„Während Stalin und Hitler gleichzeitig an der Macht waren,
starben mehr Menschen in der Ukraine als irgendwo sonst in den
Bloodlands oder in Europa oder auf der Welt.“
Timothy Snyder, Bloodlands
„Aber wer weiß eigentlich noch, dass der Frieden nur deshalb
von Dauer ist, weil es Institutionen gibt, die ihn jederzeit
erzwingen können?“
Jörg Baberowski, Räume der Gewalt
„Schon die Vorstellung, die Politik lasse sich von den
Wechselfällen des Lebens isolieren und zum Monopol nur einer
Gruppe oder einer Ideologie machen, ist unter den Bedingungen
des modernen Lebens nicht zu verwirklichen.“
Richard Pipes, Russland vor der Revolution
„Der Mensch als Zuschauer verdrängt Schritt für Schritt, ohne auf
Widerstand zu stoßen, den Menschen als Beteiligten.“
Gustaw Herling, Tagebuch bei Nacht geschrieben
„Im Krieg und auch ohne Krieg wird man alle erschießen, die
nicht zu uns gehören – oder sie werden ins Gefängnis gesteckt,
um dort einzugehen.“
Anna Politkowskaja, Russisches Tagebuch
1.
„Mögest du in interessanten Zeiten leben!“ gilt als Ausspruch
einer aus dem Chinesischen übertragenen Verwünschung. Wer wollte
abwehren, möchte ein Unbeholfener einwenden, Zeitläufte voller
Überraschungen zu erleben? Honi soit qui mal y
pense. Um gleich noch einen Wahlspruch aufzufahren, nämlich
jenen unverfänglichen der Ritter des Hosenbandordens. Deutet man die
Gunst des Schicksals so, welterschütternde Ereignisse aus der
Perspektive „siebte Reihe, fußfrei“ verfolgen zu können, wäre
die Sache an sich nicht zu verübeln. Vorausgesetzt man gefällt sich
in der Rolle des Zynikers. Was aber, wenn der Zuschauer es nicht mehr
bestimmt, dass er nur Zuschauer bleibt? Wenn nicht er, die Umstände
nutzend, Schlitten fährt, sondern die Umstände mit ihm Schlitten
fahren? Wenn man sich plötzlich so in die Dinge verstrickt findet,
wie man es nie sein wollte? Wenn die Politik sich
für die Menschen interessiert, dann wird es gefährlich, lautet
einer der Schlüsselsätze in einem Fragment gebliebenen Roman von
Friedrich Torberg. Wenn Menschen es sich nicht mehr aussuchen können,
kein Interesse an Politik zu zeigen… Natürlich ist das alles schon
einmal dagewesen. Geschichte wiederholt sich. Als Farce. Doch auch
eine Farce kann sich als todbringend erweisen.
2.
„…und anstatt zu versuchen, Frieden zu kriegen, gaben sie sich
wieder mit Kriegen zufrieden“, kommentierte Karl Farkas einst in
der Wochenschau den Ausbruch des
Korea-Kriegs. Liegt das zu lange zurück, um sich noch seiner
Bedeutung für die Entwicklungen in Europa bewusst zu sein? Oder
einfach zu weit weg?
In der achten Kalenderwoche des Jahres 2022 lässt der alternde
Autokrat Russlands, Wladimir Putin, seine Streitkräfte in die
Ukraine einmarschieren, um einen vorgeschobenen Genozid an ethnischen
Russen zu stoppen und eine ebenso vermeintliche Nazi-Herrschaft in
Kiew zu beenden. Das ist eine nicht nur nicht-erklärte
Kriegserklärung an den souveränen Staat Ukraine, sondern ein
Beutegriff auf die bestehende Weltordnung. Putin setzt seinen
Fiebertraum von der Revision des Zerfalls der Sowjetunion als
militärische Eskalation in die Realität um. Kein Menschenleben
zählt dem, der Opfer zu bringen fordert und doch nie auf den
Gedanken verfiele, sich selbst zu opfern. Stell dir vor, es ist Krieg
und keiner schafft es mehr weg…
3.
Im Februar beklagt eine in Großbritannien exilierte Hongkonger
Bürgerrechtsaktivistin in der Tageszeitung „Die Welt“ das
völlige Versagen Europas angesichts der Bezwingung der einzigen
demokratischen Enklave Festlandchinas durch den
staatskapitalistischen Postmaoismus. Ihre Philippika gemahnt an die
Brandrede des Negus vor dem Völkerbund, da er den noch freien
Nationen des Kontinents, die dem Überfall des faschistischen
Italiens auf Abessinien nichts anderes entgegenzusetzen wussten als
zahnlose Resolutionen, ihr kommendes Schicksal in Aussicht stellte.
Geschäftemacherei kennt keine Moral. Und ließe sich mit Teufeln
handeln, macht man sich vor, sie womöglich durch Handel zu bekehren.
4.
Ein Untoter ist wieder auferstanden in Europa: der
Krieg.
Wird er/es (schweiz.: das Malaise) mit dem
Fiasko des Aggressors enden?
Soviel steht fest: die Ereignisse beschämen die Gutgläubigen und
sie lehren die Untergangsapologeten das Fürchten. Sie zeihen
diplomatisches Verhandlungskalkül der Naivität und trübsinnigen
Pessimismus des mangelnden Realitätssinns. Niemand in den extremen
Positionen könne sagen, er oder sie habe es kommen gesehen, hätte
es kommen sehen müssen.
„You see, what you think you saw”, schätzte der Choreograph
William Forsythe einmal Sichtweisen ein. Und in der disruptiven Ära
der “alternativen Fakten” gilt: Du siehst, was du sehen willst.
Aber, objektiv betrachtet: War tatsächlich alles so
unabsehbar?
5.
Zu Zeiten von Glasnost und Perestroika
kam eine Zusammenarbeit von russischen und deutschen
Archäologiestudenten und -studentinnen zustande, die an einem
ehemaligen Frontabschnitt auf dem heutigen Staatsterritorium von
Belarus Gefallene exhumierten, um sie in der angemessenen Weise in
einen Soldatenfriedhof zu überführen. Die russischen Studenten
machten dabei eine besonders makabre Entdeckung: die skelettierten
Leichname von Rotarmisten, die Schusswunden aufwiesen, die eindeutig
belegten, dass sie in der zur Frontlinie feuernden Richtung, also von
hinten, erschossen worden waren. Der Umstand ihrer Tötung war weder
dadurch zu erklären, dass es Einheiten der deutschen Wehrmacht
gelingen konnte, Truppenteile des Gegners zu umfassen, was absurd
gewesen wäre zu einem Zeitpunkt, da über den Ausgang von
Kesselschlachten längst die sowjetischen Truppen allein geboten.
Noch durch eine bestimmte Form es militärischen Versagens, das der
notorische US-General Norman Schwarzkopf euphemistisch als Friendly
Fire bezeichnete. Vielmehr stießen die Archäologiestudenten
auf den handfesten Beleg einer Tatsache, die auch nach Kriegsende in
der UdSSR zu erinnern lebensgefährlich gewesen wäre: Um dem von
Stalin ausgegebenen Verbot des Zurückweichens zu entsprechen, saßen
den Rotarmisten beim Vormarsch gegen die Wehrmacht Spezialkräfte des
Militärgeheimdienstes im Nacken, die den an sie ergangenen
Schießbefehl immer wieder in die Tat umsetzten.
Im Dezember 2021 wurde die russische Menschenrechtsorganisation
Memorial, die sich vordringlich der
Aufarbeitung des stalinistischen Terrors widmete, nach einer Fülle
von Schikanen und Beschränkungen, durch Gerichtsbeschluss aufgelöst.
6.
Die Despotie fürchtet nichts so sehr wie die Selbstorganisation
mündiger Bürgerinnen und Bürger. Darum trachtet sie nach
Gleichschaltung, will Uniformität. Einheitspartei, gelenkte
Gerichtsbarkeit, Willkürjustiz und Schauprozesse, Medienzensur,
Unterdrückung der freien Presse und der Meinungsäußerung,
repetitive Propaganda konstruierter Bedrohung, Nationalgefühlsduselei
und Geschichtsklitterung sind ihre prägenden Charakteristika.
„Die Macht muss fälschen, weil sie in eigenen Lügen gefangen ist.
Sie fälscht die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft“,
schrieb Václav Havel 1978 in seinem politischen Essay Moc
Bezmocných (Von der Macht der Ohnmächtigen), der auf Deutsch
1980 unter dem Titel Versuch, in der Wahrheit zu
leben erschien. Wer dies unterlässt, so die Conclusio, lebt die
Lüge.
In der Lüge sich einzurichten, seine Landsleute in sie zu zwingen,
darin wurde Wladimir Wladimirowitsch zu lange auch von der
sogenannten freien Welt unterstützt.
Oppositionelle Stimmen wurden in Putins Russlands über Jahre
systematisch mundtot gemacht, weggesperrt, in die Flucht geschlagen
oder im wortwörtlichen Sinne tot gemacht. Umso bemerkenswerter ist
der Mut all jener, die heute in Sankt Petersburg, in Moskau oder wo
auch immer in Russland an die Öffentlichkeit treten, um zu bekunden,
dass sie mit dem Überfall auf Land und Leute in der Ukraine nicht
einverstanden sind.
7.
Wofür steht Europa? ist die unvollständige,
falsche Frage. Wofür ist man in Europa bereit
einzustehen? müsste sie präziser lauten.
Michail Gorbatschow prägte einst die berückende Analogie vom
gemeinsamen Haus. In einem
Mehrparteien-Wohnhaus kann niemand wohnen bleiben nach seinen/ihren
Regeln, der/die damit alles an wechselseitiger Verbindlichkeit
Ausverhandelte mit Füßen tritt.
Zivilisation verheißt die Obsoleszenz des Naturrechts.
Verführe man allgemein nach der Lenin-Methode (Ein
Schritt vor, zwei Schritte zurück), kehrte man zurück in die
Barbarei!
© Bernhard Hatmanstorfer