Montag, 19. August 2019

Worüber ich mich wundere. Ein Essay zur Lage.

Von Judith Gruber-Rizy.

 
Wir würden uns noch wundern, was alles möglich sein wird, sagte im Bundespräsidenten-Wahlkampf Norbert Hofer, damals FP-Kandidat für dieses höchste Amt in unserer Republik, später Minister, jetzt ehemaliger Minister, aber dafür neuer Parteiobmann. Ich weiß noch genau, wie mich dieser Satz erschreckt hat, als ich ihn bei der Fernsehdiskussion gehört habe.
Und ja, Hofer hatte völlig recht, ich jedenfalls wundere mich seither immer wieder, jeden Tag aufs Neue, was in unserem Land alles möglich geworden ist, ja, was beinahe selbstverständlich und in kürzester Zeit irgendwie normal werden konnte.
Vor etwas mehr als einem Jahr durfte ich Erich Kandel in Wien persönlich kennenlernen. Kandel gebürtiger Österreicher, jetzt US-Bürger, Nobelpreisträger für Physiologie der Medizin im Jahr 2000 und mit seinen 90 Jahren ein sehr beeindruckender Mann. Ihm gelang im Jahr 1939 als 10 Jähriger gemeinsam mit seinem Bruder die Flucht vor den Nazis. Anlässlich der Enthüllung einer Erinnerungstafel an die vertriebenen und teilweise ermordeten jüdischen Bewohner des Hauses, in dem Erich Kandel aufgewachsen war, kam er auf Besuch nach Wien.
Wie immer bei solchen Gelegenheiten, wurden eine ganze Reihe von Reden gehalten. Unter anderem sprach auch die damalige Bezirksvorsteherin, eine Frau in meinem Alter, eine Jüdin, deren Großmutter als eine von ganz wenigen der Familie die Shoah überlebt hat. Diese Frau sagte schließlich in ihrer Rede: Es hieß immer, wehret den Anfängen! Dafür aber ist es jetzt schon zu spät, wir sind schon viel weiter als in den Anfängen.
Auch das ist ein Satz, der mich seither nicht mehr loslässt, der sofort wieder präsent ist, bei jedem der zumindest 66 sogenannten Einzelfälle, die bekannt geworden sind, vom Liederbuch, in dem die Ermordung einer siebten Million Juden besungen wird, über die „stichhaltigen Gerüchte“, dass George Soros, der Jude Soros, Europa „umvolken“ will, bis zu diesem grässlichen Rattengedicht und zum „Bevölkerungsaustausch“ von dem ein Vizekanzler dieser unserer Republik sprach, bis zur Nominierung eines Odin Wiesinger für den oberösterreichischen Kulturbeirat, aber auch bis zur ständigen Nennung des Namens Silberstein, auch durch den nunmehrigen Ex-Bundeskanzler. Auch er bedient sich so wie seine rechtsextremen Koalitionspartner damit eines antisemitischen Codes, benutzt antisemitisches Framing, und niemand soll mir erzählen, das sei zufällig. Denn ich bin überzeugt: würde dieser Mann nicht Silberstein, sondern Müller, Meier oder Gruber heißen, der Name würde nicht mehr genannt werden.
Es ist dieses Spiel mit Worten, mit Codes, mit Anspielungen, mit Bedeutungsänderungen oder Bedeutungsaufladungen von Worten, das vor allem in den vergangenen zwei Jahren geradezu über uns hereingebrochen ist und - das erscheint mir als das eigentlich Erschreckende daran – von den meisten einfach hingenommen wird, unhinterfragt, unreflektiert.
Da ließ ein Innenminister der Republik Österreich das „Erstaufnahmezentrum“ für Flüchtlinge in „Ausreisezentrum“ umbenennen, einfach so, ganz offiziell, und kein einziges Mitglied der Regierung, auch nicht der Bundeskanzler, protestierte dagegen, keine Ministerin, kein Minister, keine Staatssekretärin wies auf die Orwell-mäßige Absurdität dieser Umbenennung hin, schon gar nicht wurden Bedenken bezüglich der europäischen Menschenrechtskonvention und der Internationalen Menschenrechte laut.
Da ist das Überhandnehmen in der Verwendung von Codes, denen sehr viele Menschen, so habe ich immer mehr den Eindruck, unwissend und auch hilflos gegenüberstehen. „Bevölkerungsaustausch“ etwa. In einschlägig rechtsextremen Kreisen ist schon länger vom „großen Austausch“ die Rede, wer also heute und hier bei uns „Bevölkerungsaustausch“ sagt, tut dies nicht zufällig, der weiß, was er damit erreichen will und wen er damit anspricht. Aber der verwendet dieses Wort auch, damit es langsam aber sicher in den normalen gebräuchlichen Wortschatz Einzug hält. Und wir erinnern uns: dieses Wort ist nicht harmlos, die rechtsextremen Identitären verwenden es und der Attentäter von Christchurch in Neuseeland hat es propagiert, bevor er so viele Menschen ermordet hat. Bei uns wurde es nach diesen Morden vom Vizekanzler unserer Republik Österreich verwendet - und verteidigt.
Dass das Wort vom angeblichen „Bevölkerungsaustausch“ auf fruchtbaren Boden fällt, dafür reicht ein Blick nach Weikendorf, einer kleinen Gemeinde 35 km östlich von Wien, wo ein ÖVP Bürgermeister den Hauskauf durch eine palästinensische Familie zu verhindern versucht, weil er nicht will, dass sich Muslime in diesem verschlafenen und wahrlich unattraktivem Nest ansiedeln. Die türkischstämmigen Landarbeiter, die dort in der Umgebung leben und für minimale Löhne auf den Feldern der im Marchfeld wirklich großen Bauern arbeiten, stören ihn nicht, der ehemalige Universitätsprofessor für Englisch mit seiner Familie schon.

Die Umdeutung von bestimmten Worten, die Verwendung von Codes, von einschlägigen Begriffen ist immer nur der Anfang. Und wenn ich auf Facebook die von mir ungewünschte Werbung des Ex-Kurz-Bundeskanzlers lese: „Das Parlament hat bestimmt, das Volk wird entscheiden“, dann kriecht die Gänsehaut über meinen Rücken, denn immer wenn das gerade bei uns durch die Nazivergangenheit so stark aufgeladene Wort „Volk“ als Gegensatz zum gewählten Parlament ins Spiel gebracht wird, dann sollten wir sehr schnell und sehr intensiv darüber nachdenken, wohin das führen kann. Denn damit wird eigentlich eine Delegitimierung des ja doch vom „Volk“ gewählten Parlaments angedeutet. Und es ist die Wortwahl der Rechtsextremen und Rechtspopulisten, die hier durchklingt.

Als ich vor vielen Jahren das erste Mal den Begriff „Gutmenschen“ gehört habe, erschien es mir unvorstellbar, dass sich dieser Ausdruck als negative Beschreibung eines Menschen durchsetzen und in den allgemeinen Sprachgebrauch als Beschimpfung eingehen könnte. Der Begriff „guter Mensch“, also ein Mensch, der einfach menschlich ist und menschlich handelt - ob aus Solidarität, aus Vernunft, aus Mitgefühl oder auch aus christlicher Nächstenliebe – so dachte ich mir damals, kann doch nie negativ besetzt werden, nie zur Beschimpfung werden - wir sind doch nicht bei Orwell 1984. Ich habe mich geirrt.

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