Literarische Triggerwarnung. Oder: Wie unheimlich, der
Mensch
Corinna Antelmann. mail@corinna-antelmann.com.
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„Öffne deinen Schädel doch nur einen Spalt, damit ich deinen
Geist erkunden kann“, lautet ein Satz, den die Ich-Erzählerin meines letzten
Romans Kafka zuspricht, obwohl er dem Schädel eines Kommilitonen entsprang. Die
Zeile kommt ihr bei dem Gedanken in den Sinn, „wie hübsch konservenmäßig
geschlossen ein Schädel doch ist. Und dann überlege ich, wie der passende
Büchsenöffner aussehen müsste. Liebe vielleicht?“[1]
Die Literatur vielleicht?
Schreibend tätig zu sein, kann vielerlei bedeuten: Kommendes
vorwegnehmen. Vergangenes beschreiben. Bekanntes neu zusammenfügen oder das
Unbekannte hervorholen. Ich finde mich darin wieder, wenn Christa Wolf sagt,
für sie sei das Schreiben immer mehr der Schlüssel zu dem Tor geworden, hinter
dem die unerschöpflichen Bereiche ihres Unbewussten verwahrt seien.[2]
So vielfältig die Ansätze, zu schreiben, also auch sein mögen:
Stets öffnet die Literatur eine Tür, die uns in in die Köpfe anderer Menschen eintreten
lässt und somit Einblicke in ihr Denken und Fühlen gewährt.
Diese Möglichkeit ist es, die mich an der Literatur,
schreibend und lesend, immer am meisten interessierte und interessiert, denn
sie leistet, was auch jede unvoreingenommene Begegnung leisten kann. Vorausgesetzt,
sie wird von Neugier begleitet. Von der Neugier, uns neben dem Bekannten ebenso
mit all dem zu konfrontieren, was wir ablehnen, auch, oder gerade, wenn es auf
die eine oder andere Art Unbehagen auslöst.
Freud schreibt: „Unheimlich nennt man Alles, was im
Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist“[3], also eigene verdrängte
Ängste und Wünsche, in denen sich die Facetten unserer Erfahrung und unseres
Menschseins zeigen, die ganze Bandbreite dessen, was sich menschliches Leben
nennt, einschließlich des Todes.
Und so kann uns manch literarischer Text unheimlich
erscheinen, wann immer es ihm gelingt, eine Sprache für das zu finden, was wir
von uns weisen möchten, statt es in die Schatten zurückzudrängen, denen es zu
entstammen scheint. Denn in den Büchern, da laufen sie ungehemmt herum, die
Figuren, und begegnen auf die eine oder andere Art diesem Zurückgedrängten,
indem sie die Konfrontation mit sich selbst nicht scheuen oder in anderen gespiegelt
sehen, was sie zu vermeiden trachteten. Und mehr noch: Die Leserinnen selbst
sehen sich gespiegelt, sobald sie hineinschlüpfen in die Buchseiten und dort
dem Fremden begegnen, das sich in dieser oder jener Figur zeigt.
Oder gar in einem Gespenst?
Das Gespenst, das in der Literatur herumwandert, schaut uns
aus den Buchseiten entgegen und lässt uns das zurückgedrängte Vertraute als
Fremdheit in uns selbst erblicken.
Wie unheimlich ist das, bitte?
Ja, in den Varianten der beunruhigenden Fremdheit zeigen
sich Verhaltensweisen, die wir nicht an den Tag legten bisher, Gefühle, die wir
nicht kennen oder nicht zu kennen behaupten, und die uns dennoch näher sind als
wir wahrhaben wollen, denn alle teilen wir die Erfahrung von Menschsein.
Und deshalb erscheint mir vielmehr beunruhigend, wenn Verlage
darüber nachzudenken beginnen, oder bereits durchsetzen, was anderorts, zum
Beispiel auf Netflix, ohnehin üblich ist: Trigger-Warnungen auszusprechen.
Dadurch sollen die Leserinnen davor geschützt werden, sich ein Buch zuzumuten, das
Inhalte transportiert, die Unwohlsein hervorzurufen imstande ist. Es wird wohl als
Dienst an den Kundinnen verstanden, vorzuwarnen, wenn ihre Gefühle durch
Sprache, Denken oder Verhalten einer Figur, verletzt werden könnten, gleichgültig,
ob sie dem Spektrum des menschlichen Daseins entsprechen mögen.
Die gute Nachricht: So müssen wir uns weder länger mit
Motiven von Andershandelnden auseinandersetzen noch mit den Motiven von
Andersdenkenden. Müssen weder unsere moralischen Urteile überdenken noch die
eigene Blase je verlassen.
Die schlechte Nachricht: Wir müssen die eigene Blase nicht
verlassen.
„Es trägt dem, der weise werden will, einen reichlichen
Gewinn ein, eine Zeitlang einmal die Vorstellung vom gründlich bösen und verderbten
Menschen gehabt zu haben“[4], schreibt
Nietzsche 1886 und räumt zugleich ein, dass diese Vorstellung ebenso falsch sei
wie die Vorstellung des sich moralisch überlegen fühlenden Menschen, der
vorgibt, ihm seien sogar gedankliche Kränkung und Bosheit unbekannt.
Als Autorin versuche ich stets, eine Sprache zu finden für
die Empfindungen und Widersprüche, für Ungewolltes und Abgelehntes sowie
Erwünschtes und Ersehntes, nicht aber moralisch abgesichert zu schreiben, um das
Versprechen einzulösen, niemandem wehzutun. Dieses Vorgehen speist sich aus der
Überzeugung, dass jede noch so unbequeme Perspektive zu einem gegenseitigen
Verständnis beiträgt. Sich allein mit dem zu beschäftigen, was mich nicht
anficht und dabei der Konfrontation auszuweichen mit alldem, was der Mensch zu
tun in der Lage ist, sich allein mit Büchern auseinanderzusetzen, die mir die
eigene Weltsicht bestätigen, verhindert den Blick auf das oben beschriebene
Fremde, das uns allen innewohnt.
Literatur drückt das Gemeinsame aus, das Verbindende. Sie
ist kein Dienst an den konsumierenden, sondern an den Menschen in seiner
Ganzheit. Sich wohlfühlen mag ein Maßstab für den Möbelkauf sein, nicht aber für
das Lesen von Büchern. Weichen wir nicht aus. Begegnen wir den eigenen
Verletzungen und suchen sie auszudrücken. Verlassen wir die Komfortzonen, in
denen wir uns nur deshalb möglichst wohlfühlen sollen, um weitere
Wohlfühlgegenstände um anzusammeln und an Lifestyles zu stylen, die uns zu
unterscheiden trachten. Denn literarische Begegnungen im vorauseilenden
Gehorsam von aller Unbehaglichkeit zu reinigen, führt zu einer Kultur, die dem
Menschen nichts zuzumuten traut.
Und so werde ich weiterhin meinem Antrieb folgen,
Figurenrede und Autorinnenmeinung zu unterscheiden und in eben diesen Figuren,
mit denen ich nicht immer einer Meinung sein muss, schreibend und lesend zu
begegnen: ob Täter oder Opfer, schwarz oder weiß, jung oder alt, Mann oder
Frau. Mit all ihren Haken und Ösen und Abgründen. Mit Widersprüchen, Ängsten
und Hoffnungen.
In all ihrer Vielfalt.
Vergl. Wolf, Christa (1986): Die
Dimension des Autors, Bd II. Essays und Reden I und II, Gespräche Auswahl:
Angela Drescher. Berlin/Weimar