Die digitale Plattform für oberösterreichische Literatur: Rezensionen, Veranstaltungen, Publikationen, Essays. Wenn Literatur in der medialen Öffentlichkeit nicht mehr vorkommt, übernehmen wir das eben selbst. Kritik erwünscht!
Samstag, 25. April 2020
Freitag, 24. April 2020
Drogen-Apnoe, Nackenkrebs und fette Spatzen im Wind // Meindl im Lockdown
Von Dominika Meindl. Nachrichten aus dem Inneren, Teil 2
1. April
Mir
träumt jetzt viel von Skitouren. Vorgestern sollte ich kurzfristig
für das Festival der Regionen in die Schweiz, und zwar mit Sting(!?)
als Bergführer, der auch freundlich blieb, als er mir die ganze
Ausrüstung zusammenschnorren muss, weil man in Träumen nie weiß,
was man in der Früh alles einpacken soll. Gestern musste ich eine
letzte große Prüfung ablegen, damit mein Leben seine Richtigkeit
hat – leider hat es einen schönen Schnee, sodass ich mich nicht
konzentrieren kann, und leider ist das Prüfungsfach Chemie, sodass
ich nicht einmal den Angabentext verstehe.
Abb. 1.: Symbolbild "Meindl kommt nicht hin, wo sie hinmöchte"
2.
April
In
der Nacht habe ich vergessen, wo mein Auto steht; schon etwas
verzweifelt läute ich bei Franz Schuh(?!), der hilfsbereit, aber
keine Hilfe ist. Zerrüttet gehe ich zurück auf die Straße, da
steht mein Volvo 244 GL und tut, als wäre nichts gewesen (und als
hätte er es mir im wahren Leben verziehen, dass ich ihn damals um
4000 Schilling nach Nigeria verklopft habe).
Ganz
ich selbst sein zu dürfen, ist ein Privileg, das ich mir alleine
vorbehalte (es hat viel mit zerrissenen Pullovern und ungewaschenen
Haaren zu tun).
Mit
wachsendem Interesse beobachte ich die Vogerln vor dem Fenster
(=Symptom wachsender Verrücktheit).
3.
April
Nützliche
neue Begriffe: „Cyberloafing“ („das Internet auslesen“) und
„Wohlfühlpanik“ (Grissemann).
Weil
mich die gefiederten Freunde immer stärker begeistern, schicke ich
der Familie Whatsapp-Nachrichten wie „Ein Rotkehlchen hat gerade
vom Apfelbaum gekackt“, „Drei Stieglitze rumoren im Vogelhaus“
und „Ich frühstücke jetzt immer zwei Stunden lang wegen der
Ornithologie!“, und eine Schwester schreibt nur „Was wäre der
Unterschied zu deinem früheren Leben?“ Die herrliche Beobachtung,
dass sich eine Blaumeise den Flaum, den sich die raufenden Stieglitze
gegenseitig ausrupfen, zum Nestbau fladert, vergönne ich der
undankbaren Mischpoche nicht mehr. Frisurenmäßig nähere ich mich
übrigens zusehends den Haubenmeisen an.
Abb. 5.: Lopophanes cristatus. Charakteristisch ist die schwarz-weiß gemusterte Federhaube.
5.
April
In
der Nacht wird mir ein inoperabler Hirntumor diagnostiziert, mehr als
ein Jahr sei nicht mehr drin, sagte der Arzt nebenbei. Ich bin
enttäuscht von mir selbst, weil ich beim Romanschreiben so faul
gewesen bin und jetzt nichts habe, was ich einem Verlag mit dem
verkaufsfördernden Hinweis auf meinen Tod aufschwatzen könnte. Als
ich überlege, einfach im Toten Gebirge verschollen zu gehen, wache
ich auf. Nie mehr Weißwein vor dem Schlafengehen.
7.
April
Mangels
Deadlines fehlt mir etwas der Zug am Ski. Ich organisiere lauter
Sachen und ärgere mich, dass ich so viel organisieren muss, weiß
aber, dass ich eh nichts anderes zu tun habe.
Ein
Drittel meiner Vögel sind graues Gefleder, die zu führen meine
Bestimmbücher sich zu schade sind. Ich solidarisiere mich
(=manifester Wahnsinn).
8.
April
Ich
glaube schon, dass es mir gut geht, aber vielleicht auch nicht, man
kann das nie ganz wissen. Der Körper spricht zu mir: Mein Genick ist
so weh und steif, dass ich mich bewege wie Fester von der Addams
Family. Alle schwärmen jetzt vom Himmel ohne Kondensstreifen, nur
ich kann den Kopf nicht heben. Wie die armen Schweine, die ihr kurzes
Lebtag lang nicht nach oben sehen können.
Ob
die Quarantäne einmal als ergiebige Zeit in die Kunstgeschichte
eingehen wird? Eher nicht, wir beschäftigen uns jetzt alle noch mehr
mit uns selbst; und alle, die wirklich etwas erleben, haben keinen
Nerv, darüber auch noch einen Roman zu schreiben. Siehe Facebook;
alle nähen Masken, backen Brot und führen sich in den
Kommentarsektionen auf wie die Stieglitze im Vogelhaus. Sobald ich
unseren Kanzler bei einer seiner messianischen Verkündigungen sehe,
zetere ich selbst wie ein Rohrspatz (zum Glück bin ich nicht auf
Twitter).
9.
April
Am
Spering-Sattel ab Höhe der Funkstation liegt noch so viel Schnee,
dass ich mit meinen Halbschuhen eigentlich umdrehen sollte, aber die
Beine stapfen unvernünftig weiter wie pubertierende Zwillinge, und
bald stehe ich mit waschelnassen Zehen in einem nordseitigen Hang,
nach oben sehen kann ich nicht, wegen meines furchtbaren Genicks, und
ich frage mich, warum ich so etwas IMMER mache, ein jedes Mal stehe
ich beim Wandern irgendwo in der Botanik, weil ich die Person bin,
die ich bin.
Abb. 3.: Schillereck. Charakteristisch ist die schwarz-weiß gemusterte Gipfelhaube.
Im
Traum trage ich meinen japanischen Godzilla-Gummikopf als
Atemschutzmaske, was wirksam ist, weil er mich generell am Atmen
hindert. Ich erwache und finde mich auf dem Rücken um Atem ringend,
offenbar in Novalgin-Apnoe. Der Nacken ist so schlimm geworden, dass
ich mir den Kopf halten muss, wenn ich mich umdrehen will.
Am
Morgen handle ich wie jeder erwachsene, vernünftige Mensch: Symptome
googeln (Suchanfragen „Gibt es Nackenkrebs“ und „Tod durch
Halswirbelsäulenarthrose“) und dann den Vater anrufen, dabei
versuchen, nicht gar zu jämmerlich zu klingen. Er rät zu Voltaren,
wie seit 42 Jahren. Gerissene Kreuzbänder? „Nimm' die 100er.“
Liebeskummer? „Eine retard,
auf den Magen aufpassen.“ Einkommensverlust durch Corona? „Eine
50er zum Frühstück, und nimm' dir in der Zwischenzeit das Geld, das
ich für die Putzfrau liegen lassen habe.“ Ich nehme eine Voltaren
dissolv,
dann trage ich die riesigen Blumenkübel in den Garten und habe am
Nachmittag schon vergessen, dass ich beinahe an meiner Vorerkrankung
verstorben wäre.
Abb. 4.: Godzillakopf auf Meindlleib. Charakteristisch ist die schwarz-grün gemusterte Gummihaube.
10.
April
Als
Vegetarierin am Karfreitag ein Porträt über den Leberkaspepi
schreiben. #wertewandel
12.
April. Ostersonntag
„Buttinger,
steh' auf, ich hab' dir ein Osternest versteckt.“
„Erklär'
mir die Regeln.“
„Was?!“
„Sonst
finde ich es nie.“
„Deine
Wohnung ist nicht Sibirien!“
„Sag'
mir wenigstens, ob es in einem Kastl ist.“
„BUTTINGER!“
Er
steht unwillig auf, geht umweglos ins Badezimmer und bückt sich nach
der Whiskeyflasche, die ich ihm liebevoll in den Schmutzwäschekorb
gelegt habe.
13.
April
Jeden
Montag schaue ich im Kalender nach, ob diese Woche eh nichts ist. Die
Spuren der Eintragung „Slowenien Skitour Abfahrt“ sind fast nicht
mehr zu erkennen.
Mein
Erwerbsleben kann sich so wenig zwischen Dasein und Tod entscheiden
wie ein Zombie; zu tun hätte ich immer etwas, bezahlt werde ich
dafür auch ohne Corona nie und ich brauche keine Quarantäne, um die
Besteckladen neu zu sortieren, anstatt den depperten Roman fertig zu
schreiben. Die Ex-Erziehungsberechtigten rufen akkurat in dieser
sensiblen Phase an, sie hätten in den OÖN einen Job für mich
gefunden (Leiterin der KTU-Bibliothek, „du sortierst doch eh so
gerne Bücher!“).
16.
April
Ein
Waldpfad auf den großen Größtenberg (wer denkt sich eigentlich die
Namen für die Berge aus?). Mein rechtes Knie hört sich jetzt bei
jedem Schritt an, als habe ich ein knisterndes Plastikpapierl in der
Hosentasche vergessen. Es tut nicht weh, aber wegen meiner Misophonie
zermürbt mich das Geräusch bald. Zum Glück erreiche ich die
Schneegrenze, das Knirschen wird vom Stapfen durch das dreckige
Sorbet überdeckt. Bald stehe ich mit nassen Zehen im
Latschendickicht.
18.
April
Ohne
es zu beabsichtigen verkleide ich mich jetzt beim Gartenarbeit als
mein Vater. Ich trage sein altes Zeug auf. Die Beine in seinen alten
Arbeitsschuhen sind nicht mehr allein meine eigenen; ein Moment wie
damals, als ich mit meiner Hand in den Pullover fuhr und am Ende die
Finger meiner Mutter herauskamen. Nur noch die Neigung zu Heavy Metal
und … nein, mir fällt nichts anderes mehr ein, das mir als Zeichen
meiner familiären Individualität geblieben wäre, höchstens noch
meine politische „Linksradikalität“ (oö. Gütesiegel). Ah: und
die „Höhe“ meines Einkommens. Abgesehen davon ist ab jetzt
Widerstand gegen die genetische Programmierung zwecklos.
19.
April
Die
Spatzen sind dank meiner übertriebenen Fürsorge so dick geworden,
dass sie das Einflugloch in den Nistkasten durch Schnabelhiebe
vergrößern müssen.
21.
April
Das
Baumhaus knarrt in den Wanten wie ein mürbes Piratenschiff. Der Wind
wirft die Amseln (auch sehr dick heuer) in den Flieder. Mir kommt
vor, dass diese Aufzeichnungen so etwas wie ein Dankbarkeitstagebuch
sind, wie man es gegen seelische Verstimmungen empfiehlt.
Abb. 4.: Der Ort, an dem Dankbarkeit praktiziert wird.
Donnerstag, 23. April 2020
Verschieb nichts und am wenigsten das Leben
Von Corinna Antelmann
»Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen«, höre ich meinen Vater sagen, während ich den Satz an meine Tochter richte, »setzen wir uns an unsere Arbeit.« Und nach dem erwarteten Protest, fällt mir noch einmal mein Vater ein; ich triumphiere: »Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute.«
»Verschone mich mit
solchen Sprüchen«, sagt meine Tochter.
»Morgen vielleicht«, sage
ich.
»Oh, bitte«, sagt mein
Liebster. »Wieso genießen wir nicht einfach den Tag?«
»Heute?«, frage ich.
»Was du heute kannst …«,
kommt es einstimmig zurück.
Wiewohl in einem
Konflikt, verschiebe ich weder noch: Mit sofortiger Wirkung stelle ich erstens
das Sprüche-Klopfen ein, dann mache ich mich zweitens an meine Arbeit, während
der Rest der Familie spazieren geht. Noch heute will ich alles erledigen, um
morgen den Tag zu genießen, vielleicht, falls alles erledigt sein sollte, das
heißt: Ich beherzige meines Vaters Rat. Oder auch: Ich habe keine Wahl. Seine
Ratschläge sind unfreiwillig in mein eigenes System gewandert. Und ich bin ihm
zu Dank verpflichtet, denn das Verschiebe-Verbot hilft mir seit jeher durch das
System der freischaffenden Tätigkeit. Ich wäre nicht dort, wo ich bin, wenn er
nicht in mir gesessen und mir zugeflüstert hätte, mich an den Schreibtisch zu
bewegen, die Dinge anzugehen, nicht zu warten auf den richtigen Augenblick, den
richtigen Tag.
Sondern gleich.
Nur hin und wieder zeigt
das Gebot seine zweite Seite, zum Beispiel innerhalb des Familien- und
Beziehungssystems.
»Genau«, ruft mein
Liebster dazwischen, »unterschätz niemals die Bedeutung der Pause. Denn sieh
nur: der Himmel, das Feld, das Rauschen und Blitzen und Jubilieren.«
Jajaja, ich weiß, er
trauert und den gemeinsam verbrachten Tag, um den es gehen könnte, sollte,
müsste …? Aber neinneinnein, das Müsste verhindert, eine Pause einzulegen, um
beispielsweise heute spazieren zu gehen, statt dafür auf das Morgen zu hoffen.
Verschieben wir die
entspannten Tage auf Unbestimmt, aber …?
»Aber, Vater, wenn du
sagst: Verschiebe nicht auf Morgen, dann heißt das doch …?«
»Das Gebot gilt weder für
Pausen noch für Spaziergänge, sondern für Tätigkeiten.«
»Aha«, sage ich, »noch
eine Frage: Ist das Spazierengehen untätig?«
»Sinnvolle Tätigkeiten«,
spezifiziert er.
Ich kenne jemanden, der
würde widersprechen.
Und so hat jedes Ding,
wie stets, zwei Seiten: Die Arbeits-Disziplin ist ein hohes Gut, ich weiß es
wohl, doch was ist der Mut zum Liegenlassen anderes? Er kann Kräfte freisetzen,
die sich andernfalls festsetzten in der Verbissenheit des Tuns.
Schon Eichendorff ließ
seinen Taugenichts spielen und singen:
Ich hatte recht meine
heimliche Freud‘, als ich da alle meine alten Bekannten und Kameraden rechts
und links […] zur Arbeit hinausziehen, graben und pflügen sah, während ich so
in die freie Welt hinausstrich.
(Joseph von Eichendorff,
Aus dem Leben eines Taugenichts, 1817-1823: Vers 29/30)
Ein ewiger Sonntag, wie
schön!
Während des Shutdowns, in
dem wir uns befinden, während ich diesen Text verfasse, schwören wir insgeheim,
nie wieder zu verschieben, was wir immer schon hatten TUN wollen, nun jedoch
erschwert wird (abgesehen von den Spaziergängen). Die Arbeit, sie fehlt
denjenigen von uns, die sie nicht länger ausüben können, dürfen, müssen … Ja,
die sogenannte Krise, die morgen schon wieder Vergangenheit sein kann, versetzt
uns in den uns ungewohnten Zustand, nicht zu wissen, was das Morgen bringen
wird, und ob die Verschiebung, die wir gezwungenermaßen vornehmen müssen,
sinnlos ist, oder ob es andersherum gerade die Verschiebung ist, die manch
einer Tätigkeit erst wieder ihren Sinn verleiht, weil heute nicht möglich ist,
was morgen wieder gehen könnte. Weil alles, was ich zum Beispiel hier und heute
schreibe, morgen wieder anders sein kann.
Anders sein wird.
Also doch lieber
vertagen?
»Verschieb nichts«, sagt
meine Vater, »du weißt nicht, ob es morgen erst recht nicht mehr möglich ist.«
Nein, das weiß ich nicht.
Mascha Kaléko schreibt in
ihrem Gedicht Möbilierte Melancholie:
Mein bester Freund ist
nach Stettin gezogen.
Der Vogel Jonas blieb mir auch nicht treu.
Die Winterlaube hat der Sturm verbogen.
- Nun sitz ich da und warte auf den Mai.
Der Vogel Jonas blieb mir auch nicht treu.
Die Winterlaube hat der Sturm verbogen.
- Nun sitz ich da und warte auf den Mai.
Ist‘s im Mai vorbei?
Mein Vater sagt, aufschieben
bringe nichts und meint die Pflicht, die Arbeit, nicht jedoch das Untätig-Sein
in dem Sinne, was mein Liebster darunter versteht (oder meine Tochter) und ein
Sammeln, Sich-Sammeln meint, das später dann, später, zurück in die Aktivität
führt. Aber auch das Innehalten lässt sich nicht verschieben; vielleicht
zulange schon haben wir es verschoben, nun bleibt uns keine Wahl: Wir können es
zurzeit nicht verschieben, selbst wenn wir wollten.
Und da wir nicht wissen,
was das Morgen bringt, können wir es gleich lassen.
Und da wir nicht wissen,
was das Morgen bringt, sind wir frei, uns alles auszumalen, was gehen wird und
zu leben, als wäre es schon heute da.
Jetzt ist Jetzt und das
Beste, das uns zur Verfügung steht. Und die Wahrheit ist: Zu keiner Zeit, nie,
wissen wir, wie das Morgen aussieht, was er bringt, denn: Wir Menschen sind
sterblich und daher verletzlich; vielleicht vergessen wir es von Zeit zu Zeit,
in unserem Streben nach unendlichem Wachstum.
Nach Unendlichkeit.
Sterbliche Schönheit ist
mir oft schmerzlich, sagt der Vampir Louis im Interview mit einem Vampir von
Anne Rice.
(Anne Rice, Interview mit einem Vampir (1976), Frankfurt, 1989: 183)
(Anne Rice, Interview mit einem Vampir (1976), Frankfurt, 1989: 183)
Anders als der moderne
Mensch beginnt er im Laufe seines Vampir-Lebens mehr und mehr unter der Ewigkeit
zu leiden und neidet den Menschen die Sterblichkeit. Was ihm fehlt ist das, was
wir zu überwinden suchen: Die Begrenzung durch den Tod, denn nur das Wissen um
die Sterblichkeit ermöglicht das Leben, aber -
- doch noch nicht heute!
Verschieben wir es noch ein bisschen.
Der Tod lacht und scherzt und kommt, wann immer er will.
Eben noch beschließt er,
nach Kislowodsk zu verreisen, - der Fremde sah durch die Augenschlitze Berlioz
an, - ist ja auch keine große Sache, nicht wahr? Doch ist er nicht einmal dazu
mehr fähig, weil er aus Gott weiß welchem Grund plötzlich ausrutscht und -
schwups! - unter eine Trambahn gerät.
(Michail Bulgakow,
Meister und Margarita (1966), München, 2015: 19)
In meinem Jugendbuch Saskias
Gespenster dagegen weiß der Junge Oskar, dass ihm nicht viel Zeit bleibt. Eine
Krankheit kündigt an, dass sie ihn bald schon sterben lassen wird. In diesem Falle
wundert es mich nicht, dass er diesen Spruch klopft, der meinem Vater gefällt:
»Vertagen wir unsere
Verabredung eben auf nächste Woche.« Er zwinkerte ihr zu. »Was ich nur ungern
tue, denn was du heute kannst besorgen ...«
»... das verschiebe nicht
auf morgen«, ergänzte Saskia.
Den Spruch kannte sie zur
Genüge von ihren Eltern.
Wollen wir wirklich
wissen, wann es soweit ist? Ist das besser? Für Bulgakows bedauernswerten
Berlioz, den die Tram überfährt, wäre es zu dem Zeitpunkt, an dem er von seinem
baldigen Ende erfährt, ohnehin zu spät gewesen, seine Reise nach Kislowodsk
vorzuverlegen. Aber vielleicht hätte er überlegt, noch einmal spazieren zu
gehen. Oder sein Buch zu Ende zu lesen.
»Was du heute kannst besorgen ...«
Schon gut, schon gut. Es
stimmt ja, wenn ihr mich fragt, Leute: Verschiebt nichts und am wenigsten das
Leben, welches das Blitzen und Rauschen und Jubilieren miteinschließt. Den
Spaziergang, das Singen, das Spielen, die Pause, die Arbeit (egal, wie sinnvoll
oder sinnlos es derzeit zu sein scheint) und das Lieben, das zuallererst. Denn
was bringt es, alles zu verschieben auf die Zeit DANACH? Nach der Arbeit, nach
der Pflicht, nach dem Corona-Virus? Wie sinnvoll ist das, wenn wir doch
sterblich sind? Lebt wild und gefährlich. Hier und jetzt und heute. Und morgen
auch noch, so Gott will.
Das weiß allein der
Teufel.
Und deshalb: Auch, wenn
ich alle Sprüche nur mehr sparsam verwenden werde in Zukunft, ich meine es
ernst: Mein Dank gehört dir, Papa.
Ich sollte es ihm heute
noch sagen.
Dienstag, 21. April 2020
Aufgelaufen in Quarantanien - Nachrichten aus dem Inneren
Von Bernhard Hatmanstorfer
Das Schöne an einem Flor an Möglichkeiten ist genau das: ein Bukett
an Möglichkeiten, aus dem eine zu ergreifen man nicht gezwungen ist,
um sich seiner zu erfreuen. Etwa die Wahl zwischen, sagen wir,
Base-Jumping, Botanisiertrommelfüllen oder einen drauf zu machen mit
Freunden im Gastgarten. Um sich dann trotzdem dafür zu entscheiden,
einer virtuosen koreanischen Konzertpianistin & Korrepetitorin zu
ihren Übungsanfällen die Notenblätter zu wenden. Wie anders
verhält es sich aber, wenn einem das Vielfache an Möglichkeiten mit
einem Schlag versagt bleibt? Und man sich in Selbstvorwürfen der
Sorte ergeht: Hätte man doch, als es noch ging…
Blöd gelaufen. Sich an die Stirn zu klatschen, hilft aber auch
nichts.
Nach Abhilfe vergebens sucht man im Kühlschrank. Das Bier, dem eben
erst ausgetrunkenen nachgelegt, ist dafür noch zu warm. Man versenkt
sich in die Lektüre von Büchern und wähnt sich beim Wiederlesen
einst unterstrichener Passagen der Holzköpfigkeit überführt. Warum
nur konnte man sich nicht merken, was zu merken man sich vorgenommen
hatte, um es ein-, zweimal sloterdijkmäßig in jeweils
passendem Zusammenhang zitieren zu können? Warum bloß vermag man
auch in Zeiten des verordneten Eigenheimkarzers Fremdsprachen nur
nach der Lenin-Methode zu lernen? Ein Schritt vor, zwei Schritte
zurück. Da möchte man aus dem Fenster springen, aber man wohnt
nicht so hoch oder so gediegen, als dass es etwas hermachen würde
wie bei Stuckrad-Barre im Chateau Marmont.
Gafft man aus dem Fenster, sieht man den Hausherrn von gegenüber –
der der Konzertpianistin einst das Quartier wegen Lärms
gekündigt hat und sich leidenschaftlich mit Leergebindesammeln
beschäftigt, weil ihm als Partikülier an gewichtigem Betreiben
offensichtlich sonst nichts obliegt – wie er Glasscherben von der
Schippe in die grüne Tonne beserlt. Aufschdeh, auziagn, owegeh
in d’goschn haun, wie es in Georg Danzers Lied vom Wessely
heißt? Gäbe es da nicht das geltende Ausgangsreglement, wägt man
es kurz ab. Man finge sich, sich dem widersetzend, mindestens eine
Anzeige wegen Körperverletzung ein.
Also turnen in den eigenen vier Wänden. Kann es etwas Affigeres
geben? Ja, nämlich seine Wände zu tapezieren. Oder, wie Čechov
erkannte, Laubsägearbeiten.
Dem Geschrei nach zu urteilen, zersägen sich Nachbars gerade
gegenseitig.
Man hört regelmäßig Radio. Natürlich Ö1. Und verpasst trotzdem
die Sendung, die neueste Kompositionen der mit dem Grawemeyer
Award Bedachten Chin Un-suk vorstellt.
Die Post stellt einem ein weiteres Rezensionsexemplar für die von
einem Kumpel betreute Japan-Web-Seite zu. Eine schöne Dissertation,
die sich kulturhistorisch mit dem Aufstieg Tokios zur
Gourmet-Weltstadt befasst. Man bedankt sich mittels blízpost
bei der dafür Verlagsverantwortlichen in München. Eben hatte die
Süddeutsche berichtet, in der Fasanerie wäre eine
chinesischstämmige Münchnerin von einem Halbdebilen unter „Corona!
Corona!“-Geschrei mit einem Antiseptikum attackiert worden. Die
Verlagsverantwortliche antwortet, sie lese die FAZ. Fasst man es? Es
rinnt noch viel Wasser die Rur runter, ehe Deutschland sein Ischgl
benennt: Heinsberg.
Man fängt an, Zeitungen (die die Bezeichnung verdienen; also keine
Arschwische) zum Thema für eine Zeitkapsel zu sammeln –
warholmäßig. Und weil einem schön langsam flau wird.
Slavoj Žižek verkündet in der Neuen Zürcher, Hegels
Analyse „Der Geist ist ein Knochen“ paraphrasierend, „Der Geist
ist ein Virus.“ Bramarbasierte er doch mit weniger Beunruhigendem,
dünkt einem.
Giorgio Agamben wird fuchsteufelswild und schmettert einen
Rundumschlag gegen einen sich totalitär gebärdenden Staat und eine
katholische Kirche, die auf ihre Mission pfeift.
Für die Zeitkapsel legt man unter anderem ab: Die Karikatur aus dem
Economist vom 14. März, die den geplanten Einkauf des
Notwendigsten vor dem Rückzug ins Home-Office sarkastisch
thematisiert: KLOPAPIER & DESINFEKTIONSMITTEL SIND ALLE!
Man kann Mutter im Pflegeheim nicht besuchen. Die, obwohl nur sehr
eingeschränkt mobil, droht damit sich abzuseilen.
Martin Amanshauser reist zur Abwechslung einmal nicht weit, weit weg
oder ins Trappistenkloster, sondern tritt in die Fußstapfen Xavier
des Maistres, leiert also die Voyage autour de ma chambre
neu an. Es heißt, K.-M. Gauß habe das auch schon gemacht, vor
Pandemiezeit. Man selbst trifft auf der Tour allenthalben den
Staubmolch.
Als Hörbuch zieht man sich Safranskis kongeniale Goethe-Studie rein.
Und bekommt auch da von CORONA zu hören. Allerdings: Corona
Schröter.
Die Berichterstattung über die Fälle der Erkrankungen lässt einen nicht
unberührt, es sei denn man wäre aus gebranntem Ziegelton, sprich:
ein Backstein. Oder der Golem selbst. Aber als goj? Finde
einem Virus eine Vakzine, auf dass es sich vertschüsst wie ein
Bauernfänger, dem keiner mehr auf den Leim, geht…!
Kurze Ausflüge in die Botanik werden im Anti-G7-Outfit gestartet.
Man könnte glattweg als Verlauster mit Radikalisierungsgelüsten
durchgehen, sähen die anderen auch nicht viel besser aus in ihrer
improvisierten Kostümierung.
Und schon wieder steht Linz vor einem Abriss. Bald wird diese Stadt
das Bielefeld-Schicksal erleiden, von der auch kein vernünftiger
Mensch glaubt, dass sie tatsächlich existiert.
Begeisterung, heruntergedimmt, kommt nur auf, wenn man feststellt,
dass im Kühlschrank zwischenzeitlich das Bier kalt geworden ist. Und
man noch Schnaps in der Speis hat.
In wiederkehrender Niedergedrücktheit sinnt man dem Ableben der
Künstlerin Emilie Goldmann (
Dezember 1992) nach. Und natürlich, wie schon hunderttausendmal
vorher, kommt ein beklemmendes Würgen im Hals dabei heraus.
Völkern der Wüste, heißt es, gilt der Tränenfluss als Vergeudung
von Wasser.
Und noch ein Runterzieher: Ror Wolf ist tot.
Könnte man doch, die Arme hochreißend, Ist nicht wahr
ausrufen, um es nicht wahr sein zu lassen!
Bernhard Hatmanstorfer, März/April 2020
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