Freitag, 24. April 2020

Drogen-Apnoe, Nackenkrebs und fette Spatzen im Wind // Meindl im Lockdown

Von Dominika Meindl. Nachrichten aus dem Inneren, Teil 2
 
1. April
Mir träumt jetzt viel von Skitouren. Vorgestern sollte ich kurzfristig für das Festival der Regionen in die Schweiz, und zwar mit Sting(!?) als Bergführer, der auch freundlich blieb, als er mir die ganze Ausrüstung zusammenschnorren muss, weil man in Träumen nie weiß, was man in der Früh alles einpacken soll. Gestern musste ich eine letzte große Prüfung ablegen, damit mein Leben seine Richtigkeit hat – leider hat es einen schönen Schnee, sodass ich mich nicht konzentrieren kann, und leider ist das Prüfungsfach Chemie, sodass ich nicht einmal den Angabentext verstehe. 

 
Abb. 1.: Symbolbild "Meindl kommt nicht hin, wo sie hinmöchte" 

2. April
In der Nacht habe ich vergessen, wo mein Auto steht; schon etwas verzweifelt läute ich bei Franz Schuh(?!), der hilfsbereit, aber keine Hilfe ist. Zerrüttet gehe ich zurück auf die Straße, da steht mein Volvo 244 GL und tut, als wäre nichts gewesen (und als hätte er es mir im wahren Leben verziehen, dass ich ihn damals um 4000 Schilling nach Nigeria verklopft habe).

Ganz ich selbst sein zu dürfen, ist ein Privileg, das ich mir alleine vorbehalte (es hat viel mit zerrissenen Pullovern und ungewaschenen Haaren zu tun).

Mit wachsendem Interesse beobachte ich die Vogerln vor dem Fenster (=Symptom wachsender Verrücktheit).

3. April
Nützliche neue Begriffe: „Cyberloafing“ („das Internet auslesen“) und „Wohlfühlpanik“ (Grissemann).

Weil mich die gefiederten Freunde immer stärker begeistern, schicke ich der Familie Whatsapp-Nachrichten wie „Ein Rotkehlchen hat gerade vom Apfelbaum gekackt“, „Drei Stieglitze rumoren im Vogelhaus“ und „Ich frühstücke jetzt immer zwei Stunden lang wegen der Ornithologie!“, und eine Schwester schreibt nur „Was wäre der Unterschied zu deinem früheren Leben?“ Die herrliche Beobachtung, dass sich eine Blaumeise den Flaum, den sich die raufenden Stieglitze gegenseitig ausrupfen, zum Nestbau fladert, vergönne ich der undankbaren Mischpoche nicht mehr. Frisurenmäßig nähere ich mich übrigens zusehends den Haubenmeisen an. 

Abb. 5.: Lopophanes cristatus. Charakteristisch ist die schwarz-weiß gemusterte Federhaube.
 
5. April
In der Nacht wird mir ein inoperabler Hirntumor diagnostiziert, mehr als ein Jahr sei nicht mehr drin, sagte der Arzt nebenbei. Ich bin enttäuscht von mir selbst, weil ich beim Romanschreiben so faul gewesen bin und jetzt nichts habe, was ich einem Verlag mit dem verkaufsfördernden Hinweis auf meinen Tod aufschwatzen könnte. Als ich überlege, einfach im Toten Gebirge verschollen zu gehen, wache ich auf. Nie mehr Weißwein vor dem Schlafengehen.

7. April
Mangels Deadlines fehlt mir etwas der Zug am Ski. Ich organisiere lauter Sachen und ärgere mich, dass ich so viel organisieren muss, weiß aber, dass ich eh nichts anderes zu tun habe.

Ein Drittel meiner Vögel sind graues Gefleder, die zu führen meine Bestimmbücher sich zu schade sind. Ich solidarisiere mich (=manifester Wahnsinn).

8. April
Ich glaube schon, dass es mir gut geht, aber vielleicht auch nicht, man kann das nie ganz wissen. Der Körper spricht zu mir: Mein Genick ist so weh und steif, dass ich mich bewege wie Fester von der Addams Family. Alle schwärmen jetzt vom Himmel ohne Kondensstreifen, nur ich kann den Kopf nicht heben. Wie die armen Schweine, die ihr kurzes Lebtag lang nicht nach oben sehen können.

Ob die Quarantäne einmal als ergiebige Zeit in die Kunstgeschichte eingehen wird? Eher nicht, wir beschäftigen uns jetzt alle noch mehr mit uns selbst; und alle, die wirklich etwas erleben, haben keinen Nerv, darüber auch noch einen Roman zu schreiben. Siehe Facebook; alle nähen Masken, backen Brot und führen sich in den Kommentarsektionen auf wie die Stieglitze im Vogelhaus. Sobald ich unseren Kanzler bei einer seiner messianischen Verkündigungen sehe, zetere ich selbst wie ein Rohrspatz (zum Glück bin ich nicht auf Twitter).

9. April
Am Spering-Sattel ab Höhe der Funkstation liegt noch so viel Schnee, dass ich mit meinen Halbschuhen eigentlich umdrehen sollte, aber die Beine stapfen unvernünftig weiter wie pubertierende Zwillinge, und bald stehe ich mit waschelnassen Zehen in einem nordseitigen Hang, nach oben sehen kann ich nicht, wegen meines furchtbaren Genicks, und ich frage mich, warum ich so etwas IMMER mache, ein jedes Mal stehe ich beim Wandern irgendwo in der Botanik, weil ich die Person bin, die ich bin. 

 Abb. 3.: Schillereck. Charakteristisch ist die schwarz-weiß gemusterte Gipfelhaube. 

Im Traum trage ich meinen japanischen Godzilla-Gummikopf als Atemschutzmaske, was wirksam ist, weil er mich generell am Atmen hindert. Ich erwache und finde mich auf dem Rücken um Atem ringend, offenbar in Novalgin-Apnoe. Der Nacken ist so schlimm geworden, dass ich mir den Kopf halten muss, wenn ich mich umdrehen will.
Am Morgen handle ich wie jeder erwachsene, vernünftige Mensch: Symptome googeln (Suchanfragen „Gibt es Nackenkrebs“ und „Tod durch Halswirbelsäulenarthrose“) und dann den Vater anrufen, dabei versuchen, nicht gar zu jämmerlich zu klingen. Er rät zu Voltaren, wie seit 42 Jahren. Gerissene Kreuzbänder? „Nimm' die 100er.“ Liebeskummer? „Eine retard, auf den Magen aufpassen.“ Einkommensverlust durch Corona? „Eine 50er zum Frühstück, und nimm' dir in der Zwischenzeit das Geld, das ich für die Putzfrau liegen lassen habe.“ Ich nehme eine Voltaren dissolv, dann trage ich die riesigen Blumenkübel in den Garten und habe am Nachmittag schon vergessen, dass ich beinahe an meiner Vorerkrankung verstorben wäre. 

 Abb. 4.: Godzillakopf auf Meindlleib. Charakteristisch ist die schwarz-grün gemusterte Gummihaube.

10. April
Als Vegetarierin am Karfreitag ein Porträt über den Leberkaspepi schreiben. #wertewandel

12. April. Ostersonntag
Buttinger, steh' auf, ich hab' dir ein Osternest versteckt.“
Erklär' mir die Regeln.“
Was?!“
Sonst finde ich es nie.“
Deine Wohnung ist nicht Sibirien!“
Sag' mir wenigstens, ob es in einem Kastl ist.“
BUTTINGER!“
Er steht unwillig auf, geht umweglos ins Badezimmer und bückt sich nach der Whiskeyflasche, die ich ihm liebevoll in den Schmutzwäschekorb gelegt habe.

13. April
Jeden Montag schaue ich im Kalender nach, ob diese Woche eh nichts ist. Die Spuren der Eintragung „Slowenien Skitour Abfahrt“ sind fast nicht mehr zu erkennen.

Mein Erwerbsleben kann sich so wenig zwischen Dasein und Tod entscheiden wie ein Zombie; zu tun hätte ich immer etwas, bezahlt werde ich dafür auch ohne Corona nie und ich brauche keine Quarantäne, um die Besteckladen neu zu sortieren, anstatt den depperten Roman fertig zu schreiben. Die Ex-Erziehungsberechtigten rufen akkurat in dieser sensiblen Phase an, sie hätten in den OÖN einen Job für mich gefunden (Leiterin der KTU-Bibliothek, „du sortierst doch eh so gerne Bücher!“).

16. April
Ein Waldpfad auf den großen Größtenberg (wer denkt sich eigentlich die Namen für die Berge aus?). Mein rechtes Knie hört sich jetzt bei jedem Schritt an, als habe ich ein knisterndes Plastikpapierl in der Hosentasche vergessen. Es tut nicht weh, aber wegen meiner Misophonie zermürbt mich das Geräusch bald. Zum Glück erreiche ich die Schneegrenze, das Knirschen wird vom Stapfen durch das dreckige Sorbet überdeckt. Bald stehe ich mit nassen Zehen im Latschendickicht.

18. April
Ohne es zu beabsichtigen verkleide ich mich jetzt beim Gartenarbeit als mein Vater. Ich trage sein altes Zeug auf. Die Beine in seinen alten Arbeitsschuhen sind nicht mehr allein meine eigenen; ein Moment wie damals, als ich mit meiner Hand in den Pullover fuhr und am Ende die Finger meiner Mutter herauskamen. Nur noch die Neigung zu Heavy Metal und … nein, mir fällt nichts anderes mehr ein, das mir als Zeichen meiner familiären Individualität geblieben wäre, höchstens noch meine politische „Linksradikalität“ (oö. Gütesiegel). Ah: und die „Höhe“ meines Einkommens. Abgesehen davon ist ab jetzt Widerstand gegen die genetische Programmierung zwecklos.

19. April
Die Spatzen sind dank meiner übertriebenen Fürsorge so dick geworden, dass sie das Einflugloch in den Nistkasten durch Schnabelhiebe vergrößern müssen.

21. April
Das Baumhaus knarrt in den Wanten wie ein mürbes Piratenschiff. Der Wind wirft die Amseln (auch sehr dick heuer) in den Flieder. Mir kommt vor, dass diese Aufzeichnungen so etwas wie ein Dankbarkeitstagebuch sind, wie man es gegen seelische Verstimmungen empfiehlt. 

 Abb. 4.: Der Ort, an dem Dankbarkeit praktiziert wird. 

Donnerstag, 23. April 2020

Verschieb nichts und am wenigsten das Leben


Von Corinna Antelmann

»Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen«, höre ich meinen Vater sagen, während ich den Satz an meine Tochter richte, »setzen wir uns an unsere Arbeit.« Und nach dem erwarteten Protest, fällt mir noch einmal mein Vater ein; ich triumphiere: »Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute.«
»Verschone mich mit solchen Sprüchen«, sagt meine Tochter.
»Morgen vielleicht«, sage ich.
»Oh, bitte«, sagt mein Liebster. »Wieso genießen wir nicht einfach den Tag?«
»Heute?«, frage ich.
»Was du heute kannst …«, kommt es einstimmig zurück.

Wiewohl in einem Konflikt, verschiebe ich weder noch: Mit sofortiger Wirkung stelle ich erstens das Sprüche-Klopfen ein, dann mache ich mich zweitens an meine Arbeit, während der Rest der Familie spazieren geht. Noch heute will ich alles erledigen, um morgen den Tag zu genießen, vielleicht, falls alles erledigt sein sollte, das heißt: Ich beherzige meines Vaters Rat. Oder auch: Ich habe keine Wahl. Seine Ratschläge sind unfreiwillig in mein eigenes System gewandert. Und ich bin ihm zu Dank verpflichtet, denn das Verschiebe-Verbot hilft mir seit jeher durch das System der freischaffenden Tätigkeit. Ich wäre nicht dort, wo ich bin, wenn er nicht in mir gesessen und mir zugeflüstert hätte, mich an den Schreibtisch zu bewegen, die Dinge anzugehen, nicht zu warten auf den richtigen Augenblick, den richtigen Tag.
Sondern gleich.

Nur hin und wieder zeigt das Gebot seine zweite Seite, zum Beispiel innerhalb des Familien- und Beziehungssystems.
»Genau«, ruft mein Liebster dazwischen, »unterschätz niemals die Bedeutung der Pause. Denn sieh nur: der Himmel, das Feld, das Rauschen und Blitzen und Jubilieren.«
Jajaja, ich weiß, er trauert und den gemeinsam verbrachten Tag, um den es gehen könnte, sollte, müsste …? Aber neinneinnein, das Müsste verhindert, eine Pause einzulegen, um beispielsweise heute spazieren zu gehen, statt dafür auf das Morgen zu hoffen.
Verschieben wir die entspannten Tage auf Unbestimmt, aber …?
»Aber, Vater, wenn du sagst: Verschiebe nicht auf Morgen, dann heißt das doch …?«
»Das Gebot gilt weder für Pausen noch für Spaziergänge, sondern für Tätigkeiten.«
»Aha«, sage ich, »noch eine Frage: Ist das Spazierengehen untätig?«
»Sinnvolle Tätigkeiten«, spezifiziert er.

Ich kenne jemanden, der würde widersprechen.

Und so hat jedes Ding, wie stets, zwei Seiten: Die Arbeits-Disziplin ist ein hohes Gut, ich weiß es wohl, doch was ist der Mut zum Liegenlassen anderes? Er kann Kräfte freisetzen, die sich andernfalls festsetzten in der Verbissenheit des Tuns.
Schon Eichendorff ließ seinen Taugenichts spielen und singen:
Ich hatte recht meine heimliche Freud‘, als ich da alle meine alten Bekannten und Kameraden rechts und links […] zur Arbeit hinausziehen, graben und pflügen sah, während ich so in die freie Welt hinausstrich. 
(Joseph von Eichendorff, Aus dem Leben eines Taugenichts, 1817-1823: Vers 29/30)

Ein ewiger Sonntag, wie schön!

Während des Shutdowns, in dem wir uns befinden, während ich diesen Text verfasse, schwören wir insgeheim, nie wieder zu verschieben, was wir immer schon hatten TUN wollen, nun jedoch erschwert wird (abgesehen von den Spaziergängen). Die Arbeit, sie fehlt denjenigen von uns, die sie nicht länger ausüben können, dürfen, müssen … Ja, die sogenannte Krise, die morgen schon wieder Vergangenheit sein kann, versetzt uns in den uns ungewohnten Zustand, nicht zu wissen, was das Morgen bringen wird, und ob die Verschiebung, die wir gezwungenermaßen vornehmen müssen, sinnlos ist, oder ob es andersherum gerade die Verschiebung ist, die manch einer Tätigkeit erst wieder ihren Sinn verleiht, weil heute nicht möglich ist, was morgen wieder gehen könnte. Weil alles, was ich zum Beispiel hier und heute schreibe, morgen wieder anders sein kann.
Anders sein wird.
Also doch lieber vertagen?
»Verschieb nichts«, sagt meine Vater, »du weißt nicht, ob es morgen erst recht nicht mehr möglich ist.«

Nein, das weiß ich nicht.

Mascha Kaléko schreibt in ihrem Gedicht Möbilierte Melancholie:
Mein bester Freund ist nach Stettin gezogen.
Der Vogel Jonas blieb mir auch nicht treu.
Die Winterlaube hat der Sturm verbogen.
- Nun sitz ich da und warte auf den Mai.

Ist‘s im Mai vorbei?

Mein Vater sagt, aufschieben bringe nichts und meint die Pflicht, die Arbeit, nicht jedoch das Untätig-Sein in dem Sinne, was mein Liebster darunter versteht (oder meine Tochter) und ein Sammeln, Sich-Sammeln meint, das später dann, später, zurück in die Aktivität führt. Aber auch das Innehalten lässt sich nicht verschieben; vielleicht zulange schon haben wir es verschoben, nun bleibt uns keine Wahl: Wir können es zurzeit nicht verschieben, selbst wenn wir wollten.

Und da wir nicht wissen, was das Morgen bringt, können wir es gleich lassen.
Und da wir nicht wissen, was das Morgen bringt, sind wir frei, uns alles auszumalen, was gehen wird und zu leben, als wäre es schon heute da.

Jetzt ist Jetzt und das Beste, das uns zur Verfügung steht. Und die Wahrheit ist: Zu keiner Zeit, nie, wissen wir, wie das Morgen aussieht, was er bringt, denn: Wir Menschen sind sterblich und daher verletzlich; vielleicht vergessen wir es von Zeit zu Zeit, in unserem Streben nach unendlichem Wachstum.
Nach Unendlichkeit.

Sterbliche Schönheit ist mir oft schmerzlich, sagt der Vampir Louis im Interview mit einem Vampir von Anne Rice.
(Anne Rice, Interview mit einem Vampir (1976), Frankfurt, 1989: 183)

Anders als der moderne Mensch beginnt er im Laufe seines Vampir-Lebens mehr und mehr unter der Ewigkeit zu leiden und neidet den Menschen die Sterblichkeit. Was ihm fehlt ist das, was wir zu überwinden suchen: Die Begrenzung durch den Tod, denn nur das Wissen um die Sterblichkeit ermöglicht das Leben, aber -

- doch noch nicht heute! Verschieben wir es noch ein bisschen.

Der Tod lacht und scherzt und kommt, wann immer er will. 
Eben noch beschließt er, nach Kislowodsk zu verreisen, - der Fremde sah durch die Augenschlitze Berlioz an, - ist ja auch keine große Sache, nicht wahr? Doch ist er nicht einmal dazu mehr fähig, weil er aus Gott weiß welchem Grund plötzlich ausrutscht und - schwups! - unter eine Trambahn gerät. 
(Michail Bulgakow, Meister und Margarita (1966), München, 2015: 19) 

In meinem Jugendbuch Saskias Gespenster dagegen weiß der Junge Oskar, dass ihm nicht viel Zeit bleibt. Eine Krankheit kündigt an, dass sie ihn bald schon sterben lassen wird. In diesem Falle wundert es mich nicht, dass er diesen Spruch klopft, der meinem Vater gefällt:
»Vertagen wir unsere Verabredung eben auf nächste Woche.« Er zwinkerte ihr zu. »Was ich nur ungern tue, denn was du heute kannst besorgen ...«
»... das verschiebe nicht auf morgen«, ergänzte Saskia.
Den Spruch kannte sie zur Genüge von ihren Eltern.
 
Wollen wir wirklich wissen, wann es soweit ist? Ist das besser? Für Bulgakows bedauernswerten Berlioz, den die Tram überfährt, wäre es zu dem Zeitpunkt, an dem er von seinem baldigen Ende erfährt, ohnehin zu spät gewesen, seine Reise nach Kislowodsk vorzuverlegen. Aber vielleicht hätte er überlegt, noch einmal spazieren zu gehen. Oder sein Buch zu Ende zu lesen. 

»Was du heute kannst besorgen ...«

Schon gut, schon gut. Es stimmt ja, wenn ihr mich fragt, Leute: Verschiebt nichts und am wenigsten das Leben, welches das Blitzen und Rauschen und Jubilieren miteinschließt. Den Spaziergang, das Singen, das Spielen, die Pause, die Arbeit (egal, wie sinnvoll oder sinnlos es derzeit zu sein scheint) und das Lieben, das zuallererst. Denn was bringt es, alles zu verschieben auf die Zeit DANACH? Nach der Arbeit, nach der Pflicht, nach dem Corona-Virus? Wie sinnvoll ist das, wenn wir doch sterblich sind? Lebt wild und gefährlich. Hier und jetzt und heute. Und morgen auch noch, so Gott will.

Das weiß allein der Teufel.

Und deshalb: Auch, wenn ich alle Sprüche nur mehr sparsam verwenden werde in Zukunft, ich meine es ernst: Mein Dank gehört dir, Papa.

Ich sollte es ihm heute noch sagen.
 

 


Dienstag, 21. April 2020

Aufgelaufen in Quarantanien - Nachrichten aus dem Inneren

Von Bernhard Hatmanstorfer

Das Schöne an einem Flor an Möglichkeiten ist genau das: ein Bukett an Möglichkeiten, aus dem eine zu ergreifen man nicht gezwungen ist, um sich seiner zu erfreuen. Etwa die Wahl zwischen, sagen wir, Base-Jumping, Botanisiertrommelfüllen oder einen drauf zu machen mit Freunden im Gastgarten. Um sich dann trotzdem dafür zu entscheiden, einer virtuosen koreanischen Konzertpianistin & Korrepetitorin zu ihren Übungsanfällen die Notenblätter zu wenden. Wie anders verhält es sich aber, wenn einem das Vielfache an Möglichkeiten mit einem Schlag versagt bleibt? Und man sich in Selbstvorwürfen der Sorte ergeht: Hätte man doch, als es noch ging…
Blöd gelaufen. Sich an die Stirn zu klatschen, hilft aber auch nichts.
Nach Abhilfe vergebens sucht man im Kühlschrank. Das Bier, dem eben erst ausgetrunkenen nachgelegt, ist dafür noch zu warm. Man versenkt sich in die Lektüre von Büchern und wähnt sich beim Wiederlesen einst unterstrichener Passagen der Holzköpfigkeit überführt. Warum nur konnte man sich nicht merken, was zu merken man sich vorgenommen hatte, um es ein-, zweimal sloterdijkmäßig in jeweils passendem Zusammenhang zitieren zu können? Warum bloß vermag man auch in Zeiten des verordneten Eigenheimkarzers Fremdsprachen nur nach der Lenin-Methode zu lernen? Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück. Da möchte man aus dem Fenster springen, aber man wohnt nicht so hoch oder so gediegen, als dass es etwas hermachen würde wie bei Stuckrad-Barre im Chateau Marmont.
Gafft man aus dem Fenster, sieht man den Hausherrn von gegenüber – der der Konzertpianistin einst das Quartier wegen Lärms gekündigt hat und sich leidenschaftlich mit Leergebindesammeln beschäftigt, weil ihm als Partikülier an gewichtigem Betreiben offensichtlich sonst nichts obliegt – wie er Glasscherben von der Schippe in die grüne Tonne beserlt. Aufschdeh, auziagn, owegeh in d’goschn haun, wie es in Georg Danzers Lied vom Wessely heißt? Gäbe es da nicht das geltende Ausgangsreglement, wägt man es kurz ab. Man finge sich, sich dem widersetzend, mindestens eine Anzeige wegen Körperverletzung ein.
Also turnen in den eigenen vier Wänden. Kann es etwas Affigeres geben? Ja, nämlich seine Wände zu tapezieren. Oder, wie Čechov erkannte, Laubsägearbeiten.
Dem Geschrei nach zu urteilen, zersägen sich Nachbars gerade gegenseitig.
Man hört regelmäßig Radio. Natürlich Ö1. Und verpasst trotzdem die Sendung, die neueste Kompositionen der mit dem Grawemeyer Award Bedachten Chin Un-suk vorstellt.
Die Post stellt einem ein weiteres Rezensionsexemplar für die von einem Kumpel betreute Japan-Web-Seite zu. Eine schöne Dissertation, die sich kulturhistorisch mit dem Aufstieg Tokios zur Gourmet-Weltstadt befasst. Man bedankt sich mittels blízpost bei der dafür Verlagsverantwortlichen in München. Eben hatte die Süddeutsche berichtet, in der Fasanerie wäre eine chinesischstämmige Münchnerin von einem Halbdebilen unter „Corona! Corona!“-Geschrei mit einem Antiseptikum attackiert worden. Die Verlagsverantwortliche antwortet, sie lese die FAZ. Fasst man es? Es rinnt noch viel Wasser die Rur runter, ehe Deutschland sein Ischgl benennt: Heinsberg.
Man fängt an, Zeitungen (die die Bezeichnung verdienen; also keine Arschwische) zum Thema für eine Zeitkapsel zu sammeln – warholmäßig. Und weil einem schön langsam flau wird.
Slavoj Žižek verkündet in der Neuen Zürcher, Hegels Analyse „Der Geist ist ein Knochen“ paraphrasierend, „Der Geist ist ein Virus.“ Bramarbasierte er doch mit weniger Beunruhigendem, dünkt einem.
Giorgio Agamben wird fuchsteufelswild und schmettert einen Rundumschlag gegen einen sich totalitär gebärdenden Staat und eine katholische Kirche, die auf ihre Mission pfeift.
Für die Zeitkapsel legt man unter anderem ab: Die Karikatur aus dem Economist vom 14. März, die den geplanten Einkauf des Notwendigsten vor dem Rückzug ins Home-Office sarkastisch thematisiert: KLOPAPIER & DESINFEKTIONSMITTEL SIND ALLE!
Man kann Mutter im Pflegeheim nicht besuchen. Die, obwohl nur sehr eingeschränkt mobil, droht damit sich abzuseilen.
Martin Amanshauser reist zur Abwechslung einmal nicht weit, weit weg oder ins Trappistenkloster, sondern tritt in die Fußstapfen Xavier des Maistres, leiert also die Voyage autour de ma chambre neu an. Es heißt, K.-M. Gauß habe das auch schon gemacht, vor Pandemiezeit. Man selbst trifft auf der Tour allenthalben den Staubmolch.
Als Hörbuch zieht man sich Safranskis kongeniale Goethe-Studie rein. Und bekommt auch da von CORONA zu hören. Allerdings: Corona Schröter.
Die Berichterstattung über die Fälle der Erkrankungen lässt einen nicht unberührt, es sei denn man wäre aus gebranntem Ziegelton, sprich: ein Backstein. Oder der Golem selbst. Aber als goj? Finde einem Virus eine Vakzine, auf dass es sich vertschüsst wie ein Bauernfänger, dem keiner mehr auf den Leim, geht…!
Kurze Ausflüge in die Botanik werden im Anti-G7-Outfit gestartet. Man könnte glattweg als Verlauster mit Radikalisierungsgelüsten durchgehen, sähen die anderen auch nicht viel besser aus in ihrer improvisierten Kostümierung.
Und schon wieder steht Linz vor einem Abriss. Bald wird diese Stadt das Bielefeld-Schicksal erleiden, von der auch kein vernünftiger Mensch glaubt, dass sie tatsächlich existiert.
Begeisterung, heruntergedimmt, kommt nur auf, wenn man feststellt, dass im Kühlschrank zwischenzeitlich das Bier kalt geworden ist. Und man noch Schnaps in der Speis hat.
In wiederkehrender Niedergedrücktheit sinnt man dem Ableben der Künstlerin Emilie Goldmann ( Dezember 1992) nach. Und natürlich, wie schon hunderttausendmal vorher, kommt ein beklemmendes Würgen im Hals dabei heraus.
Völkern der Wüste, heißt es, gilt der Tränenfluss als Vergeudung von Wasser.
Und noch ein Runterzieher: Ror Wolf ist tot.
Könnte man doch, die Arme hochreißend, Ist nicht wahr ausrufen, um es nicht wahr sein zu lassen!


Bernhard Hatmanstorfer, März/April 2020

Ficken mit dem Klassenfeind. Walter Josef Kohl

Foto: Dieter Decker Rezension von Dominika Meindl  „ Bei all der sozialen Aufsteigerei, beim sich Emporarbeiten von ganz unten, vom dörfl...