Dienstag, 5. April 2022

Frankenstein im Teilchenzoo. Über Wilfried Steiners "Schöne Ungeheuer"


Von Dominika Meindl (Langversion der Rezension im "Falter")

Georg Hollaus ist ein leicht frustrierter Wissenschaftsjournalist beim Wiener „Beobachter“, er hadert mit dem Zeitgeist und der Prokrastination, denn er soll endlich aus seiner Obsession für das Tunguska-Ereignis einen Roman machen. Dieses ist der Generation X aus „Akte X“ wohlbekannt: 1908 kam es zu einer gewaltigen, mysteriösen Detonation in Sibirien, deren Strahlen noch tagelang die Nächte in Europa erhellten. „Was mich tröstet, ist vielleicht der Gedanke, dass meine eigene Erzählung aus ebenso vielen Bruchstücken besteht wie der Stein- und Eisenhaufen aus dem All, von dem wir nicht wissen, ob es ihn jemals gegeben hat.“ Der von seiner Frau verlassene und von „Freunden“ verspottete Hollaus fände mit Steckenpferd und Selbstmitleid sein Auslangen, doch da beauftragt ihn sein neoliberal infizierter Vorgesetzter mit einer „Aufdeckergeschichte“ über die CERN-Physikerin Jelena Karpova, die soeben gestanden hat, bei einem Kongress in Linz einen Kollegen erstochen zu haben. Schnell findet sich Hollaus als Assistent von Karpovas umtriebiger Anwältin Eva Mattusch wieder. Gemeinsam machen sich die beiden auf nach Genf, um in der Physik-Elite Nachforschungen zu betreiben.

Wilfried Steiner, der von Brotberuf Leiter des Linzer Posthofs ist, kommt auf eine bessere Veröffentlichungsfrequenz als manche freiberufliche KollegInnen. Was an sich noch nichts heißt, im konkreten Fall aber qualitativ umso beachtlicher ist. In seinem neuesten Roman versucht er sich an der Verbindung von romantischer Literatur und zeitgenössischer Teilchenphysik. Subatomare Vorbildung schadet nicht, ist aber keine Voraussetzung, denn der Forschungsstand ist in „Schöne Ungeheuer“ allem Anschein nach (aber Literaturkritikerinnen wissen ja noch viel weniger als Wissenschaftsjournalisten!) gründlich recherchiert, rezent und verständlich vermittelt – so weit möglich. „Wenn Sie von der Quantenmechanik nicht völlig verwirrt werden, dann verstehen Sie sie nicht“, heißt es in einem Zitat von Nils Bohr, und: „Wenn es um Atome geht, kann Sprache nur wie in der Poesie verwendet werden.“ Steiner selbst bleibt stilistisch straight, was klargeht, denn über die Krise des Erzählens werden wir ohnehin überall anders wortreich informiert. Die Spannung ist dezent dosiert, ab und zu wird man wegen der allzu stark eingesetzten Handlungsverzögerung in den Dialogen ungeduldig, und dem Erzähler geht’s ähnlich. „Das kommt vielleicht daher“, sagte ich grimmig, „dass ich Rätsel hasse.“ Frauen spielen tragende Rollen, und der auch in Liebesdingen sympathisch täppische Erzähler verehrt sie allesamt (aber herrjeh, muss denn eine jede auch noch so über-attraktiv sein?! ;-).

Genf ist als Handlungsort nicht nur wegen des Large Hadron Collidors geschickt gewählt, sondern auch, weil Mary Shelley in der legendären Sommernacht 1816 den „Frankenstein“ erdachte. Ausgelöst übrigens durch ein anderes elementares Naturereignis, die größte historisch erfasste Eruption eines Vulkans. Die Asche des Tambora führte zum „Jahr ohne Sommer“. Die Schauergeschichte über wissenschaftliche Hybris spielt auch eine wesentliche Rolle in „Schöne Ungeheuer“. Das Tourismusbüro Genf darf sich im Übrigen sehr bei Steiner für seine kenntnisreiche und lukullische Huldigung der Stadt bedanken.

Schöne Ungeheuer“ ist ein Lob auf die Vorstellungskraft der Belletristik genauso wie der Grundlagenforschung. Literatur ist mehr als interessantes Lügen, und Forschung ist mehr als die Suche nach Wahrheit. Es geht in beidem um Ästhetik: „Manchmal ist der Irrtum schöner als die Wahrheit“, lässt er seinen Hollaus feststellen. Die Bildungsbürgerin wird am Ende gut unterhalten sein und hat – im Idealfall – noch was gelernt. Im nächsten Buch möge sich Steiner aber gefälligst eine Lösung für das Tunguska-Rätsel ausdenken!

Wilfried Steiner: Schöne Ungeheuer. Roman. Otto Müller Verlag, 316 S., 25 €

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