Sonntag, 5. April 2020

„Wie auf einen langen, strengen Winter“. Nachrichten aus dem Inneren.

Von Judith Gruber-Rizy

Seit zwei Wochen geht mir die folgende Passage aus Franz Kains Roman „Der Föhn bricht ein“ über den Beginn des Zweiten Weltkriegs nicht mehr aus dem Kopf:
Die Eltern reagierten wie Schlafwandler auf das furchtbare Ereignis. Die Mutter holte vom Dachboden irdene Vorratsgefäße herunter und begann sie von den Spinnweben zu säubern. Der Vater kramte eine Broschüre über den Tabakanbau hervor und vertiefte sich in sie. Sonst war kein Wort aus ihnen herauszubringen. Da hätte einer sagen können, was er wollte, sie stellten sich ein wie auf einen langen, strengen Winter.“
Wie auf einen langen, strengen Winter also – auch wenn wir uns auf einen Frühling und Frühsommer, möglicherweise sogar Sommer einstellen müssen, in dem alles anders ist, als wir es gewöhnt sind. Ganz anders, und alleine dieses Ganz-anders-Sein wirkt in irgendeiner Form bedrohlich. Dabei bin ich gleichzeitig auch froh über die Ruhe, die da jetzt plötzlich herrscht. Keine Hektik mit Terminen wie Lesungen, Sitzungen, Besprechungen, kein Konzertabo, keine Treffen mit Bekannten, alles durchgestrichen auf dem Kalender, ein wahres Schlachtfeld diese Streichungen, als hätte ein übereifriger Lehrer oder Lektor hier gewütet. Dafür stehen jetzt so seltsame Dinge wie Gemüsezustellung, Supermarktzustellung oder -abholung, Bäckerzustellung da. Die Reduktion des Lebens auf die Sicherstellung der Ernährung prägt bereits das Leben.
Ganz anders also ist dieser Frühling, als würden plötzlich die Forsythien weniger gelb blühen – oder schenke ich ihnen einfach weniger Beachtung, weil anderes wesentlicher geworden ist? Dazu die erschreckende Erkenntnis, dass fast alle in unserem Umfeld, und wir mit eingeschlossen, alt sind, weil wir alle in dieser freiwilligen Selbstisolation leben, die man uns Alten empfiehlt. Alt ist also, wer über 65 ist und da hilft es nichts, sich selber doch gar nicht alt zu fühlen. Wobei die vielen Alleinstehenden – eigentlich wird mir erst jetzt bewusst, wie viele Frauen, mit denen ich befreundet bin oder die gute Bekannte sind, nicht nur plötzlich alt, sondern auch alleinstehend oder alleinwohnend sind – am meisten unter dem Mangel an realen sozialen Kontakten leiden. „Heute mache ich mir eine Freude und besuche mich selbst.... Hoffentlich bin ich daheim“, diesen Ausspruch von Karl Valentin finde ich noch lustig, die Alleinstehenden aber vermutlich nicht und wahrscheinlich kann ich in einigen Wochen auch nicht mehr darüber lachen, weil auch mir die sozialen Kontakte bald fehlen werden.
Derzeit habe ich den Eindruck, mich in einer Art Schwebezustand zu befinden. Einerseits die eingefahrene völlige Normalität von Tagesabläufen inklusive schreiben, kochen, Wäsche waschen, Post aus dem Briefkasten holen, lesen, fernsehen, andererseits das Wissen darum, dass nichts mehr normal ist. Vor wenigen Tagen habe ich Vorbereitungen für eine Veranstaltung Ende September begonnen, weil ich ja jetzt Zeit dafür habe, ich habe telefoniert, Mails geschrieben. Und doch fehlt mir der Ernst an der Sache, weil im Hinterkopf die Frage steht, ob Ende September wirklich alles so normal ist, dass diese Veranstaltung im wahrsten Sinne des Wortes über die Bühne gehen kann.

Jetzt jedenfalls hätte ich genügend Zeit um an meinem Roman weiter zu schreiben, aber – wie mir eine Kollegin neulich in einem Mail schrieb: „Geht's dir so wie mir, dass du trotz erhöhter Ruhe alles andere tust als zu schreiben?“ 
Tatsächlich ist es schwierig zu schreiben, denn ich habe zwar mehr Zeit, aber nicht wirklich die innere Ruhe. Zu viel stürzt von außen auf mich ein, Zahlen über Neuerkrankungen, Todesfälle, in Österreich, Italien, Spanien, Frankreich, den USA, und obwohl ich seit einer Woche nicht mehr so häufig Nachrichten hören oder sehen will, weil es mir einfach schon zu viel ist, dennoch, die Frage wie es weitergehen wird, nicht nur in meinem Leben, sondern insgesamt, weltweit mit allem, diese Frage liegt doch wie ein schweres Gewicht auf mir. Und da soll ich mit der nötigen Konzentration und Ruhe in mein Romanprojekt hineintauchen können wie in eine andere Welt? Es fällt mir schwer das zu schaffen und es gelingt mir nur selten.
Hinzu kommen ganz andere Fragen: Wie wird es Mitte oder Ende nächsten Jahres, bis dorthin sollte der Roman wirklich fertig sein, mit den Verlagen ausschauen, werden auch die kleineren Verlage überleben? Und wie wird dann der Literaturbetrieb bei uns ausschauen? Welche Bücher werden überhaupt noch verlegt werden? Bücher, die sich mit Corona beschäftigen oder mit der Welt nach Corona? Oder Bücher, in denen dieses Wort nicht vorkommt, weil niemand mehr daran erinnert werden möchte? Kann ich selber so weiter schreiben, als wäre alles hier wie vor zwei Monaten?
Anfang Februar waren wir im „Museum auf Zeit“ im Linzer Hafen. Dort gibt es (derzeit natürlich leider auch geschlossen) kreative Street Art und unter anderem auch ein Trickbild, in das man hineinsteigen kann. Von einem ganz bestimmten Punkt aus fotografiert, schaut es dann so aus, als würde man in einem verschlossenen Glas stehen, das auf dem Wasser schwimmt. So ungefähr fühle ich mich derzeit.

(c) Helmut Rizy

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