Ein Beitrag zur Reihe „Nachrichten
aus dem Inneren“ von Elisabeth Strasser
„Das ganze Unglück der Menschen rührt allein
daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“
Blaise
Pascal
Unversehens sind viele zu einem
Stubenhocker-Dasein verurteilt. Für mich, eigentlich notorische Stubenhockerin,
die sich gerne mehr Mußezeit wünschte, gilt das allerdings nicht. Ausgerechnet
ich bin im Brotberuf nun zur „Schlüsselarbeitskraft im Bereich kritischer Infrastruktur
bzw. in der Daseinsvorsorge“ geworden und muss damit jeden Tag, jeden
Arbeitstag, nach draußen.
Home-Office ist dabei aus technischen
Gründen und vor allem aus Platzgründen nicht möglich. Trotz eAkten ist in
meinem Arbeitsbereich jede Menge Papier nötig und ein leistungsfähiger Drucker.
Normalerweise 1.000 Formulare pro Jahr, die ich produziere, diese kommen nun
wohl in ein paar Wochen zusammen. Alle anderen meiner Aufgaben ruhen. Jetzt
geht es um die Existenzsicherung. – Jetzt zeigt sich, was wirklich wichtig ist.
Und es zeigt sich, wie es auch anders ginge. Es hat zweifellos etwas für sich, wenn alles einmal zur Ruhe kommt. Der
Welt insgesamt tut das allemal gut, denke man an die ausfallenden Flüge,
weniger Verkehr und Produktion … Dieses Reduzieren hätte es schon längst
gebraucht, allerdings durch Einsicht, Vernunft und Freiwilligkeit. Somit – aus
Gründen der Unfreiwilligkeit, in einer Krisensituation und letztlich aufgrund von
Angst – besteht kaum Hoffnung, dass sich danach – irgendwann wird zu einer
„Normalität“ zurückgekehrt werden – etwas ändert, es wird wohl wie bisher
weitergehen mit all der Ressourcenvergeudung und Konsum und Profitgier um jeden
Preis. – Oder wird etwas bleiben? Und was wird bleiben?
Mittendrin ist das schwer abzusehen
und Prognosen sind reine Spekulation. Es gilt jetzt, die – sinnvollen und
wichtigen – Maßnahmen einzuhalten, und trotzdem unbedingt wachsam zu bleiben,
damit sich nicht etwas längerfristig „einbürgert“, das nur momentan seinen notwendigen
Zweck erfüllt.
Eigentlich erstaunlich ist, dass es
so gut wie keinen Widerstand gibt, dass die Ausgangsbeschränkungen durchwegs
eingehalten werden. Das gibt Hoffnung in die Vernunft der Menschen und auch der
öffentlich Verantwortlichen. Ob ein Sozialstaat und eine Zivilgesellschaft
funktionieren, erweist sich erst in Krisenzeiten. Wir können dankbar dafür sein,
wie gut es offenbar funktioniert. – Dennoch treibt die Situation ihre Blüten.
Die „alternativen Medien“ und „social media“ sind voll von mehr oder weniger
abstrusen Mitteilungen. Und auch das Verhalten einzelner Personen wirkt
unfreiwillig komisch …
„Nein,
ich will keine Panik verbreiten …“
Weinerliche weibliche Stimme,
Facebook
Es beginnt in der 11. Woche des
Jahres. Eine Woche voller Termine für mich. Am Dienstag wird die Absage von
Veranstaltungen mit über 100 Personen angekündigt, abends können die
„Frauenstimmen“ noch über die Lesebühne gehen. Mittwoch und Donnerstag eine berufliche
Tagung in Wien. Wir verzichten auf Händeschütteln. In der U-Bahn genug Platz,
um sich nicht zu nahe zu kommen. Währenddessen ist zu erfahren, dass die
Schulen ab nächster Woche geschlossen sind. Weiteres folgt in der Woche darauf.
Bis hin zu Ausgangsbeschränkungen, die wohl kaum jemand für möglich gehalten
hätte, deren Sinnhaftigkeit jedoch nachvollziehbar vermittelt wird. Davor ist
aber noch …
… ausgerechnet Freitag, der 13.
G. läuft aufgeregt herum in seinem
Mitteilungsbedürfnis. Er ist informiert. Zumindest irgendwie. Jedenfalls ist er
vernetzt. Auf Facebook. Immerhin kennt er die Person, von der der Hinweis
stammt. Eine Bekannte aus einem Verein. Sie hat etwas erfahren und will es mit
möglichst vielen teilen. Und G. teilt es mit uns. Er spielt uns die
Audionachricht auf seinem Smartphone vor. Eine Frauenstimme, brüchig, fast
weinerlich. Doch sie fühlt Verantwortungsbewusstsein in sich: Sie möchte und
muss sich mitteilen, darf nicht eine der wenigen Auserwählten bleiben, die mehr
wissen. Sie mit ihren „Connections zum Innenministerium“, von denen sie
spricht. Damit beginnt sie: „Ihr wisst ja, ich habe da einige Connections zum
Innenministerium …“ – Nein, wissen wir eigentlich nicht. Auch G. weiß nichts
davon. „Wer ist das eigentlich?“, fragen wir ihn. – Er hat keine Ahnung.
Wahrscheinlich kennt die Dame aus dem Verein die Sprecherin, die uns weiters
wissen lässt, es sei „etwas Größeres“ geplant. „Es gibt später eine
Pressekonferenz, darum deckt euch gleich mit allem ein, was ihr braucht. Ich
will keine Panik verbreiten, aber es geht etwas vor!“
Mit der Aussage, keine Panik
verbreiten zu wollen, kommt der Gedanke an Panik erst auf.
In einer anderen Nachricht, auf die B.
uns hinweist, ist ebenfalls davon die Rede, dass etwas vorgehe, nämlich etwas ganz
anderes als das, was uns weisgemacht wird. Womöglich … Ja, womöglich steht ein
Angriff bevor. Ein Angriff Außerirdischer. – Die Realität verschwimmt. Das
Unglaublichste mag für wahr gehalten werden. Mit dem Hinweis auf die
Außerirdischen wird allerdings alles relativiert und Ansätze an Panik brechen zusammen.
Wenn wer viel glauben mag, das dann doch nicht. Das führt letztlich zu
befreiendem Lachen.
Eine Pressekonferenz gab es
tatsächlich, das stimmte immerhin. Und in den darauf folgenden Nachrichten
wurde ausgerechnet vor Falschinformationen gewarnt. Die kursierende
Audionachricht jener ominösen Frau mit ihren „Connections zum Innenministerium“
war bereits amtsbekannt.
Dennoch Hamsterkäufe. – G. hatte uns
bereits vorgewarnt mit einem Foto (selbstverständlich Facebook als Quelle), das
leergeräumte Supermarktregale zeigte. Bei meinem Freitagnachmittagseinkauf
jedoch alles halb so wild. Kaum mehr Leute im Geschäft als sonst. Bloß die
Erdäpfel fehlten meinem Wochenendmenü, die waren aus.
Beobachtungen der komischen Art
Beim morgendlichen
Warten auf den Bus fahren zahlreiche Autos an der Haltestelle vorbei. In einigen
davon eine einzige Person im Wagen, der wahrscheinlich ihr eigener ist, mit
Mundschutz. Im Bus trifft man ebenfalls auf Leute mit Mundschutz (der demnächst
allgemein vorgesehen ist), obwohl Mindestabstand reichlich eingehalten sein
kann bei 5-10 Mitfahrenden. Und einige tragen sogar Handschuhe – und fummeln
damit im Gesicht herum, so als würde es darum gehen, allein die Hände schützen
zu müssen. Sich die Hände zu waschen, nachdem man mit einem öffentlichen
Verkehrsmittel gefahren ist oder sonstwo in der Stadt unterwegs war, sollte
eigentlich jederzeit eine Selbstverständlichkeit sein. Sogar nach dem Berühren
von Geld – so wies mich meine Mutter von kleinauf an – müsse man sich die Hände
waschen. Ich hielt das für reinen Aberglauben, doch heute scheint dies
jedenfalls sinnvoll.
Es gibt Leute, die
weitab von Zeitgenossen durch die Gegend joggen und Mundschutz tragen, so als
würden die Viren in der Luft herumfliegen und sie von weitem anspringen, und
andere, oft gerade ältere Leute, die – ohne jeden Schutz – täglich ein paar
Sachen einkaufen gehen, weil ihnen daheim ansonsten fad wird …
Zuflucht in die virtuelle Welt
Zwei Wochen sind vergangen.
Verändert hat sich kaum etwas in meinem Alltag. Jeden Tag zur Arbeit fahren – und
freilich dort länger bleiben. Einkaufen steht üblicherweise ohnehin nur einmal
pro Woche am Programm. Ausgehen, Abendtermine waren in diesen ersten zwei
Wochen nicht geplant. Erst in der dritten.
Ein Schreibkreis, der sich einmal
monatlich trifft. Er wird nicht abgesagt. Er wird von mir kurzerhand ins Netz
verlagert. Die Texte der Teilnehmenden, die ansonsten vorgelesen und danach
besprochen werden, werden im Voraus zugeschickt. Zur gewohnten Zeit, dem
letzten Dienstag im Monat um 19 Uhr, sollen alle vor dem PC sitzen und per E-Mail-Verteiler
Rückmeldung zu den Texten geben, sodass – im besten Fall – eine Diskussion wie
beim realen Zusammensein entsteht. Es wird spannend, ob und wie das
funktioniert. … Unglaublich: Kaum begonnen fliegen Nachrichten hin und her. Und
fast alle der Gruppe machen mit. Die Diskussion gestaltet sich sogar intensiver
als manchmal sonst. Da Fahrtzeiten wegfallen, steht auch mehr Zeit zur
Verfügung. Beim April- und Mai-Termin wird das wohl noch so zu gestalten sein.
Trotzdem: Bloß eine Notlösung.
Ein privater Kulturkreis, der sich am
letzten März-Wochenende in Wien hätte treffen wollen, wird ähnlich gestaltet:
Eine auf Youtube gefundene Dokumentation über den Expressionismus anstelle
eines Ausstellungsbesuchs. Eine Literaturverfilmung anstelle eines Theaterbesuchs.
Der Teilnehmerkreis bekommt die Links zugeschickt, damit alle gleichzeitig – wie
ansonsten beim gemeinsamen Besuch von Ausstellung und Theater – sich das
ansehen können und darüber austauschen, so als würden wir uns im Anschluss
daran wie üblich in einem Café über das Gesehene unterhalten.
Man kann nur dankbar sein für die
Möglichkeiten elektronischer Kommunikation. Trotz dem alltäglichen Zusammensein
mit ArbeitskollegInnen, wo wir – mit Abstandhalten und den Unmengen an Arbeit –
darauf achten, dass auch der Spaß nicht zu kurz kommt, fehlt natürlich die
Begegnung mit allen, mit denen ich außerhalb des beruflichen Umfeldes in
Verbindung stehe. Regelmäßige E-Mails und gelegentliche Telefonate sind in einer
Situation, in der persönliche Begegnung nicht möglich ist, so notwendig, um
nicht zu sagen überlebensnotwendig. Dank der (elektronischen) Medien – und auch
eines gut bestücken Bücherschrankes, wo einiges wartet, wieder einmal
hervorgeholt zu werden – sind wir mit geistiger Anregung wohlversorgt und
können auch selber jeder Menge an Gedanken nachgehen und sie mitteilen. All
dies trotzdem nur vorübergehende Notlösung, denn die persönliche Begegnung ist
letztlich doch die Essenz, die das Leben ausmacht.
Hat Blaise Pascal nun recht?
Das Zitat des französischen
Mathematikers und Philosophen aus dem 17. Jh. ist mir unmittelbar nach
Verkündigung der Ausgangsbeschränkungen eingefallen. Oh ja, er hat recht: Wären
die Menschen „zu Hause“ geblieben, hätten wir uns all die Probleme erspart, die
Kolonialismus, Imperialismus, überheblicher Eurozentrismus, der letztlich zur
verhängnisvollen Globalisierung, der Gleichschaltung der ganzen Welt und der
schamlosen Ausbeutung großer Teile dieser führte, was alles letztlich auf ein
materialistisch fundiertes und zerstörerisches System baut, mit sich brachten.
Und erst dadurch konnte sich ein Virus, das nun die ganze Welt auf den Kopf
stellt, so unglaublich schnell auf dem Globus ausbreiten. Doch der gute Mann
hatte wohl auch gewusst, dass dieses ruhig im eigenen Zimmer Verbleiben real
nicht möglich ist – und auch nicht gut. Der Mensch im besten Sinne will
hinausgehen, die eigenen vier Wände und seine unmittelbare Umgebung verlassen,
die Welt erkunden und gestalten und Neues kennenlernen. Verließe man niemals
sein Zuhause, so würde keine Weiterentwicklung möglich sein, die – trotz allem,
trotz aller abschreckenden Beispiele, trotz aller verhängnisvollen
Begleiterscheinungen – auch eine hin zum Besseren sein kann – und sogar oft ist.
Was Blaise Pascal aber mit seinem Ausspruch – aus heutiger Sicht, die ich ihm
nun kurzum unterstelle – vorweggenommen haben mag: Überlegen wir einmal, wie
viele „sinnlose Kilometer“ wir mit dem Auto oder mit dem Flugzeug zurücklegen,
die uns nicht wirklich etwas bringen, die uns nicht wirklich „weiterbringen“,
nicht zu uns selbst, nicht zum Wesentlichen, sondern weit eher weg davon, die
wir allein aus Langeweile und zum Zeitvertreib unternehmen. „Ein Weiser
entdeckt in seinem eigenen Garten mehr als ein Dummer, der eine Weltreise
unternimmt.“ – Ein weiser Spruch, der sinngemäß in meinen Gedanken ist, ohne
ihn einem Urheber zuordnen zu können.
Wachsamkeit und Vernunft
Wir sind noch mittendrin in der
„Corona-Krise“, die jedenfalls irgendwie aufgelöst werden wird. Die Menschheit
hat schon vieles überstanden, auch wenn einzelne Individuen die Lösung nicht
überlebt haben. Aber weitergehen wird es irgendwie. Und vielleicht ergeben sich
auch Chancen. Vielleicht lernen wir dazu und es eröffnen sich neue
Möglichkeiten. Das steht uns offen, die Gelegenheit bietet sich nunmehr.
Möglichkeiten zum Besseren hin, wie etwa: mehr Home-Office, um eigentlich
unnötige (Auto-)Fahrten zu Arbeitsplätzen einzuschränken. Oder etwas mehr
Sensibilität hinsichtlich Flugreisen, nicht nur aus Furcht davor, sich in
fremden Erdteilen womöglich mit Krankheiten anzustecken, sondern vor allem
darum, weil uns allen klar ist, dass dieses rund um den Globus Jetten unserer
Welt nicht gut tut. Oder: Produzieren nach Bedarf und nicht blindwütig
darauflos produzieren und danach erst den Bedarf schaffen …
Möglichkeiten zum Schlechteren und
Gefährlichen tun sich bei der Gelegenheit freilich ebenfalls auf: mehr
Überwachung, Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, bis hin
womöglich zu Einschränkungen im privaten Bereich … Was uns bereits seit langem
als „ach so bequem“ verkauft wird, vom elektronischen Bezahlen jeder
Kleinigkeit bis zu GPS-Ortungssystemen, ob sie nun genutzt werden, um verlegte
Schlüssel zu finden oder um Angehörige zu überwachen, kann uns nun aufs Neue
„aus Sicherheitsgründen“ aufgedrängt und nachhaltig untergeschoben werden. Hier
ist Vorsicht angebracht und rechtzeitiges Setzen von Grenzen. Wachsamkeit eben.
Und Vernunft. Gerade diese ist gefährdet in Zeiten der Unsicherheit und Angst,
aber gerade in diesen Zeiten umso mehr notwendig.
Ein toller Artikel, in dem alles Wesentliche gesagt wird!
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