Donnerstag, 16. April 2020

Wenn Stubenhocker trotzdem raus müssen

Ein Beitrag zur Reihe „Nachrichten aus dem Inneren“ von Elisabeth Strasser


Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“
Blaise Pascal

Unversehens sind viele zu einem Stubenhocker-Dasein verurteilt. Für mich, eigentlich notorische Stubenhockerin, die sich gerne mehr Mußezeit wünschte, gilt das allerdings nicht. Ausgerechnet ich bin im Brotberuf nun zur „Schlüsselarbeitskraft im Bereich kritischer Infrastruktur bzw. in der Daseinsvorsorge“ geworden und muss damit jeden Tag, jeden Arbeitstag, nach draußen.

Home-Office ist dabei aus technischen Gründen und vor allem aus Platzgründen nicht möglich. Trotz eAkten ist in meinem Arbeitsbereich jede Menge Papier nötig und ein leistungsfähiger Drucker. Normalerweise 1.000 Formulare pro Jahr, die ich produziere, diese kommen nun wohl in ein paar Wochen zusammen. Alle anderen meiner Aufgaben ruhen. Jetzt geht es um die Existenzsicherung. – Jetzt zeigt sich, was wirklich wichtig ist. Und es zeigt sich, wie es auch anders ginge. Es hat zweifellos etwas für sich, wenn alles einmal zur Ruhe kommt. Der Welt insgesamt tut das allemal gut, denke man an die ausfallenden Flüge, weniger Verkehr und Produktion … Dieses Reduzieren hätte es schon längst gebraucht, allerdings durch Einsicht, Vernunft und Freiwilligkeit. Somit – aus Gründen der Unfreiwilligkeit, in einer Krisensituation und letztlich aufgrund von Angst – besteht kaum Hoffnung, dass sich danach – irgendwann wird zu einer „Normalität“ zurückgekehrt werden – etwas ändert, es wird wohl wie bisher weitergehen mit all der Ressourcenvergeudung und Konsum und Profitgier um jeden Preis. – Oder wird etwas bleiben? Und was wird bleiben?

Mittendrin ist das schwer abzusehen und Prognosen sind reine Spekulation. Es gilt jetzt, die – sinnvollen und wichtigen – Maßnahmen einzuhalten, und trotzdem unbedingt wachsam zu bleiben, damit sich nicht etwas längerfristig „einbürgert“, das nur momentan seinen notwendigen Zweck erfüllt.

Eigentlich erstaunlich ist, dass es so gut wie keinen Widerstand gibt, dass die Ausgangsbeschränkungen durchwegs eingehalten werden. Das gibt Hoffnung in die Vernunft der Menschen und auch der öffentlich Verantwortlichen. Ob ein Sozialstaat und eine Zivilgesellschaft funktionieren, erweist sich erst in Krisenzeiten. Wir können dankbar dafür sein, wie gut es offenbar funktioniert. – Dennoch treibt die Situation ihre Blüten. Die „alternativen Medien“ und „social media“ sind voll von mehr oder weniger abstrusen Mitteilungen. Und auch das Verhalten einzelner Personen wirkt unfreiwillig komisch …

Nein, ich will keine Panik verbreiten …“
Weinerliche weibliche Stimme, Facebook

Es beginnt in der 11. Woche des Jahres. Eine Woche voller Termine für mich. Am Dienstag wird die Absage von Veranstaltungen mit über 100 Personen angekündigt, abends können die „Frauenstimmen“ noch über die Lesebühne gehen. Mittwoch und Donnerstag eine berufliche Tagung in Wien. Wir verzichten auf Händeschütteln. In der U-Bahn genug Platz, um sich nicht zu nahe zu kommen. Währenddessen ist zu erfahren, dass die Schulen ab nächster Woche geschlossen sind. Weiteres folgt in der Woche darauf. Bis hin zu Ausgangsbeschränkungen, die wohl kaum jemand für möglich gehalten hätte, deren Sinnhaftigkeit jedoch nachvollziehbar vermittelt wird. Davor ist aber noch …

… ausgerechnet Freitag, der 13.
G. läuft aufgeregt herum in seinem Mitteilungsbedürfnis. Er ist informiert. Zumindest irgendwie. Jedenfalls ist er vernetzt. Auf Facebook. Immerhin kennt er die Person, von der der Hinweis stammt. Eine Bekannte aus einem Verein. Sie hat etwas erfahren und will es mit möglichst vielen teilen. Und G. teilt es mit uns. Er spielt uns die Audionachricht auf seinem Smartphone vor. Eine Frauenstimme, brüchig, fast weinerlich. Doch sie fühlt Verantwortungsbewusstsein in sich: Sie möchte und muss sich mitteilen, darf nicht eine der wenigen Auserwählten bleiben, die mehr wissen. Sie mit ihren „Connections zum Innenministerium“, von denen sie spricht. Damit beginnt sie: „Ihr wisst ja, ich habe da einige Connections zum Innenministerium …“ – Nein, wissen wir eigentlich nicht. Auch G. weiß nichts davon. „Wer ist das eigentlich?“, fragen wir ihn. – Er hat keine Ahnung. Wahrscheinlich kennt die Dame aus dem Verein die Sprecherin, die uns weiters wissen lässt, es sei „etwas Größeres“ geplant. „Es gibt später eine Pressekonferenz, darum deckt euch gleich mit allem ein, was ihr braucht. Ich will keine Panik verbreiten, aber es geht etwas vor!“
Mit der Aussage, keine Panik verbreiten zu wollen, kommt der Gedanke an Panik erst auf.
In einer anderen Nachricht, auf die B. uns hinweist, ist ebenfalls davon die Rede, dass etwas vorgehe, nämlich etwas ganz anderes als das, was uns weisgemacht wird. Womöglich … Ja, womöglich steht ein Angriff bevor. Ein Angriff Außerirdischer. – Die Realität verschwimmt. Das Unglaublichste mag für wahr gehalten werden. Mit dem Hinweis auf die Außerirdischen wird allerdings alles relativiert und Ansätze an Panik brechen zusammen. Wenn wer viel glauben mag, das dann doch nicht. Das führt letztlich zu befreiendem Lachen.

Eine Pressekonferenz gab es tatsächlich, das stimmte immerhin. Und in den darauf folgenden Nachrichten wurde ausgerechnet vor Falschinformationen gewarnt. Die kursierende Audionachricht jener ominösen Frau mit ihren „Connections zum Innenministerium“ war bereits amtsbekannt.
Dennoch Hamsterkäufe. – G. hatte uns bereits vorgewarnt mit einem Foto (selbstverständlich Facebook als Quelle), das leergeräumte Supermarktregale zeigte. Bei meinem Freitagnachmittagseinkauf jedoch alles halb so wild. Kaum mehr Leute im Geschäft als sonst. Bloß die Erdäpfel fehlten meinem Wochenendmenü, die waren aus.

Beobachtungen der komischen Art

Beim morgendlichen Warten auf den Bus fahren zahlreiche Autos an der Haltestelle vorbei. In einigen davon eine einzige Person im Wagen, der wahrscheinlich ihr eigener ist, mit Mundschutz. Im Bus trifft man ebenfalls auf Leute mit Mundschutz (der demnächst allgemein vorgesehen ist), obwohl Mindestabstand reichlich eingehalten sein kann bei 5-10 Mitfahrenden. Und einige tragen sogar Handschuhe – und fummeln damit im Gesicht herum, so als würde es darum gehen, allein die Hände schützen zu müssen. Sich die Hände zu waschen, nachdem man mit einem öffentlichen Verkehrsmittel gefahren ist oder sonstwo in der Stadt unterwegs war, sollte eigentlich jederzeit eine Selbstverständlichkeit sein. Sogar nach dem Berühren von Geld – so wies mich meine Mutter von kleinauf an – müsse man sich die Hände waschen. Ich hielt das für reinen Aberglauben, doch heute scheint dies jedenfalls sinnvoll.
Es gibt Leute, die weitab von Zeitgenossen durch die Gegend joggen und Mundschutz tragen, so als würden die Viren in der Luft herumfliegen und sie von weitem anspringen, und andere, oft gerade ältere Leute, die – ohne jeden Schutz – täglich ein paar Sachen einkaufen gehen, weil ihnen daheim ansonsten fad wird …

Zuflucht in die virtuelle Welt

Zwei Wochen sind vergangen. Verändert hat sich kaum etwas in meinem Alltag. Jeden Tag zur Arbeit fahren – und freilich dort länger bleiben. Einkaufen steht üblicherweise ohnehin nur einmal pro Woche am Programm. Ausgehen, Abendtermine waren in diesen ersten zwei Wochen nicht geplant. Erst in der dritten.

Ein Schreibkreis, der sich einmal monatlich trifft. Er wird nicht abgesagt. Er wird von mir kurzerhand ins Netz verlagert. Die Texte der Teilnehmenden, die ansonsten vorgelesen und danach besprochen werden, werden im Voraus zugeschickt. Zur gewohnten Zeit, dem letzten Dienstag im Monat um 19 Uhr, sollen alle vor dem PC sitzen und per E-Mail-Verteiler Rückmeldung zu den Texten geben, sodass – im besten Fall – eine Diskussion wie beim realen Zusammensein entsteht. Es wird spannend, ob und wie das funktioniert. … Unglaublich: Kaum begonnen fliegen Nachrichten hin und her. Und fast alle der Gruppe machen mit. Die Diskussion gestaltet sich sogar intensiver als manchmal sonst. Da Fahrtzeiten wegfallen, steht auch mehr Zeit zur Verfügung. Beim April- und Mai-Termin wird das wohl noch so zu gestalten sein. Trotzdem: Bloß eine Notlösung.

Ein privater Kulturkreis, der sich am letzten März-Wochenende in Wien hätte treffen wollen, wird ähnlich gestaltet: Eine auf Youtube gefundene Dokumentation über den Expressionismus anstelle eines Ausstellungsbesuchs. Eine Literaturverfilmung anstelle eines Theaterbesuchs. Der Teilnehmerkreis bekommt die Links zugeschickt, damit alle gleichzeitig – wie ansonsten beim gemeinsamen Besuch von Ausstellung und Theater – sich das ansehen können und darüber austauschen, so als würden wir uns im Anschluss daran wie üblich in einem Café über das Gesehene unterhalten.

Man kann nur dankbar sein für die Möglichkeiten elektronischer Kommunikation. Trotz dem alltäglichen Zusammensein mit ArbeitskollegInnen, wo wir – mit Abstandhalten und den Unmengen an Arbeit – darauf achten, dass auch der Spaß nicht zu kurz kommt, fehlt natürlich die Begegnung mit allen, mit denen ich außerhalb des beruflichen Umfeldes in Verbindung stehe. Regelmäßige E-Mails und gelegentliche Telefonate sind in einer Situation, in der persönliche Begegnung nicht möglich ist, so notwendig, um nicht zu sagen überlebensnotwendig. Dank der (elektronischen) Medien – und auch eines gut bestücken Bücherschrankes, wo einiges wartet, wieder einmal hervorgeholt zu werden – sind wir mit geistiger Anregung wohlversorgt und können auch selber jeder Menge an Gedanken nachgehen und sie mitteilen. All dies trotzdem nur vorübergehende Notlösung, denn die persönliche Begegnung ist letztlich doch die Essenz, die das Leben ausmacht.

Hat Blaise Pascal nun recht?

Das Zitat des französischen Mathematikers und Philosophen aus dem 17. Jh. ist mir unmittelbar nach Verkündigung der Ausgangsbeschränkungen eingefallen. Oh ja, er hat recht: Wären die Menschen „zu Hause“ geblieben, hätten wir uns all die Probleme erspart, die Kolonialismus, Imperialismus, überheblicher Eurozentrismus, der letztlich zur verhängnisvollen Globalisierung, der Gleichschaltung der ganzen Welt und der schamlosen Ausbeutung großer Teile dieser führte, was alles letztlich auf ein materialistisch fundiertes und zerstörerisches System baut, mit sich brachten. Und erst dadurch konnte sich ein Virus, das nun die ganze Welt auf den Kopf stellt, so unglaublich schnell auf dem Globus ausbreiten. Doch der gute Mann hatte wohl auch gewusst, dass dieses ruhig im eigenen Zimmer Verbleiben real nicht möglich ist – und auch nicht gut. Der Mensch im besten Sinne will hinausgehen, die eigenen vier Wände und seine unmittelbare Umgebung verlassen, die Welt erkunden und gestalten und Neues kennenlernen. Verließe man niemals sein Zuhause, so würde keine Weiterentwicklung möglich sein, die – trotz allem, trotz aller abschreckenden Beispiele, trotz aller verhängnisvollen Begleiterscheinungen – auch eine hin zum Besseren sein kann – und sogar oft ist. Was Blaise Pascal aber mit seinem Ausspruch – aus heutiger Sicht, die ich ihm nun kurzum unterstelle – vorweggenommen haben mag: Überlegen wir einmal, wie viele „sinnlose Kilometer“ wir mit dem Auto oder mit dem Flugzeug zurücklegen, die uns nicht wirklich etwas bringen, die uns nicht wirklich „weiterbringen“, nicht zu uns selbst, nicht zum Wesentlichen, sondern weit eher weg davon, die wir allein aus Langeweile und zum Zeitvertreib unternehmen. „Ein Weiser entdeckt in seinem eigenen Garten mehr als ein Dummer, der eine Weltreise unternimmt.“ – Ein weiser Spruch, der sinngemäß in meinen Gedanken ist, ohne ihn einem Urheber zuordnen zu können.

Wachsamkeit und Vernunft

Wir sind noch mittendrin in der „Corona-Krise“, die jedenfalls irgendwie aufgelöst werden wird. Die Menschheit hat schon vieles überstanden, auch wenn einzelne Individuen die Lösung nicht überlebt haben. Aber weitergehen wird es irgendwie. Und vielleicht ergeben sich auch Chancen. Vielleicht lernen wir dazu und es eröffnen sich neue Möglichkeiten. Das steht uns offen, die Gelegenheit bietet sich nunmehr. Möglichkeiten zum Besseren hin, wie etwa: mehr Home-Office, um eigentlich unnötige (Auto-)Fahrten zu Arbeitsplätzen einzuschränken. Oder etwas mehr Sensibilität hinsichtlich Flugreisen, nicht nur aus Furcht davor, sich in fremden Erdteilen womöglich mit Krankheiten anzustecken, sondern vor allem darum, weil uns allen klar ist, dass dieses rund um den Globus Jetten unserer Welt nicht gut tut. Oder: Produzieren nach Bedarf und nicht blindwütig darauflos produzieren und danach erst den Bedarf schaffen …

Möglichkeiten zum Schlechteren und Gefährlichen tun sich bei der Gelegenheit freilich ebenfalls auf: mehr Überwachung, Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, bis hin womöglich zu Einschränkungen im privaten Bereich … Was uns bereits seit langem als „ach so bequem“ verkauft wird, vom elektronischen Bezahlen jeder Kleinigkeit bis zu GPS-Ortungssystemen, ob sie nun genutzt werden, um verlegte Schlüssel zu finden oder um Angehörige zu überwachen, kann uns nun aufs Neue „aus Sicherheitsgründen“ aufgedrängt und nachhaltig untergeschoben werden. Hier ist Vorsicht angebracht und rechtzeitiges Setzen von Grenzen. Wachsamkeit eben. Und Vernunft. Gerade diese ist gefährdet in Zeiten der Unsicherheit und Angst, aber gerade in diesen Zeiten umso mehr notwendig.

Ostern – um diese Zeit schreibe ich diese Zeilen – findet dennoch statt. Gerade jetzt.

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