurt Mitterndorfer und Herbert Christian Stöger.

Ein Textautomat war schon länger eine Idee“, erzählt Kurt Mitterndorfer, „aber einen anzuschaffen schwer finanzierbar. Dann aber kam mir der ehemalige Mannerschnitten-Automat im Extrablatt unter, der sich dafür gut eignete. Eine Zehn-Schilling-Münze akzeptierte der Automat, was nun einer Ein-Euro-Münze entspricht. So viel kostet nun ein X-Blatt beim Automaten.“

Literatur – und zwar eine ganze Vielfalt davon – unter die Leute zu bringen, ist ein Anliegen des Literatur-Automaten. Inzwischen gibt es bereits 25 Ausgaben der X-Blatt-Literaturhefte. Die Themen reichen von „kurzen Gedichten“ bis zu Kurzgeschichten oder speziellen Themen wie „Spaltung“ oder „Winter“ oder „Licht“ oder „Ich-Kind-heute“ oder „Tiere“ oder Texte, die zu Bildern entstanden sind. Die Illustrationen sind ein wesentlicher Bestandteil der X-Blätter. Manchmal auf die Texte bezogen, manchmal unabhängig davon. Zeitgenössische Künstler:innen steuern ihre Zeichnungen, Grafiken, Collagen oder Fotos dazu bei. – Das ergibt bei jeder Ausgabe ein Gesamtkunstwerk aus Bild und Text.

Präsentation der neuesten Ausgaben

Am 12. November 2024 wurden die neuen Ausgaben des X-Blattes im Stifterhaus präsentiert.

Darunter die diesjährige Sonderausgabe, die dem Schriftstellerpaar Judith Gruber-Rizy und Helmut Rizy gewidmet ist und mit Fotos der beiden illustriert. 

 


Stefan Reiser, ein Meister der Kürzestform, las einige seiner witzig-ironischen „Minutentexte“; Leopold Spoliti sorgte für unheimliche Spannung mit seiner Geschichte aus dem Jahr 2040 rund um die Eröffnung des Brenner-Tunnels, der Züge nicht dort ankommen lässt, wo sie eigentlich hin sollen.



Und Klaus Wieser stellte Lyrik vor, neben jener im X-Blatt erschienenen, auch noch unveröffentlichte, die seine kürzlichen Japan-Reise anregte. Insbesondere blieb mir, wie wohl auch anderen, die dabei waren, der Text zu jener japanischen Praxis in Erinnerung, wobei zerbrochene Gefäße mit einer mit Goldstaub versetzten Paste gekittet werden, dieses Bild, das zeigt, wie Brüche im Leben nicht versteckt werden müssen, sondern veredelt werden können.

 

Derlei Pretiosen, wundervolle Miniaturen, Spannung in Kurzform, anregende Gedichte, Lustiges und Besinnliches findet sich in allen Ausgaben des X-Blattes. – Eine Vielfalt eben, in der zu schmökern sich lohnt.

Fotos © H.C. Stöger


Montag, 18. November 2024

Selbst die beste Eroberung ist am Ende nur Staub


Über Joyce Mansours „Nur Besessene schwänzen das Grab“, aus dem Französischen von Lisa Spalt

Rezension von Dominika Meindl

Beim Lesen der ersten Seiten kam mir (unter mildem Einfluss legaler psychotroper Drogen – es war Wochenende!) die Idee, den ganzen Surrealismus noch einmal von vorne beginnen zu lassen, aber diesmal geschrieben und gemalt und gefilmt ausschließlich von Frauen; das wäre doch ein Experiment!

Joyce Mansour (1928 bis 1986) war eine Französisch schreibende Dichterin mit syrisch-jüdischen Wurzeln, die lange in Ägypten lebte und schließlich nach Paris zog, wo sie sich den Surrealisten anschloss, als eine von wenigen Frauen (ihre Lyrik und Prosa wurden auch von den Männern nach dem binären Schema besprochen, wie sich im Wikipedia-Eintrag nachlesen lässt). Sie selbst überließ ihre Biographie bereitwillig den Spekulationen anderer.

Mansours Erzählungen bewegen sich oft an der Grenze zwischen Wachen und Traum, zwischen Klarheit und Wahn. Die Handlung nachzuerzählen ist nicht ganz leicht, und auch nicht ganz wichtig. Im ersten und längsten Text „Maria oder die Ehre zu dienen“ tut sich eine Frau mit ihrem Mörder zusammen, ihre Schwester hat Sex mit ihrem Kater, der von einer losgelösten Hand erwürgt wird. In „Sonntagskrämpfe“ spricht der von Poesie besessene Narr Hiob in Aphorismen. „Das ist kein Mensch, das ist ein Feuerwerk.“ Und in „Der Krebs“ verliebt sich ein junger Diener in den stetig wachsenden Buckel seiner Herrin.

Die drei Texte dürfen nicht schnell weggelesen werden, im Idealfall findet sich die Zeit, jeden einzelnen Satz im Geiste Form annehmen zu lassen, als läse man ein langes Prosagedicht. Mancher trägt vielleicht zu schwer an seiner psychoanalytischen Metaphorik, aber dann steht wieder ganz Großes da. Da kriechen „Gedanken, kalt wie Nacktschnecken“, da ist ein Mann, „der von allem, was tröstet, entwöhnt war.“ „Die Vögel haben allgemein wenig Humor.“ (Was nicht stimmt, wenn man den tolldreisten Manövern der Dohlen zusieht). Schön auch: „Ich bin nicht zynisch genug, um gegen die Uhr, gegen die Leichtigkeit, gegen die Dummheit zu kämpfen.“ Und dann: „Stille am Rand der Weltveranstaltung“.

Die drei Erzählungen sind nun zum ersten Mal auf Deutsch zu lesen. Ob die Übersetzung kongenial ist, lässt sich nur vermuten, das eigene Französisch ist seit Schultagen verschüttet wie ein Pharaonengrab, aber es ist ohne Risiko anzunehmen, da der Name Lisa Spalt für Qualität bürgt. Das „ständige Mitglied für poetische Alltagsverbesserung“ bezeichnet das Buch im Übrigen scherzhaft als „ein sehr obszönes, heftiges, witziges, grausames Minibuch“, das man nicht in „einer Kinderliteraturzeitschrift“ besprechen sollte. Das ist gut gesagt und sehr richtig!


Joyce Mansour: „Nur Besessene schwänzen das Grab“. Aus dem Französischen von Lisa Spalt. Mit Zeichnungen von Sabine Marte. Czernin Verlag 

https://www.czernin-verlag.com/buch/nur-besessene-schwanzen-das-grab

Mittwoch, 23. Oktober 2024

„Helle Sterne, dunkle Nacht“ - ein Kinderbuch von Lisa-Viktoria Niederberger & Anna Horak

Rezension von Barbara Rieger

Lisa-Viktoria Niederberger hat sich des Themas Lichtverschmutzung angenommen und es kindgerecht aufbereitet.

Die Hauptfigur Maya möchte, wenn sie groß ist, Wissenschaftlerin werden, am liebsten Astronautin. Sie möchte die Sterne sehen, bzw. den aktuellen Sternschnuppenregen über der Stadt. Doch aufgrund der zahlreichen Lichtquellen überall ist das nicht so einfach möglich. Als ihre Eltern im Bett sind, macht Maya sich gemeinsam mit der erwachsenen Nachbarin Rabea – einer Ärztin, die oft nachts wach sein muss - auf die Suche nach jener Dunkelheit, ohne die man die Sterne nicht sehen kann.

Auf dem Weg durch die Stadt treffen wir mit den beiden auf (nachtaktive) Tiere, Pflanzen und Menschen und lernen einiges über Licht und Dunkelheit. Neben der erzählten Geschichte stehen zusätzliche Textelement, die noch mehr Fachwissen vermitteln. Die Sprache ist klar, der Inhalt auch, die Illustrationen sind liebevoll.

Im Nachwort hält Lisa-Viktoria Niederberger fest, dass ein Vortrag über Lichtverschmutzung und seine negativen Auswirkungen den Anlass zu diesem Buch gab und dass sie ein Umdenken auf gesellschaftlicher Ebene für dringend erforderlich hält. Für Erwachsene, die sich mit dem Thema auseinandersetzen wollen, lässt sich schon jetzt ihr im Frühjahr 2025 bei Haymon erscheinender Essayband „Dunkelheit. Ein Plädoyer“ empfehlen.

„Helle Sterne, dunkle Nacht“ ist bereits das vierte Kinderbuch von Niederberger. Während die Abenteuer von Nali und Nora (Teil 1 bis 3) von Sandra Brandstätter illustriert wurden, arbeitete sie für dieses Buch mit der preisgekrönten Illustratorin Anna Horak zusammen, die auf ihrer Webseite zu diesem Buch schreibt: „ich konnte meinen Tintenkünste testen und ordentlich Farbe aufs Papier bringen.“

Die vorherrschenden Farben sind dunkelviolett bis -blau sowie gelb. Dazwischen finden sich weiße Seiten, die die Gestaltung optisch auflockern und das Buch ästhetisch insgesamt sehr ansprechend machen. Von einem meiner jungen Testleser wurde allerdings angemerkt, dass die einzelnen Figuren auf jedem der Bilder anders aussehen, was verwirrend sei.

Apropos verwirrend: Die Eltern von Maya, die auf der zweiten Doppelseite vor dem Fernseher sitzend eingeführt werden, hätte ich selbst auf den ersten Blick als queer identifiziert, im Text werden sie auf der nächsten Seite als „Papis“ bezeichnet. Diese eher seltene Familienkonstellation passt zwar gut ins Programm des Verlags – „Zeitgenössisches Indie-Publishing mit feministisch-queerem Fokus aus Wien: Kindgerecht und ohne stereotype Genderrollen“ -  führte aber bei beiden meiner Textleser_innen (4 und 9 Jahre alt) zu Irritation und zu Diskussionen, welche meiner Meinung nach durchaus wichtig zu führen sind, aber weg vom Thema der Lichtverschmutzung führen. Schade wäre es jedenfalls, wenn eine diesbezügliche Irritation bei konservativeren Eltern zum voreiligen Zuklappen des Buches führt.

Denn dieses Buch ist nicht nur wichtig, es fetzt auch! Und funkelt und strahlt. Trotz, oder eben gerade wegen der Dunkelheit.


Mehr zum Buch (Achse Verlag): hier 

Mehr zur Autorin Lisa-Viktoria Niederberger: hier
Mehr zur Illustratorin Anna Horak: hier
Mehr zur Rezensentin Barbara Rieger: hier


Dienstag, 17. September 2024

AUF DER SUCHE - über Bodo Hell

Von Herbert Christian Stöger

 
Vor einer Hütte. Auf der selben Stelle stehen wie Bodo Hell. Im Boden sind zwei Stück Holz eingegraben. Wie zwei Fußabdrücke. Darauf sein Name eingraviert. Daneben stecken ein oder mehrere Stecken. Je nach dem, wie viele hier hergekommen sind, um ihm die Ehre zu erweisen. Einmal wird sich dort ein kleiner Haufen bilden. Stecken dienen zur Unterstützung beim Wandern. Oder sie werden zum Viehtreiben benutzt. Jeder muß sich seinen Aufstieg selbst erwandern, um die Alm zu erreichen. Mehr als zwei Stunden Fußmarsch sollte man einplanen. Je nach dem, wo man abgesetzt wurde oder sein eigenes Auto parken konnte.

Vor vielen Jahren habe ich Bodo einmal dort oben besucht. Eine Zeit, wo noch mit analogen Kameras photographiert wurde. Es ist nur noch ein Bild davon erhalten. Dieses habe ich anläßlich einer Ausstellung bearbeitet. Die anderen sind in meinem Kopf, immer wieder aufblitzend.

 

Jemanden zu vermissen ist mehr als Anteilnahme. Aber zu wissen, jemanden nicht wieder zu sehen, ist ein Vermissen, das eine bleibende Leere hinterläßt.

 

Mit dieser Leere gilt es nun umzugehen. Er war einer, der sich mit Mensch und Tier verstand. Im Bezug auf einen Literaten ist das hervorhebenswert. Er trotzte bislang vielen Widrigkeiten in diesem Gelände am Berg.

 

Ein Signal den Berg hinauf. Verschiedene Laute wird auch er benutzt haben, um nach dem Vieh zu rufen. Hat er einen letzten Hilferuf ungehört setzen können?

 

Sein Leben spielte sich in den Sommermonaten auf der Grafenberg Alm am Dachstein ab. Er war ein Suchender. In jeder Hinsicht. Bestrebt, das Wissen der Welt in seinen Texten wieder erlebbar zu machen und damit dieses Wissen weiterzugeben, um es zu erhalten. Wie er selbst von sich sagte, war er ein Performer. Er konnte als Vortragender seine Texte unvergleichlich vermitteln.

 

Er beschäftigte sich mit hauptsächlich Nutztieren. Auf sie gab er acht und begab sich jeden Tag auf die Suche nach ihnen. Dabei ging er selbst verloren. Er kannte sich in seinem Gebiet so gut aus, daß er einen Weg gefunden hat, den vielleicht kein anderer mehr gehen wird. Einiges wird eben nur durch Überlieferung weitergegeben. Manche Wege gibt man nicht weiter, weil man andere davor beschützen will, sie auch zu beschreiten. Es ist zu gefährlich. Es war wohl zu gefährlich. Was immer geschehen sein mag. Sein Reich hat ihn aufgenommen. Eine Legende kann sich darum spinnen. Eine, die von Wahrheit erzählt, kann in diesem Fall nur eine Vermutung sein. Niemand anderes als er war dabei. Er wird es uns wohl nicht mehr erzählen.

Was kann mehr gesagt werden als: Er wird vermisst.

*******

Bildunterschriften:

1.

Folgende fünf Bilder sind anläßlich einer Lesung in der Maerz Galerie Linz entstanden. Es war nicht das letzte Mal, daß ich Bodo Hell getroffen habe, aber die letzten Bilder, die ich von ihm gemacht habe.

25. September 2020


2.

Bearbeitetes Photos beim Besuch auf seiner Alm.

Montag, 16. September 2024

Literaturtage 2024 in Thalheim bei Wels

 LITERATUR UND KUNST IM FLÖßERHAUS


Literaturtage 2024


27. September bis 6. Oktober




Freitag, 27. 9. 2024, 19:30 Uhr

Lesung mit Kerstin Gandler und Erich Wimmer, Hommage an Bodo Hell



Sonntag, 29. 9. 2024, 11 Uhr Lesung mit Stefan Reiser und Johann Kleemayr und special guest



Freitag, 4. 10. 2024, 19:30 Uhr

Lesung mit Irene Diwiak und Stefan Kutzenberger



Sonntag, 6. 10. 2024, 11 Uhr

Lesung mit Erika Kronabitter und Günter Kaindlstorfer (Günter Wels)




Ausstellung von Wolfgang Maria Reiter: „Im Fluss“, Schrift.Bilder



Moderation: Sibylle Gandler und Johann Kleemayr






Flößerhaus, Aigenstraße 3, 4600 Thalheim bei Wels

Eintritt frei

Reservierung: 0699 / 13 48 22 48

www.johannkleemayr.at


Veranstaltet mit Grazer Autorinnen Autoren Versammlung (GAV)

Dienstag, 10. September 2024

FEUILLETS D’HYPNOS / AUFZEICHNUNGEN AUS DEM MAQUIS 1943 – 1944 von René Char. Eine Empfehlung

Von Richard Wall

Zur Aktualität von René Char

Der aufkeimende, ja bereits kräftig wuchernde Faschismus in Europa lässt mich den Kopf schütteln über den Hang zur Selbstbeschädigung eines großen Teiles der Bevölkerung, die dieser Ideologie in freien Wahlen (!) zum Aufstieg verhilft. Es ist, als ob diese Leute noch nie von der Tatsche gehört hätten, dass Faschismus nicht nur geistige Knebelung, Uniformierung und letztlich Krieg bedeutet. Ich will hier aber nicht all die historischen und politischen Verwerfungen, die vor bald hundert Jahren zum Spanischen Bürgerkrieg und zum 2. Weltkrieg und anderen Gewaltexzessen geführt haben, wiederkäuen, sondern an einen provenzalischen Dichter und Partisanen erinnern, der zuerst in der mit den Nazis kollaborierenden Vichy-Regierung gegen diese auf Konfrontation ging und später, als auch Südfrankreich von den Nazis besetzt wurde, sich mit einer Gruppe Maquisards klug und tatkräftig für die terrorisierte Bevölkerung einsetzte und die Invasion der Alliierten von Algerien aus vorbereiten half. Was die Zeit danach betrifft, wusste er: „Die Implantation“ des Dämonischen kann nicht ungeschehen gemacht werden. Was einmal in die Welt gesetzt wurde, bleibt.

Ich spreche hier von René Char, der sowohl im Sprachgebrauch als auch im politischen und kulturpolitischen Handeln radikale Positionen bezogen hat. Auf meine Art aktualisiert habe ich meinen Zugang zu René Char, dessen teils hermetische Dichtung mich seit Jahrzehnten begleitet, durch Besuch seiner provenzalischen Geburtsstadt L’Isle-sur-la-Sorgue und durch Wanderungen und Radtouren in der Vaucluse, die seine Dichtung geprägt hat.

Von einem Lageplan der genannten Stadt, der auch das Umfeld außerhalb der Altstadt mit einschloss, wusste ich, dass der Friedhof südlich der Eisenbahnlinie von Avignon nach Marseille liegen musste. Ich spazierte, von meiner Unterkunft kommend, durch die Rue de la République und überquerte zwei Kanäle der Sorgue, zu deren Quelle unter einer 230 Meter hohen Felswand ich am Tag zuvor aufgestiegen war. Nachdem ich einige Antiquitäten- und Ramschläden passiert hatte, bog ich in die vor mir liegende Straße ein, die gen Süden führte. Auch heute wieder: Statt die Satelliten zu befragen, hielt ich mich an die Auskunft von Passanten. So kam ich mit Menschen ins Gespräch, und so setze ich mein Französisch einer Prüfung aus. Auch als ich versuchte, mir den Weg zum Friedhof, durch einen versteckten Durchschlupf unter der Bahnlinie, erklären zu lassen.

Beim Eingang zum Friedhof, der mir annähernd so groß schien wie das Zentrum der Stadt, hing ein Lageplan, der keinen Hinweis lieferte zur Position des Grabes von René Char. Weit und breit keine Person, die ich – spät nachmittags – um Auskunft hätte bitte können. Da ich wusste, dass das gesuchte Grab ein altes Familiengrab darstellte, beschloss ich, den alten Teil des Friedhofs systematisch, Weg um Weg, abzusuchen. Des Weiteren müsse mir das Aussehen der Grabanlage beim Auffinden dieser behilflich sein. Die meisten Gräber haben nur einen aufrecht stehenden Grabstein, jenes von René Char besteht aus der Geometrie eines stehenden und eines liegenden Blocks.

Schon nach kurzem Suchen, von einer unerklärlichen Sonde geleitet, konnte ich sein Grab lokalisieren. Der mächtige Monolith, etwa achtzig mal achtzig Zentimeter im Grundriss, kragt im oberen Teil aus und schließt mit einem Satteldach ab. Die Vorderseite, ein hohes Rechteck, trägt, von einer rahmenähnlichen Einfassung umgeben, die Inschrift FAMILLES / ARNAUD / ET SON GENDRE / CHAR – MAGNE.

Davor der liegende, von Flechten überwachsene Block. Zu meinen Füßen nun der berühmte Grabspruch, in dem sich ein Hinweis auf Heraklit verbirgt. Die Reliefschrift ist kaum lesbar, zusätzlich ist sie von einem zum Grab sich hinneigenden, rotblühenden Rosenstrauch überdeckt und beschattet:

SI NOUS HABITONS UN ÉCLAIR, IL EST LE CŒUR DE L’ETERNEL

Dazu gibt es drei Übersetzungen. Eine davon, die mir besonders zusagt, jene von Johannes Hübner aus dem Jahr 1959, lautet: „Bewohnen wir einen Blitz, so ist er das Herz der Ewigkeit.“

Am oberen Ende der Bodenplatte eine leicht zum Betrachter geneigte Platte: RENÉ CHAR / 1907 – 1988. – Grau ist das Grab des Dichters, dachte ich mir, wie der Karst der Vaucluse, über dem sich eben die Wolken türmten; ein Gewitter schien sich aufzubauen. Ein reinigender Blitz wäre der Inschrift durchaus zu wünschen.

Es mag vor etwa 20 Jahren gewesen sein, als ich auf den hierzulande kaum bekannten Namen René Char aufmerksam geworden war, und ich mir eines seiner Bücher kaufte: HYPNOS / FEUILLETS D’HYPNOS / AUFZEICHNUNGEN AUS DEM MAQUIS 1943 - 1944.

Schon der Titel enthält die Bedingungen der Niederschrift und die Entstehungszeit. Mit „Maquis“ ist der nahezu undurchdringliche Buschwald in den Mittelmeerländern gemeint. Dieser war immer wieder Rückzugsgebiet für Untergrundbewegungen, so auch während der deutschen Besatzungszeit in Südfrankreich. Als Maquisards wurden folgerichtig Personen bezeichnet, die sich der Résistance anschlossen.


Biographisches

René Char wächst, wie er selber berichtet, im großen Anwesen seiner Eltern auf, „Les Névons“, benannt nach einem Bach. Sein Vater ist Geschäftsführer einer Gipsfabrik und Bürgermeister der Stadt. Mit Vorliebe durchstreift der junge René mit seinem Freund Francis Curel, Sohn des Kanal- und Schleusenwärters, die umliegende Landschaft, die Ausläufer des Maquis, die Ufer und das Quellgebiet der Sorgue. Genaue Kenntnisse der Flora und Fauna der Region fließen später immer wieder in seine Gedichte ein.

Bei Lagnes lernen sie einen Baumpfleger kennen, der ihnen begeistert von seiner Teilnahme an der Pariser Commune erzählt, und nicht weniger spannend versteht er es, den Knaben die Sternbilder am nächtlichen Himmel in Verbindung mit der antiken Götterwelt nahezubringen. Für René Char ein Kosmos aus Mythologie und naturwissenschaftlicher Anschauung, von der er nicht mehr loskommen wird.

Nach erfolglosen Versuchen in einer Kaufmannslehre und einem Studium in Aix-en-Provence, das er abbricht, folgt er seiner Berufung als Dichter. Im Jahr 1929 veröffentlicht er sein erstes Buch, Arsena, mit dem er nach Paris reist. Es kommt zu einer Begegnung mit Paul Éluard und André Breton, die ihn einladen, an der surrealistischen Bewegung teilzunehmen. In der Folge entsteht die Gemeinschaftsarbeit Ralentir Travaux, die 1930 in Buchform erscheint. In diesen Jahren, zwischen 1930 und 1934, lebt er vorwiegend in Paris, nur die Sommermonaten verbringt er in der Vaucluse oder an die Cote d’Azur. Nach dem Selbstmord von René Crevel zieht er sich aus dem Kreis der Surrealisten zurück, vor allem geht er zu den Positionskämpfen innerhalb der Gruppe auf Distanz, seine Freundschaft zu Paul Éluard, Tristan Tzara und anderen bleibt noch einige Jahre bestehen.

Nun wird wieder seine Geburtsstadt relevant. Am 6. Februar 1934 stürmen Nationalisten und rechte Schläger das Palais Bourbon, blutige Straßenschlachten sind die Folge. René Char reist aus der Provence nun doch wieder nach Paris, um an den Demonstrationen gegen die faschistischen Tendenzen in Frankreich teilzunehmen. Von Kindheit an rebellisch, trägt er seine Empörung nicht nur auf der Zunge sondern nach außen, hinein in die Gesellschaft. Als im Herbst 1935 in Avignon ein Mann aus L’Isle-sur-la-Sorgue zu Unrecht des Diebstahls bezichtigt und zu einer überzogenen Gefängnisstrafe verurteilt wird, lässt er eine Protestnote drucken: „Bürger von L’Isle seid gewiss! / Die Bösewichter werden einer nach dem andern entlarvt und die Wahrheit wird Eurem aufrichtigem Urteil unterzogen.“ Mit Hilfe seines um sechs Jahre älteren Freundes Francis Curel plakatiert er sein Statement an Häuserwände und an Bäumen entlang der Straße zwischen Avignon und Fontaine-de-Vaucluse.

In das Dorf Céreste im Departement Alpes-de-Haute-Provence an der Nationalstraße zwischen Avignon und Forcalquier, etwa 70 Kilometer östlich von L’Isle sur la-Sorgue, kommt René Char weil ihn dort ein Arzt namens Georges Louis Roux behandelt. Nach Monaten wiederkehrender Krankheiten und einer lebensbedrohenden Blutvergiftung kommt er wieder zu Kräften und schließt Freundschaft mit seinem Lebensretter. In seiner Art, sich die Umgebung durch Spaziergänge zu erschließen, wird ihm diese Region so vertraut, dass nur wenige Jahre später Céreste sein Stützpunkt wird.

Beim Einmarsch der deutschen Wehrmacht im Frühling 1940 ist Char im Elsass stationiert. Bei einem Munitionstransport im Mai oder Juni 1940 wird die Einheit von Stukas angegriffen; er hat Glück und kommt mit dem Leben davon. Char wird gefangengenommen, kann aber, da die Deutschen mit der Masse an Kriegsgefangenen organisatorisch nicht zurechtkommen, fliehen, und kehrt in die Provence zurück. Hier kümmert er sich vorerst um seine Frau Georgette, eine gebürtige Goldstein, seit 1932 mit ihr verheiratet.

Sie hatte sich mit ihrer Familie ins südwestfranzösische Department Lot abgesetzt. René Char, der mittlerweile mit der Frau von Tristan Tzara, der schwedischen Malerin, Bildhauerin und Schriftstellerin Greta Knutson liiert ist, nimmt die Familie Goldstein zu sich ins Haus „Les Nevons“ in L’Isle-sur-la-Sorgue. Er steht in Kontakt mit den Kommunisten, bespricht sich mit Fay, den Vorsitzenden der selbstbewussten Ortsgruppe. In dieser Anspannung ruft er in einem Gedicht seit seiner Kindheit Vertraute an: Die Sorgue, die aus unterirdischen Karstklüften zutage tretend in Kaskaden ihren Weg bahnt, sowie den Schleusenwärter von L’Isle su-la-Sorgue, und aufrechten Kommunisten Loius Curel, Vater seines Jugendfreundes Francis Curel, der später inhaftiert und ins KZ Mauthausen deportiert wird.

Ende 1939 kappt Char die Verbindung zum Literaturbetrieb; bis zur Befreiung im August 1944 wird er – anders wie seine Kollegen, die weniger konsequent aus sicherer Deckung weiter veröffentlichen – keine Zeile mehr veröffentlichen.

Als im Dezember 1940 ein Kommando der Spezialpolizei von Avignon „Les Nevons“ durchsucht, wird ihm klar, dass die Vichy-Polizei über seine Aktivitäten Bescheid weiß. Er trifft Vorkehrungen, um unterzutauchen, und beginnt darüber hinaus zwischen Avignon, Cavaillon, Aix-en-Provence und Marseille Verbindungen zu knüpfen. Meist ist er mit dem Fahrrad unterwegs und legt an manchen Tagen bis zu 70 Kilometer zurück.

Nichtsdestotrotz schreibt er weiterhin Gedichte, aber seine Hauptaufgabe sieht Char in diesen Jahren darin, Menschen, die in Bedrängnis gerieten, zu helfen und den Widerstand zu organisieren. Georges Louis Roux schreibt in seinen Erinnerungen über die Zeit der Maquis: „Die Regierung Vichy in der nicht besetzten Zone, in der wir wohnten, lastete auf unserem rebellischen Gewissen. So gut wir konnten leisteten wir gegen das von diesem Regime eingerichteten System, das durch Heuchelei, Denunziation, Unterdrückung und Volksverdummung gekennzeichnet war, Widerstand []“ (Zitiert nach Manfred Bauschulte: „René Char. Poet und Partisan Bauschulte, S. 115)

Da L’Isle-sur-la-Sorgue für René Char ein unsicherer Ort geworden ist, wird Céreste für ihn und Georgette der Lebensmittelpunkt. Im Laufe der Jahre hat er die Region so gut kennengelernt wie kein Zweiter, er kennt Schleichwege, abgelegene Höfe und Hochflächen, die für den Abwurf von Ausrüstung, Waffen und Munition geeignet sind. Auf nicht alle in der Bevölkerung ist Verlass: Einerseits gibt es die politisch Desinteressierten und Naiven, andererseits trachtet die Polizei und die SS danach, Personen aufzuspüren, die bestechlich und für verräterische Dienste bereit sind. 

Als am 14. November 1942 auch Südfrankreich von den Deutschen besetzt wird, reagiert der Großteil der Bevölkerung empört. Der Service du travail obligatoire (STO), mit dem die Franzosen für den Arbeitsdienst in Deutschland verpflichtet werden, bringt dem Maquis verstärkten Zulauf. Der bereits genannte Georges Louis Roux dazu: „Der Ekel über die jetzt physische Präsenz der Armeen Hitlers, die Ängste, die Empörung und der Hass, die ihre Razzien und Grausamkeiten auslösten, festigten den Willen und weckten das schlummernde Gewissen vieler Menschen.“ (Bauschulte, S. 116)

René Char wird für die S.A.P. angeworben, die „Section Atterisage-Parachutage“, die die Landung der Alliierten auf französischem Boden vorbereiten soll. Aus dem Maquisard „Hypnos“ wird Capitain Alexandre, so sein vom makedonischen Heerführer Alexander abgeleiteter Deckname. Ein neugeschaffenes Netz verbindet den militärischen Stützpunkt in Algier, London und die Untergrundarmee, deren Aufgabe es, ist, den Widerstand zu organisieren, Landebahnen einzurichten, Waffendepots anzulegen, u.v.m. Der Dichter ist zum Untergrundkämpfer mit großer Verantwortung geworden, gefordert sind Ortskenntnis, militärisch-strategisches Denken, Menschenkenntnis und logistische Weitsicht.


Das literarische Vermächtnis der Jahre im Maquis

René Char war ein Poet, der wie kaum ein anderer französischer Künstler oder Schriftsteller sein Leben riskierte. Er kämpfte weniger einem abstrakten „Vaterland“ zuliebe – ihm war stets die konkrete Region der Vaucluse, die Bewohner der Ländereien an der Sorgue wichtiger – als für die Freiheit und eines seiner Pflichten bewussten Humanismus, wie er zu Beginn seiner Feuillets d’Hypnos festhält:

[…] Ihre Niederschrift erfolgte in der Angespanntheit, im Zorn, unter Ängsten, im Eifer, im Ekel, inmitten von Listen, heimlicher Sammlung, Zukunftsillusionen, Freundschaft, Liebe. Womit gesagt ist, in welchem Maße die Ereignisse mitsprechen. […]

Das hier Aufgezeichnete berichtet vom Widerstand eines seiner Pflichten bewussten, in bezug auf die ihm innewohnenden Kräfte Zurückhaltung übenden Humanismus, eines Humanismus, der das Unbetretbare als Spielraum freihalten möchte für die Phantasie seiner Sonnen und der entschlossen ist, den Preis dafür zu zahlen.“

In meiner Taschenbuchausgabe von HYPNOS ist auf S. 6 eine Postkarte reproduziert: Ein antiker Hypnos-Kopf (griechische Bronze, 4. Jh. v. Chr.), handschriftlich von René Char mit diesen Worten eingerahmt: „Hypnos ergriff den Winter und kleidetet ihn in Granit. Der Winter wurde zu Schlaf, Hypnos zu Feuer. Das Weitere ist Sache der Menschen.“

Mit dieser Metamorphose, die mit dem letzten Satz der Menschen Anteil in die Veränderung, ihre Pflicht zur Tat, ins Spiel bringt, werden die 237 Aufzeichnungen, von Paul Celan ins Deutsche übertragen, eingeleitet. Der Herausgeber bezeichnet das Buch als „ein Stück Menschengeschichte als Widerstandsgeschichte, nicht als Geschichtsbericht, sondern poetisch reflektiert und gestaltet, Humanismus, für den ein Preis zu zahlen ist. Weil er immer von der Gewalt bedroht ist.“

Das Weitere ist Sache der Menschen.“ Dieser schlichte Satz, der als Aufforderung verstanden werden kann, bestimmt das Leben von „Hypnos“ (= Capitaine Alexandre) und das seiner Gefährten, die allesamt unter Decknamen agieren. Léon Saingermain, alias Pierre Zyngerman, bekommt von seinem Vorgesetzten unter anderem Anweisungen für die Sicherung der „Homodépôts“; das sind befestigte Bodenstationen, in denen die Maquisards, die das Landen und Starten der alliierten Flugzeuge organisieren und schützen. Diese „Regeln“ evozieren beim heutigen Leser eine Vorstellung von dem, wie sich ein Leben im Untergrund zu gestalten hatte. Sie sind von einer alles bedenkenden Umsicht, psychologischen Schärfe, knapp wie ein Prosagedicht und präzise. Mit wenigen Abstrichen sind sie auch als Maxime für ein ziviles Leben vorstellbar. Mit „L.S.“ ist, wie eine Fußnote informiert, Léon Saingermain gemeint. Hier die Sentenz in ihrer gesamten Länge (87):

LS: Dank für Homodépôt Durance 12. Tritt heute Nacht in Funktion. Darauf achten, dass die dem Gelände zugeteilten jungen Leute sich nicht allzuoft in den Straßen von Duranceville sehen lassen. Mädchengesellschaft und Cafés gefährlich, wenn länger als eine Minute. Dennoch die Zügel nicht zu straff anziehen. Kein Einander-Bespitzeln in der Gruppe. Keine Verbindungen mit nicht zu unserem Netz Gehörenden. Großsprecherei stoppen. Bei Überprüfung von Nachrichten stets zwei Quellen. Im Auge behalten, dass in den meisten Fällen fünfzig Prozent Schwärmerei. Die Leute darin unterweisen, die Augen offen zu haben, genau zu berichten, die Arithmetik der Situation zu erfassen. Umlaufenden Gerüchte erst sammeln, dann synthetisieren. Treffpunkt und Briefkasten beim >Weizenfreund<. Möglichkeit Aktion Waffen-SS gegen Ausländerlager in Les Mées, mit Übergreifen auf Juden und Résistance. Spanische Republikaner äußerst gefährdet. Müssen unverzüglich gewarnt werden Eigene Teilnahme an Kampfhandlungen möglichst vermeiden. Homodépôt sakrosankt. Bei Alarm sich zerstreuen. Außer um Kameraden zu befreien, Feind niemals Vorhandensein merken lassen. Verdächtige abfangen. Ich vertraue ihrem Urteil. Lager wird niemals gezeigt. Kein Lager vorhanden, nur Kohlenmeiler, die nicht rauchen. Keine ausgehängt Wäsche, wenn Flugzeuge; alle Mann unter Bäumen oder im Gebüsch. Außer dem >Weizenfreund< und dem >Schwimmer< wird niemand in meinem Auftrag zu Ihnen kommen. Härte und Aufmerksamkeit Ihren Leuten gegenüber. Disziplin, in Freundschaft gebettet. Bei der Arbeit immer ein paar Kilo mehr als jeder von ihnen, doch ohne sich darauf etwas einzubilden. Merklich weniger essen und rauchen als die andern. Keinen bevorzugen. Lügen nur dann dulden, wenn improvisiert oder absichtslos. Keine Zurufe aus der Entfernung. Auf saubere Körper und saubere Wäsche achten. Sie sollen lernen, mit leiser Stimme zu singen, keine Melodien zu pfeifen, die einen verfolgen, die Wahrheit so zu sagen, wie sie auf einen zukommt. Nachts am Wegrand entlanggehen. Ihnen die Vorsichtsmaßregeln andeuten, aber ihnen das Verdienst lassen, sie selbst gefunden zu haben. Wetteifern ist ausgezeichnet. Monotonen Gewohnheiten entgegenwirken und solche anregen, die man selber ungern dahinschwinden sähe. Und schließlich: die Menschen lieben, die sie lieben, im selben Augenblick wie sie. Addieren Sie, dividieren Sie nicht. Hier geht alles gut.

Herzlich. HYPNOS.“

Konkrete Handlungsrichtlinien wie diese wechseln mit lyrischen Notizen oder Reflexionen zur Poesie: „Die Fluglinie des Gedichts. Sie müsste einem jeden sinnlich wahrnehmbar sein.“ (98)

Oder Aphoristisches wie diesen Satz: „Es gibt eine Art Menschen, die stets den eigenen Exkrementen voraus sind.“ (28)

Zum Sprunge gehören. Nicht zu dessen Epilog, dem Gelage.“ (197)

In Notizen wie diesen sind kurze Porträts der Freunde mit ihren Charaktereigenschaften eingefügt:

Archiduc eröffnet mir dass er seine innere Wahrheit entdeckte, als er zur Résistance stieß. Vorher war er ein Akteur seines Lebens gewesen, missvergnügt und argwöhnisch. Die Unaufrichtigkeit vergiftete ihn. Eine unfruchtbare Traurigkeit breitete sich über ihn. Jetzt liebt er, gibt er sich aus, ist er beteiligt, geht er nackt, fordert er heraus. Ich schätze ihn sehr, diesen Alchimisten." (30)

Char alias Hypnos berichtet aber auch von ermordeten Kampfgefährten, so von Émile Cavagni; im Epitaph über ihn heißt es: „Ein Mann ohne theoretische Bildung, aber großgeworden unter Schwierigkeiten, von einer Güte, die immer auf beständig stand, unfehlbar in seinen Diagnosen. […] In meiner Liebe zu ihm war nichts Überschwengliches, nichts, das zu schwer wiegen konnte. Sie war unerschütterliches Zu-ihm-Stehen.“ 157)

Nicht weniger zu Herzen geht ihm die Hinrichtung des 23-jährigen Dichters Roger Bernard. Im väterlichen Betrieb hatte er das Druckerhandwerk gelernt, „aber die Poesie – die gesamte Poesie – zog ihn schon sehr früh an. […] Er schließt sich dem Maquis im Tal des Calavon an, eines Gebirgsbaches, an dem kampferprobte, schweigsame Menschen wohnen. Seine junge Frau, Lucienne, teilt sein unsicheres Leben. Zwischen zwei Sabotageakten liest er mir seine Gedichte vor und spricht mit mir über seine Pläne.“ Auf dem Weg zum gemeinsamen Versteck wird er am 22. Juni 1944 von einer deutschen Patrouille gefasst, kann noch den Zettel mit der Botschaft schlucken, wird anschließend gefoltert und erschossen.

Entsetzlicher Tag! Ich habe, aus wenigen hundert Meter Entfernung, der Hinrichtung von B. zugesehen. Ein Druck auf den Abzug meiner Maschinenpistole, und er hätte gerettet werden können! Wir waren auf der Anhöhe oberhalb von Céreste, die Büsche strotzten von Waffen, an Zahl waren wir der SS mindestens ebenbürtig. Die zudem nichts von unserem Vorhandensein ahnte. Den Augen ringsum, die um das Signal, das Feuer zu eröffnen, flehten, antwortete ich mit einem Kopfschütteln … Die Junisonnen fuhr mir eisig in die Knochen. […]

Ich habe das Signal nicht gegeben, weil das Dorf um jeden Preis verschont bleiben musste. Ein Dorf – was ist das? Ein Dorf wie jedes andere auch? Vielleicht hat er das gewusst in diesem letzten Augenblick?“ (138)

Einer der längsten Texte ist eine komprimierte Darstellung einer Umstellung und Durchsuchung von Céreste: „Man warf die Einwohner aus den Häusern, befahl ihnen, sich auf dem Dorfplatz zu versammeln. Schlüssel hatten steckenzubleiben. Ein Alter, der, harthörig, den Befehl nicht schnell ausgeführt hatte, sah nun, wie eine Bombe ihm die vier Wände und das Dach seiner Scheune in die Luft blies. […]“ - Char befand sich in seinem Versteck im Dorf, die SS suchte nach ihm, doch niemand verriet ihn, auch nicht der Maurergeselle, der mit eingesammelten Kaninchenfallen das Dorf betrat, befragt und gefoltert wurde. Doch die Frauen des Dorfes, Kinder und Greise strömten der SS entgegen, sodass diese irritiert das Dorf verließ. „Den Maurer ließ man für tot liegen. Schäumend vor Wut, bahnte sich die Streife einen Weg durch die Menge und lenkte ihre Schritte anderswohin. Mit unendlicher Vorsicht sahen angsterfüllte, gütige Augen jetzt zu mir herüber, huschten die Blicke, dem Strahl einer Lampe gleich, über mein Fenster hin. Ich trat halb hinter dem Vorhang hervor, ein Lächeln löste sich von meiner Blässe ab. Mit tausend Fäden des Vertrauens hing ich an diesen Menschen; kein einziger sollte jemals abreißen.

Unbändig habe ich sie an jenem Tag geliebt, meine Mitmenschen, weit über alle Aufopferung hinaus.“ (128)

Der Inhalt dieses Buches lässt sich nicht nacherzählen. Jede einzelne Notiz ist ein Kern für sich, ist Poesie, Aphorismus, oder Reflexion, oder eine Legierung dieser fluiden Formen.


Die vergiftete europäische Zivilisation

Die Hoffnungen auf eine bessere und gerechtere Welt all derer, die im Widerstand lebten, die ihr Leben riskierten und nach der Rückkehr in die „Normalität“ vergessen wurden, schlimmstenfalls sogar diffamiert wurden, erwies sich als Chimäre. In der Notiz Nr. 220 spricht der Dichter des HYPNOS dies an. Er sah voraus, wie für Jahre durch den Faschismus, durch Kollaboration und Selbstbetrug die europäische Zivilisation vergiftet wurde:

Die Erhitzung und die Chlorose der Jahre, die auf den Krieg folgen werden: meine Befürchtungen gelten beiden in gleichem Maße. Unsere bequeme Einmütigkeit, unser Gerechtigkeitshunger: sie werden sich, ich fühle es voraus, als recht kurzlebig erweisen, wenn das uns im Kampf verknüpfende sich gelöst hat. Auf der einen Seite bereitet man sich darauf vor, das Abstrakte zu fordern; auf der anderen wiederum wird blindlings all das verworfen, was dazu beitragen könnte, das menschliche Dasein in unserer Zeit zu erleichtern und den Menschen mit zuversichtlichem Schritt auf seine Zukunft zuhalten zu lassen. []“ - Politische Aussagen in dieser Deutlichkeit sind bei Char selten zu lesen. Und er setzt fort: „Die Phantome erteilen Rat um Rat, statten Besuch um Besuch ab – Phantome, deren empirische Seelen ein einziger Haufen von Schleim und Neurosen sind. []“

Dachte er an die Situation, als man ihn mit einer Spitfire aus dem Maquis nach Algier ausflog, aufgrund eines Befehls, und er widerwillig seine Leute verlassen musste? Und erleben musste, wie unzulänglich, ja falsch man die Situation, das Leben der Partisanen einschätzte? – Dieses Unverständnis zeigte sich in der Begegnung mit Charles de Gaulle: Char wird mit zwei anderen Maquisards zu einem Treffen mit General de Gaulle in die Villa des Glyzines in Algier befohlen. Die triviale Eröffnung des Gesprächs durch den General mit den Worten: „Monsieur, sind wir gut angekommen?“ macht Char wütend, und als de Gaulle wissen möchte, wie er, Char, die Kräfte des Maquis einschätze, antwortet er aufgrund der Gefahren, denen sie täglich ausgesetzt sind: „Die Kunst besteht darin, sich unsichtbar zu machen.“

Nach dem Gespräch, auf der Straße, rief Char empört zu den Kameraden, die ihn begleitet haben: „Welch ein Idiot!“ – Dies war die erste und einzige Begegnung der beiden, sie finden keine gemeinsame Sprache. Char lehnt nach dem Krieg auch alle Auszeichnungen sowie ein weiteres Treffen mit de Gaulle ab.

Vor seiner Abreise versteckte Char sein Notizheft in einem Mauerloch in Céreste. Nach der Befreiung beginnt er mit der Überarbeitung, mit dem Kürzen und Komprimieren der flüchtig notierten Sätze.

Char schreibt 1948 in einem Brief an Francis Curel, der das KZ Mauthausen überlebt hat: „Wir sind Partisanen, um nach dem Brand die Spuren zu verwischen und das Labyrinth zu vermauern. [] Die Strategen haben damit nichts gemein. Die Strategen sind die Plage der Welt und ihr schlechter Atem. []“

Diese Einschätzung korrespondiert für mich mit der Notiz Nr. 7: „Dieser Krieg wird über alle platonischen Waffenstillstände hinaus fortdauern. Die Implantation der politischen Begriffe wird weitergehen, kontradiktorisch, inmitten von Konvulsionen und unter dem Deckmantel einer ihrer Rechte sicheren Scheinheiligkeit. Man lächle nicht. Sondern tue alle Skepsis und Resignation ab und bereite seine sterbliche Seele darauf vor, es intra muros mit Dämonen aufzunehmen, kalt und Mikroben gleich.“

"Mein Vater, ein hochgradig beknackter Typ": Katharina Rieses "Die gute Wurst aus Holz"

Rezension von Dominika Meindl   Vielleicht trügt die Erinnerung, aber gab es nicht einen Preis für den bemerkenswertesten literarischen Tite...