Mittwoch, 17. Februar 2021

Von Filtern, Verschwörungstheorien, Corona-Tagebüchern und der nicht zu unterschätzenden Kraft der literarischen Phantasie

Weiterer Beitrag zu den „Nachrichten aus dem Inneren“

von Elisabeth Strasser


Knapp elf Monate ist es her, seit die Rubrik „Nachrichten aus dem Inneren“ auf diesem Blog begonnen wurde. Vor zehn Monaten schrieb ich den Beitrag „Wenn Stubenhocker trotzdem raus müssen“ (gerne nachzulesen auf diesem Blog).
Und wo stehen wir jetzt?
Kaum woanders als damals.
Geändert hat sich höchstens, dass wir uns an einiges bereits gewöhnt haben.
Von einem abschließenden Rückblick kann also keine Rede sein. 

Mittlerweile befinden wir uns im dritten (oder vierten? fünften?) Lockdown. Man kommt mit dem Zählen nicht mehr ganz nach, weil ein Lockdown in den anderen übergeht und nicht mehr so ganz klar ist, ob der eine überhaupt aufgehört hat oder es nur eine Lockerung zwischendurch gab, wie offenbar momentan.

Warum ich Abkürzungen nicht mag

Damals, im April 2020, standen wir gerade vor der MNS-Pflicht. Abkürzungen mag ich übrigens gar nicht, weil sie dazu verleiten, den Begriff, für den sie stehen, nicht mehr bewusst wahrzunehmen. Doch wir wissen inzwischen: MNS = Mund-Nasen-Schutz.

Im Laufe des letzten Jahres wurden fleißig Corona-Sicherheitskonzepte zusammengestellt, um Treffen mehrerer Leute über die Höchstzahl hinaus (die lag damals Mitte des Jahres bei zehn Personen) zu ermöglichen.
Im Arbeitsalltag bekam ich solche Konzepte zum korrekturdurchlesenden Prüfen. In einem davon zog sich – ohne dass es mir auf den ersten Blick aufgefallen wäre – ein Fehler durch: Es war von „Mund-Naschen-Schutz“ die Rede. Oh ja, eine Schutzmaske verhindert gewiss Naschen nebenbei. So leicht kann man sich keine Kekse und keine Schokolade in den Mund stecken mit Maske davor. Allein die Abkürzung hätte auf den Gedanken gar nicht gebracht.

Nun gibt es wieder neue Masken: FFP2. Da ich Abkürzungen nicht mag, musste ich natürlich nachforschen, was diese bedeutet. „Filtering Face Piece“, ein Stück/ein Teil im Gesicht also, das filtert. Na gut, eigentlich nur vor einem Teil des Gesichtes, die Augen sollten unbedeckt bleiben, die Hand vor den Augen oder den Boden vor dem nächsten Schritt sollte man schon sehen, obwohl Brillenträger in der Situation mit MNS ganz gut ziemliche Blindheit nachfühlen können, sobald die Brillengläser beim Eintritt in einen Raum oder einen Bus sofort beschlagen.

Gedankenfilter und Filterblasen

Es geht also um Filtern. Filtern unterstützt die Gabe der Unterscheidungskraft. Die Guten ins Töpfchen … Das Gute (in dem Fall halbwegs genügend Luft) durchzulassen und das Schlechte (in dem Fall mögliche durch die Luft schwirrende Viren) abzuhalten.

Gedankenfilter sind auch nicht schlecht. Alles, was auf uns an Meinungen und Sichtweisen und Irgendwoeinmalgehörthaben, in Postings, in wissenschaftlichen Dokumentationen, an Expertenaussagen und was sich sonst noch alles zu Wort meldet, einzudringen versucht, durch solche Filter nach möglichst vernünftigen Kriterien zu prüfen. Was ist blanker Unsinn? Was ist belegbar und nachvollziehbar? Wo spricht die pure Hysterie? Wo die Verharmlosung? Wem kann ich vertrauen?

Filter treten wiederum in noch einer weiteren Rolle auf, nämlich jener, der sogenannten „Filterblase“. Wer sich über alles, was sich in der Welt im Großen oder im Kleinen tut, vorwiegend auf Informationen aus seinen Social Media-Kanälen verlässt, stülpt einen Filter über sein Weltbild oder bekommt ihn übergestülpt. Es dringt nur mehr das durch ins Bewusstsein, was jene, die gleicher oder ähnlicher Meinung sind, an Offenbarungen in die Welt setzen. Die Welt sieht dann so aus, wie ich immer schon gedacht habe, dass sie aussieht, weil gefühlte 87 Prozent der Leute der gleichen Meinung sind. Die restlichen sind die Spinner und Querulanten, die es nicht lassen können, in ihren Kommentaren herumzumeckern. Der Shitstorm komme über sie!
Wir aber, meine FBF (= FaceBookFreunde/Follower) und ich, sind dagegen jene, die fürwahr informiert sind, die wissen wie der Hase läuft, was sich wirklich abspielt in der Welt. Wir haben von all dem Kenntnis, was die offiziellen Medien uns verschweigen!

Verschwörungstheorien treiben – selbstverständlich – in Krisenzeiten, in Zeiten der Unsicherheit, ihre Blüten. Vernünftige Leute erkennen diese auf den ersten Blick und glauben – selbstverständlich – daran ohnehin nicht. Oder doch? Lassen wir uns nicht doch manchmal leichter manipulieren als wir denken und haben womöglich eine allzu hohe Meinung von uns selber, indem wir meinen, darauf ganz sicher nicht herzeinzufallen? Noch dazu bei einer Sache, in der selbst die Wissenschaft noch ziemlich herumschwimmt in der trüben Brühe der vielen Unsicherheiten.

Faszinierende Literatur

Für all jene, die fiktive Literatur schreiben, Geschichten erfinden, geschöpft aus den Absurditäten der Realität, den Verrücktheiten der Menschen, deren Sorgen und Hoffnungen, deren Glauben an das Gute oder deren Angst vor Vereinnahmung, geschöpft aus den Ausgeburten der Vorstellungskraft … für all jene sind Verschwörungstheorien – wie sich das so trefflich ausdrücken lässt – ein gefundenes Fressen, das sich gut wiederkäuen lässt und mit Zugabe des eigenen Saftes in neuen Formen und neuen Facetten wiedergeben. Faszinierend und höchst unterhaltsam ist das allemal, für die Schreibenden genauso wie die Lesenden.

Eine der wunderbaren Möglichkeiten der Literatur ist schließlich, den Geschehnissen und Gegebenheiten der meist banalen Wirklichkeit einen Sinn zu geben. Nichts darf bei einer gut gemachten Geschichte „einfach so“ passieren, jede Kleinigkeit hat eine tiefere Bedeutung, die die Handlung vorantreibt und erstaunliche Zusammenhänge im Laufe der Geschichte offenbart, Rätsel aufgibt und am Ende möglichst verblüffend auflöst. Ganz anders eben als in der banalen Wirklichkeit.

Genau so funktionieren Verschwörungstheorien, wenn sie feststellen: Das kann alles nicht so einfach sein, kein Zufall, es steckt etwas dahinter. Es steckt jemand dahinter, der im Hintergrund die Fäden zieht, uns alle manipuliert, eines geheimnisvolles Zweckes wegen, der entweder alles zum Guten wenden will (so wie die wohlwollenden Feen in Märchen), die Menschen wie Spielfiguren zur eigenen Unterhaltung einsetzt (wie es in antiken Göttersagen erscheint) oder schlicht seine Macht ins Unendliche ausweiten will und ausleben (wovon moderne Verschwörungsmythen erzählen). Oft läuft es dabei auf eine Geheimgesellschaft hinaus. Das scheint besonders faszinierend, weil sich schön rätseln lässt: Wer mag dabei sein? Was führen die wirklich im Schilde und zu welchem Zweck? Wer steckt dahinter? Was wiederum zur Frage führt: Wem kann ich überhaupt noch vertrauen?

Goethe hat es bereits in „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ vorgeführt, in dem Fall mit einer Geheimgesellschaft, die das Geschick des Protagonisten wohlwollend lenkt. Die literarische Romantik greift das Motiv auf, das Geheimnis, das hinter den alltäglichen Dingen steht. Eines der faszinierendsten Bücher der letzten Jahrzehnte dazu ist Umberto Ecos „Das Foucaultsche Pendel“. Wie er es meist tut, „erfindet“ der hoch gebildete Schriftsteller ziemlich nichts, er braut aus uralten Verschwörungstheorien eine neue Geschichte zusammen. Er führt in dem Roman vor, was passieren kann, wenn jemand mit Verschwörungstheorien spielt und auf jemanden trifft, der diese Spielerei dann wirklich ernst nimmt. Verschwörungsgeschichten wurden seit Menschengedenken tradiert, mit Begeisterung weitererzählt und ausgeschmückt. Je suspekter umso besser.

Meinungsfreiheit und Meinungen frei von Fakten und Verantwortung

Heute haben wir Facebook und dergleichen an Plattformen, mittels derer jede und jeder theoretisch der ganzen Welt alles, was durch den Kopf schwirrt, mitteilen kann. Der Multiplikationsfaktor der Vervielfältigung bewegt sich gegen unendlich. Meinungen völlig frei von Fakten, mehr oder weniger gefährliches Halbwissen, schlichte Dummheit verbunden mit dem Ehrgeiz, überall seinen Senf dazuzugeben (um ein paar „Likes“ aus der meinungsinternen „Filterblase“ zu bekommen) – sinnbefreit, weil inhaltlich verkürzt, missverständlich, weil ohne Rücksicht auf grammatikalisch halbwegs korrekte Sätze – all das feiert fröhliche Urständ in Namen der Meinungsfreiheit.
Schön, dass wir diese haben. Feiern wir dieses kaum je dagewesene Ereignis in der Menschheitsgeschichte! Und gebrauchen wir die Filter des notwendigen „Was kann stimmen?“ Dass diese Filter der Vernunft, gefüttert und ausgekleidet von Bildung und Erfahrung, dem Massenauswurf an unüberlegten verbalen Schnellschüssen meist hinterher sind, scheint evident.
Trotzdem – um es zu wiederholen – seien wir dankbar für die Meinungsfreiheit, missbrauchen und verspielen wir sie nicht, sie kann schnell wieder dahin sein!

Gegenentwürfe?

Als Autorin, die – eigentlich – ihre Freude daran hat, möglichst phantastische Geschichten zu erzählen, in denen durchaus und gerne abenteuerliche Verschwörungstheorien eine Hauptrolle spielen können, stelle ich mir nun aber die Frage: Kann/soll/darf man das sinnvollerweise überhaupt heute noch, wenn die Realität dessen, was in „Social Media“ im Umlauf ist, alle Dichterphantasie bereits übersteigt (gewiss nicht im Erzählstil, nicht in der Dramaturgie oder Darstellung, aber bestimmt auf der Ebene des Inhalts) und längst überholt hat? Sollte man nicht eher dagegen arbeiten mit allen möglichen Mitteln? Gewiss besser nicht mit dem „moralischen Zeigefinger“, der gutgemeint ohnehin meist nichts nutzt, sondern weit eher mittels Lächerlichmachen, mittels der Parodie und der Satire. – Ein Roman, der diesem Ansinnen ungefähr entspricht, ist übrigens letztes Jahr erschienen: „Jokerman“ von Stefan Kutzenberger. Eine Gruppe „Eingeweihter“ vermeint in dieser Geschichte aus Song-Texten von Bob Dylan die Weltpolitik beeinflussende Botschaften herauszulesen. Eine so schön großartige, abstruse Idee ist das. Das Buch wurde bereits viel besprochen, man mag sich selbst ein Bild machen, inwieweit mehr oder weniger gelungen das Thema umgesetzt wurde.

Von Dokumentieren, Erzählen und der Gabe der Phantasie

Am Ende kommen wir doch wieder auf das schon so unleidliche Thema „Corona“ zurück:
Unmengen an Literatur, an Erzählbänden, womöglich auch Romanen zu dem Thema sind entstanden oder im Entstehen begriffen. Jede Menge Blogs und öffentliche Tagebücher.
Meist handelt es sich um schlichte Dokumentation. Dokumentation ist wichtig. In fünfzig oder hundert Jahren, wird es gewiss (falls die Menschheit und deren Kultur bis dahin überlebt hat) jede Menge Corona-Gedenkveranstaltungen und Gedenkausstellungen geben. Also dokumentieren wir fleißig weiter, heben wir längst verfallene Eintrittskarten von nicht zustande gekommenen Konzerten oder Fußballspielen auf. Und auch erstellte Sicherheitskonzepte mit und ohne Schreibfehler. Das wird alles einst ausgestellt und kann von den nachfolgenden Generationen bestaunt werden. Aber dokumentieren wir vor allem auch für uns selbst. Das Erinnerungsvermögen neigt zum Schwinden, sobald etwas hinter uns liegt.

Dokumentieren kann man mittendrin im Geschehen. Die Folgen werden sich erst später herausstellen, erst im Rückblick wird sich vieles erschließen lassen. Wirklich „erzählen“ kann man von etwas erst im Nachhinein, wenn aus dem Geschehen Geschichte geworden ist. Erzählen läuft immer auf etwas hinaus, auf ein Ende, einen Ausgang, auf Perspektiven, die sich eröffnen. Ob das nun ein „Happy End“ ist oder eine ultimative Katastrophe, lässt sich erst im Nachhinein zeigen. Derzeit können wir noch nicht erzählen von Corona, bloß dokumentieren aus der Mitte des Geschehens heraus.

Dennoch, wir haben die Gabe der Phantasie: Wir können uns von der aktuellen Situation anregen lassen, Geschichten zu erdenken, welche die momentane Situation anregt. Daraus können Utopien entstehen oder Dystopien. Es kann mit Geschichten Hoffnung gemacht und getröstet werden oder ein ultimativer Untergang imaginiert, um zu sagen: Ändern wir den Kurs, es ist noch nicht zu spät, vielleicht noch nicht, versuchen könnten wir es immerhin.

Beides ist berechtigt, beides notwendig.

Man unterschätze nur die Gabe der Phantasie und die Wirksamkeit der Literatur nicht.


1 Kommentar:

Ficken mit dem Klassenfeind. Walter Josef Kohl

Foto: Dieter Decker Rezension von Dominika Meindl  „ Bei all der sozialen Aufsteigerei, beim sich Emporarbeiten von ganz unten, vom dörfl...