Von René Bauer
Vorwort
Nach
einigen Wochen Eingesperrtsein macht sich in mir der Wunsch zu
verreisen bemerkbar. Gut, denk ich, ein paar Regeln brauche ich noch,
dann steht mir die Welt offen. Sollen die Anderen doch zuhause
versauern, ihre Tagebücher mit Gedanken aus dem
Auf-sich-selbst-zurück-geworfen-sein füllen, ich schreite mutig
fort und mache Urlaub. Einen Experimentalurlaub. Ohne Maske. Ohne
Beschränkungen.
Regel 1:
Ich reise an einen zufälligen Ort und muss selbst herausfinden, wo
ich bin.
Regel 2:
Möglichst keine Karten oder Reiseführer verwenden.
Regel 3:
Möglichst nur zu Fuß gehen.
Regel 4:
Tagesprogramm ist je einmal essen, eine Sehenswürdigkeit, einen
Spaziergang im Park oder Wandern, am Ende eines Tages ein Hotel
suchen, schlafen, dann sofort wieder abreisen.
18. April
2020– Uberlândia, Brasilien
Ich
befinde mich offensichtlich in einer Stadt, in einer engen Gasse, der
Asfalt in schlechtem Zustand. Niedrige, simple, aber bunte Häuser.
Überall parken Autos und Motorräder. Rechts neben mir schwebt eine
Gitterbox aus Metall, rot lackiert, wie ein großer Einkaufskorb, auf
eine Stange geschweißt mitten am Gehsteig, darin ein Paket. Ist das
ein Briefkasten? Links ein Autoverleih. Die Sprache scheint Spanisch
zu sein. Brauch ich ein Auto? Nein ich geh zu Fuß.
|
Urlaubsfoto 1: Ein Briefkasten? Ein Einkaufskorb? |
Nach ein
paar Schritten erreiche ich eine Autowerkstatt –
auto mecanico.
Brauch ich nicht. Drei Männer stehen vor der Werkstatt, warten und
rauchen. Sie tragen keine Masken, dafür sind ihre Gesichter
verschwommen.
Ich gehe
weiter die Straße entlang. Bin ich in Spanien? Südamerika? Hier
steht eine Apotheke. Krank bin ich nicht. Aber obwohl die Sonne
scheint, fühle ich sie nicht. Ist es warm? Kalt? Welche Jahreszeit
haben wir? Welches Jahr?
Auf dem
ersten Straßenschild, das mir begegnet, steht Teatro
municipal – in der selben Richtung scheint auch ein Park zu
sein, ich biege an der Kreuzung ab und folge den Schildern. Viele
Motorräder stehen auf Miniparkplätzen. Wenige, dafür alte Autos.
Dürfte keine wohlhabende Gegend sein.
Den Park
finde ich noch nicht, dafür ein Geschäft für Kühlschränke. Statt
einer Glasauslage hat es ein großes Loch in der Wand mit
hochgezogenem Ladengitter, dahinter stapeln sich hauptsächlich
gebrauchte Kühlschränke in einem wilden Durcheinander. Ein Moped
steht im Geschäftsraum. Dürfte geöffnet sein.
Ich irre
durch die Gassen. Schau schau! die Tierklinik Imperial, ein Veterinär
und Pet-Shop zugleich, auf dem Schild eine protzige Königskrone
ähnlich wie die der Queen, zwei weiße Pudel tragen die gleiche,
der Werbegrafiker muss günstig gewesen sein. Die Sprache ist aber
kein Spanisch, das ist wahscheinlich Portugiesisch. Auf der Klinik
steht auch der Ort, Uberlândia, tippe auf Südamerika und damit
Brasilien.
Würde ja
gern jemanden fragen, wo sich der Park befindet, aber leider versteh
ich kein Portugiesisch.
Immer
wieder Häuser in Stacheldraht eingekleidet. Angst? Jemand gießt den
Gehsteig vor einem Stacheldrahtzweifamilienhaus, daneben wieder so
eine Briefkastenbox, leer, im selben edlen Design wie alle
Schutzgitter, Zäune und Rollläden des Hauses, Videokamera,
Alarmanlage. Naja.
Endlich
bin ich in der Nähe des Parks, Uberlândia ist eine große Stadt,
sicher größer wie Linz oder Graz. Stehe vor einem
Riesensportstadion auf dem Parkplatz, extrem schiarch,
Bauweise Schalbeton, nackt, keine Farbe auf den Wänden. Hier gibt's
rote Erde überall, aber so richtig rot, sehe kein Gras oder es ist
vertrocknet und so braunrot wie die Erde. Parkplatz ist leer.
Hoher
Zaun, der Park befindet sich dahinter, nur wie komm ich da rein?
Rüberklettern, bin jetzt auf einem Fußballplatz mit alten
verrosteten Toren, niemand spielt. Mitten im Park ein mittelgroßer
Baggersee, fast keine Leute da, ist's fürs Baden zu kalt? Ich fühle
keine Temperatur, muss mich nach visuellen Hinweisen richten. Neben
dem See eine Laufstrecke, nein, rund um den See. Ich lauf mal ein
bisschen, am Gehsteig steht ein auf seinem Schwanz aufgerichteter
Plastikhecht, ein Kind in seinem Schatten. Ups, ich sollte nicht
mitlaufen, an der nächsten Kurve warten Zuseher hinter Absperrungen,
eine Polizistin kommt auf mich zu, deutet etwas, alle haben kurze
Hosen, sind braungebrannt, kurze Leiberl, oft ärmellos. Also doch
warm. Vielleicht sogar heiß.
Aber das
Rennen auf der Laufstrecke, wird das nicht ernst genommen? Jetzt
fährt einer mit einem Moped mitten auf der Bahn, der hinter ihm am
Sozius trägt keinen Sturzhelm! Jetzt hab ich's, es ist ein
Radrennen, da kommen schon die ersten. Hier ist das Ziel, aber der
mit dem Moped ist in die falsche Richtung gefahren ...
Sonst ist
nicht viel los, Hüpfburg, Standln, Schoko und Eis. Am Ausgang
herrscht Sonnenuntergang. Ich verzupf' mich.
Gehe aus
dem Park und lande in einem kleinen Einkaufszentrum, ähnlich wie
hierzulande sind innen Fakebalkone im Fake-zweiten-Stock, der die
Realität umkehrt, als ob draußen jemand wohnt, dabei ist da nichts,
nur der Himmel. Im Spielwarengeschäft haben sie lauter Plastikzeugs.
Hab
Hunger, kann niemanden fragen, find nur einen Obst- und Gemüsehändler
mit ein paar braunen Bananen und riesigen Paprika und Orangen, so
groß wie Fußbälle. Sind das Pomelos? Ich glaub die machen bald zu,
nur mehr ein paar Besucher sitzen an den Tischlein, keiner isst was,
keiner trinkt was.
Ich suche den Weg aus der Stadt, folge einer Art
Autobahn, komme an ein hässliches Gebäude aus Beton und Glas,
darauf in glänzenden metallenen Lettern centro administrativo,
dahinter brasilianische Flaggen auf Halbmast. Es dürfte was passiert
sein.
Meine
Suche nach Essen zieht sich in die Länge: An der nächsten Kreuzung
gibt es ein Dominos, aber ich mag keine Pizza. Dann entdecke ich ein
rotes Gebäude, Abierto 24h, also immer offen, der Amorecana
Club, dachte zuerst an Steaks und so, Americana,
aber daneben steht das Hotel Amora, also
eher wohl nix zum Essen und wenn, dann recht teuer und im
Zusammenhang mit nackten Menschen. Außerdem ist alles vergittert und nicht einsehbar, Geld hab ich auch keins.
|
Urlaubsfoto 2: Eher kein Restaurant mit Steakfleisch ... |
Endlich
aus der Stadt rausgefunden! Einfach zum Park zurück und in die
andere Richtung auf die Autobahn wärs gewesen. Lasse mich per
Anhalter mitnehmen und darf sogar selber fahren. Den Schildern nach
führt es hier nach São Paolo oder Brasilia, aber bis dorthin sinds
noch hunderte Kilometer und ich entscheide mich für Santa Juliana,
das ist nicht so weit weg.
Komme an
einer Polizeikontrolle vorbei, ein gelangweilter Polizist mit einem
Bierbauch beobachtet den Verkehr, ein zweiter lehnt sich an einem
Lieferwagen zum Fahrer hinein. Beide Polizisten schauen aus wie
Bauarbeiter, nirgends steht Polizei, sie haben keine
Waffe, vermute was anderes. Ist das eine Privatpolizei? Ein
Sicherheits- oder Ordnungsdienst? Lieber nicht stehenbleiben.
Die Erde
ist in dieser Gegend wirklich überall knallrot-braun, völlig
übertriebene Farbe, vielleicht ein hoher Eisengehalt? Ringsum
reichen weitläufige Felder und Grünflächen bis an den Horizont,
keine Ahnung was die da anbauen, sieht aus wie Mais, könnte
Zuckerrohr sein. Brauche einen Rum.
Hab jetzt
auf dem Weg nach Santa Juliana den Rio Claro überquert und suche auf
einem Campingplatz nach Essen. Gibt natürlich nix. Haben nur einen
Besucher mit einem Campingwagen. Er dreht mir den Rücken zu.
Nach
Stunden erreiche ich Santa Juliana. Werde begrüßt von einer
Tankstelle mit einer integrierten kleinen Kirche oder Kapelle gleich
neben den Zapfsäulen. Santa Juliana ist eine kleine Stadt, winzige
Häuser ducken sich hinter Mauern, alle so groß wie
Schrebergartenhütten, ein Lkw voller nackter Hühner kommt mir
entgegen. Sollte ein Lied über die federlosen Hühner von Santa
Juliana schreiben.
Sehr
bäuerliche Gegend, an jeder Ecke Traktoren, Erntemaschinen,
Rasenmäher und ähnlichen landwirtschaftlichen Krimskrams zu
verkaufen.
Ein
Autohändler macht groß Werbung mit einem Lamborghini oder sonstigen
Superflitzer auf seinem Schild am Dach, drunter ducken sich 30
ungewaschene Autos dichtgedrängt, kleine gebrauchte Stadtflitzer,
welch Diskrepanz!
Endlich
habe ich das Geheimnis der Briefkästen gelüftet, diese
Einkaufskörbe auf Stangen am Gehsteig sind einfach Miskübeln, drin
ist keine Post, einfach Müll!
So jetzt
kauf ich mir ein Eis, sorvetes frutos do
cerrado gegessen, geschmeckt hat's mir nicht, hab auf meinen
Reisen auch meinen Geschmackssinn verloren. Jetzt bin ich müde.
Gegessen hab ich, spazieren war ich im Park von Uberlândia, als
Sehenswürdigkeit nehme ich die Tankstellenkirche vor Santa Juliana,
fehlt noch ein Schlafplatz, dann ist mein erster Urlaubstag vorbei.
Zufällig
finde ich das Hotel Villa Comfort,
als Willkommensteppich haben sie ein Putztücherl/Geschirrtuch vor
den Eingang gelegt, schwer den Fuß drauf zu setzen, so klein ist es.
Die
Zimmer sind ok. Innen schauts aus wie in einem Warteraum einer
Arztpraxis in den 80ern, klinisch, clean, Fliesen, wenig Zierde,
Türschwellen wurden offensichtlich gestohlen, da klaffen Löcher
zwischen den Türrahmen. Mein Zimmer ist ein kleines Doppelzimmer,
zwei Betten, keine Einrichtung außer einem Spiegel, einem Kasten ohne
Türen, einem Fernseher an der Decke, Klima, WC mit Dusche, Nachtkastl. Bettwäsche wie in einem Krankenhaus mit grün-blauem Überzug. Der
Frühstückssaal ist rustikal, sechs kleine Tische, an denen niemand
sitzt.
Auf dem
Weg zurück in mein Zimmer durchquere ich eine Art Minilobby mit Glasdach
und vier großen Palmen, eine kitschige Glitzerdecke bedeckt eine
weiße Kunstledercouch, aber worauf sollte man hier warten? Ich finde
keine Menschen, das Hotel ist leer. Gute Nacht Santa Juliana. Morgen
bin ich anderswo.
Anm.:
Tagesreise nach Uberlândia, eine Art Reisebericht, von René Bauer,
durchgeführt während der Corona-Reisebeschränkungen 2020 mit
Google Street View auf einer Virtual-Reality-Brille zuhause in seinem
Schlafzimmer. Es folgen bald noch weitere Reisen.