Samstag, 2. Juli 2022

Rettet die unnützen Bedürfnisse!

von Corinna Antelmann

Schreibend tätig zu sein, kann vielerlei bedeuten: Kommendes vorwegnehmen. Vergangenes beschreiben. Bekanntes neu zusammenfügen oder das Unbekannte hervorholen. So vielfältig die Ansätze, zu schreiben, auch sein mögen: Stets öffnet die Literatur eine Tür, die uns in die Köpfe anderer Menschen eintreten lässt und somit Einblicke in ihr Denken und Fühlen gewährt.

Der Schlüssel zum Tor des Unbewussten

Die Schriftstellerin Christa Wolf hat einmal gesagt, für sie sei das Schreiben immer mehr der Schlüssel zu dem Tor geworden, hinter dem die unerschöpflichen Bereiche ihres Unbewussten verwahrt seien.[1] Ihr schriftstellerisches Schaffen führt zu einer Selbstbefragung, die hilft, verdrängte Gefühle zu verarbeiten und verdrängte Kräfte zu befreien. Es lässt erfahren, was zuvor nicht bewusst wahrgenommen werden konnte. 

Das Schreiben entspricht hier in einem durchaus Freud‘schen Sinne einem Zwang, der zugleich dazu führt, die inneren Widerstände zu mindern, die ein Mensch gewöhnlich verspürt, wenn er Geheimnisse preisgeben soll. Es wird somit zu einem wirksamen Weg, den oben erwähnten “Schlüssel zum Tor des Unbewussten” zu nutzen: schreibend UND lesend. Das funktioniert durch den formalen, ästhetischen Kunstgewinn, ohne den literarisches Schaffen nicht denkbar wäre. 

Zugleich schöpft die Kenntnis der eigenen Person Erkenntnis, denn die Betrachtung der unbewussten Bereiche führt immer auch zu einer differenzierteren Betrachtung der Welt. In dem Zurückgedrängten, dem Verschwiegenen, das gewöhnlich keine Sprache findet, lässt sich die Perversion aller bestehenden Systeme entdecken, die mit der Ausgrenzung bestimmter Bereiche arbeiten. Das umschließt das Patriarchat ebenso wie Industrialisierung oder freie Marktwirtschaft:

Der Schrecken darüber, wie in Industriegesellschaften die Selektion der „nützlichen“ Kräfte und Strebungen eines Menschen auf Kosten seiner „unnützen“ Bedürfnisse und Wünsche funktioniert, und die Trauer über die Folgen dieser Spaltung und Amputation fließen sicherlich in mein Schreiben ein.[2]

Der Ansatz, sich dem eigenen Unbewussten zu widmen, steht somit der völligen Überbetonung des Materiellen entgegen, das zu Ideen- und Ideallosigkeit führt. 

Dem kann Literatur entgegenwirken. 

Romantische Literatur und Psychoanalyse

Auch die deutschen Romantiker*innen machen Anfang des 19. Jahrhunderts auf Widersprüche und Unbekanntes aufmerksam –- entgegen der empirischen Weltsicht des aufgeklärten Menschen, der das 18. Jahrhundert prägt. In ihre Literatur fließen Elemente von Mythos, Poesie und Traum zurück. Diese Wiederbelebung ist exemplarisch für die Annahme, dass es eine in den Tiefen des Menschen selbst liegende Wirklichkeit zu entdecken gibt. Gleichsam befassen sie sich mit dem Fremden und lokalisieren es im Menschen selbst als ein ihm Eigenes.

Die Romantiker*innen verleihen der menschlichen Zerrissenheit in ihren Held*innen ästhetisch Ausdruck, wie beispielsweise in E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann". So führt die Erforschung des Subjektempfindens schließlich nicht ohne Grund zu der Annahme eines Unbewussten durch Freud. Überhaupt wäre die Psychoanalyse ohne Dichtung kaum denkbar gewesen.

Der kulturelle Konflikt eines auf Dualismus begründeten Bösen und Guten vollzieht sich somit nicht länger in der sinnlich erfahrbaren Welt, sondern im Innenleben einer jeden Person. 

Ja, in den Tiefen der eigenen Seele müssen wir nach einem sicheren Grund für das Dasein fahnden. Er entzieht sich der intellektuellen Erforschung und offenbart sich vielmehr in der instinkthaften und intimen Suche.[3]  

Zum Beispiel beim Schreiben.

Subjektivismus als Stärke

Um auf Christa Wolf zurückzukommen. 1974 beklagt sie in Ein Tag im Jahr:

Das Grund-Motiv meines Schreibens, mit mir selbst ins Reine zu kommen, setzt sich rigoros durch, ich kann und darf es nicht ignorieren, so oft es mir auch als meine Grund-Schwäche erscheint: „Subjektivismus“. [4]

Wenn es jedoch der Betrachtung der Vorgänge in unserem Inneren bedarf, um zu einer ganzheitlichen Betrachtung der Welt zu gelangen, so ließe sich in diesem von Christa Wolf selbst beklagten Manko, keine Objektivität zu erzeugen, im Gegenteil ein Reichtum erkennen. Weil hier nach der Erkundung von Bedürfnissen, Ängsten, Wünschen gestrebt wird, wie sie gesellschaftlich zurückgedrängt werden. Das Nicht-Entfremdete, dem sie ihre Stimme leiht, wäre demnach eine Stärke und darf gerne als Gewinn verstanden werden.

Ein Gewinn an Ganzheit.


 

 



[1] Aufsatz: Warum schreiben Sie? (1985). Zitiert nach: Die Dimension des Autors

[2] Aufsatz: Warum schreiben Sie? (1985). Zitiert nach: Die Dimension des Autors

[3] vgl. Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst,  Frankfurt, 1990: S. 197 ff.

[4] Wolf, Christa. Ein Tag im Jahr (1974): 189

 


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