Renate Silberer zeigt in ihrem mehr als gelungenen Romandebüt „Hotel Weitblick“ den Zusammenhang zwischen untoter NS-Pädagogik und schmerzbefreitem BWL-Gequatsche
Von Dominika Meindl
Es ist keine Neuigkeit, dass Soziopathen in Chefetagen überrepräsentiert sind; zu Eigentümergruppen und Aktionären ist es nur noch nicht durchgedrungen, dass emotionale Kälte und Manipulationsfreude einem Unternehmen belegbar schaden. Damit ist die erste, vordergründige Ebene in Silberers Debütroman bezeichnet: Der Top-Consulter Marius Tankwart soll den neuen Geschäftsführer einer großen Werbeagentur finden, die vier überambitionierten Kandidaten aus dem mittleren Management (drei Männer, eine Frau, immerhin), müssen ein Wochenende lang in einem Seminarhotel irgendwo im Hinterland Assessment Center spielen.
Horst hat seine Freundin verletzt, weil er den Jahrestag leichten Herzens gecancelt hat. Weil sie jetzt nicht abhebt, wirft er ihr ihre Kränkung in einem inneren Monolog vor. „Ich kann das nicht gut aushalten, diese Strenge. Wie komme ich überhaupt dazu? Das ist eine absolute Rollenverkehrung. Spinnst du, Veronika, ich meine, wer ermöglicht dir dein Musikschullehrerdasein, hm, denk mal nach.“ Zum Druckabbau schreibt er neoliberale rants in die sozialen Medien. Nach und nach bekommt die Leserin Einblick in die Kindheit der vier. Eine ärgere Geburtstagsszene als jene in Horsts Leben muss man lange suchen. Der Espresso-Snob Franz redet sich ein, dass seine Frau und seine Kinder sein ganzer Stolz sind, an den Wochenenden spielt er sich selbst den Familienvater vor, denkt aber zuerst an seine Bialettisammlung, als ihm die Gattin das Ende der Ehe verkündet. Annette arbeitet nicht nur hart für die Agentur, sondern hart an der Verdrängung ihrer Panikattacken. Sie glaubt, ihr Leben im Griff zu haben, weil sie Yoga macht und Obst ist. Helmut hat eine ausgewachsene Essstörung und Sportsucht, würde sich das allerdings nie eingestehen.
Für das narzisstische Quartett sind diese drei Tage eine Zumutung, jeder dünkt sich überqualifiziert, kein Zweifel kränkelt ihr Ego an, und genau so quatschen die künftigen Führungskräfte mit ihrem empathielosen Betriebswirtschafts-Bullshit aneinander vorbei. Was für ein Phrasenschmarrn! Diesen Jargon hat Silberer exakt eingefangen. Das ist an sich schon eine Leistung (falls Literatur und Literaturkritik in solchen Kategorien überhaupt agieren sollten). Aber die Angestelltenliteratur ist ein etabliertes Genre, und nach Ricky Gervais in „The Office“ ist es schwer, dazu etwas Neues zu sagen. Silberer hat genau das geschafft. Weit tiefer nämlich geht die eigentliche, zweite Ebene von „Hotel Weitblick“. Lange hat sich Silberer mit Johanna Haarer auseinander gesetzt, deren Erziehungsbestseller „Die Mutter und ihr erstes Kind“ noch 1987 neu aufgelegt worden ist. Das ebenso Schlimme wie Bizarre daran: Haarer war „Gausachbearbeiterin für rassenpolitische Fragen“ und NS-Erziehungsbeauftragte. Im Jahr der Ersterscheinung 1938 war die Mutter noch „deutsch“. 1939 folgte das Kinderbuch „Mutter, erzähl' von Adolf Hitler!“ Haarers Frauenbild bleibt über die Jahre hinweg haarsträubend, nachgerade herzenskalt sind ihre Tipps zur Abhärtung und Züchtigung des Neugeborenen: „nach der Entbindung beginnt die Erziehung“, also die Abrichtung des zukünftigen Soldaten, der künftigen Rasseerhalterin. „Nach der Abnabelung wird das Kind erst einmal beiseitegelegt und für vierundzwanzig Stunden in einem abgedunkelten Raum frei von Nahrung und fern der Mutter verwahrt.“
„Hotel Weitblick“ geht über eine bloße Anklage oder eine (an sich schon triftige) historische Aufarbeitung weit hinaus. Denn die fünf Protagonisten sind zwar objektiv erfolgreich, seelisch aber zerstört – allesamt im Geist Haarers durch emotionale Vernachlässigung erzogen. Die Kinder sollten es einmal besser haben, und da ist „Verzärtelung“ der falsche Weg. Zwanzig, dreißig Jahre nach dem Krieg war es immer noch opportun, den Säugling in ein Zimmer zu sperren und schreien zu lassen, das stärkt die Lungen und bricht den Willen. Was dabei herauskommt, exemplifiziert Silberer psychologisch präzise in ihrem Kammerspiel. Nur an ein paar ganz wenigen Stellen tragen die Dialoge schwer am Stoff. Es mag an der Nähe zur Lyrik liegen, die Silberers Prosa so tragfähig macht.
Alle kauen an der vorenthaltenden Zuneigung wie auf flachsigem Fleisch. Ein verbindendes Doppelmotiv ist das Erschrecken vor dem eigenen Spiegelbild, der verwehrte Blick in die Augen des Anderen. Katalysator und Spielleiter ist der Unternehmensberater – die vier Akteure wissen noch nicht, dass dies sein letztes Wochenende im zur Last gewordenen Beruf ist. Tankwarts Selbstbefreiung ist schon geplant, er möchte den vier Leidensgenossen die gemeinsame innere Leere vor Augen halten und sie den ja eigentlich teilbaren Schmerz fühlen lassen. Doch vom Irrglauben, den Daseinszweck durch Leistung und Disziplin zu erfüllen, mag niemand so leicht lassen. „Der Mensch ist mehr als sein Beruf“, das kann man gar nicht genug betonen.
Renate Silberer: Hotel Weitblick. Roman, Kremayr und Scheriau, 240 S., 20 €
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