Dienstag, 24. März 2020

Leicht betrunken und keine Termine. Start der Reihe "Nachrichten aus dem Inneren"

Erste Folge: Dominika Meindl

13.3.
Meine Definition von Glück? Keine Termine und leicht einen sitzen.“ Eine geschmacklose Gottheit hat meine geheimsten Wünsche erfüllt, aber um welchen Preis?! Die Wirtschaft geht den Bach hinunter, alle haben Sorgen und ich muss die Reise zum Polarkreis aufgeben. Positiv ist höchstens, dass Harald Juhnkes bestes Zitat die Runde macht.

Angesichts des hektischen Entrümpelns im Altstoffsammelzentrum sieht mich die ältere Mitarbeiterin wohlwollend an und sagt „Gottseidank sind wir in Pension, goi?“ Vielleicht gebe ich meinen Widerstand gegen das Haarefärben auf, wenn das alles hier vorbei ist. Im Supermarkt ist alles Grüne aus den Kisten gerupft; nur beim Stangensellerie würden die Menschen von Linz-Land lieber hungern, als ihn zu kaufen. Ein Freund von einem Freund von einem Freund erzählt, dass auch alle Jungpflanzen im Hanf-Growshop gehamstert werden.

Die Nachbarn sind zu Besuch.


14.3.
Jemand, den ich von ferne kenne – als bildender Künstler eigentlich im Genuss meines Vertrauensgrundsatzes – beginnt, auf Facebook dummes Zeug zu posten, das Virus sei aus einem chinesischen Kampflabor entschlüpft, die Zahl der Infizierten vom System übertrieben, außerdem sei heute der Tag, um der Bombardierung der Staatsoper zu gedenken, als die Amerikaner die Österreicher ins Herz trafen (der Mann ist selbst Spanier). Als ich ihn höflich frage, ob ihm ein Radl im Dreck renne, blockiert er mich umgehend. Corona macht die Klugen klüger und die Dummen dümmer. „Social media distancing“ drängt sich auf (was ich durch das Verfassen von Blogtexten gleich wieder ad absurdum führe).

15.3.
Am Tag vor der Ausrufung der Covid-19-Gesetze verlassen die Roma mit ihren Gespannen Wels. Es werden sie weniger die völkischen Kräfte in der Stadtregierung vertreiben (obwohl die seit Jahren alles daran setzen, die Durchreisenden an ihrem traditionellen Halt zu hindern) als die Hoffnung, noch die französische Grenze zu erreichen, bevor alles dichtgemacht wird.

Privilegierte Schauplätze der Selbstisolation: unterm Baumhaus

16.3.
Das Ausräumen des Geschirrspülers gewinnt eine nie dagewesene Würde im Alltagsvollzug. Bei „Recherchen“ entdeckt: Im inneren Asteroidengürtel gibt es einen Kleinplaneten, der „(243491) Mühlviertel“ heißt. Die Gendarmerie fährt Streife durch mein Einfamilienhausghetto, um nachzusehen, ob die Kinder jeweils in den eigenen Gärten trampolinspringen.

18.3.
Ein Freund erzählt beim Entlastungsplausch am Telefon, er habe seit Ausbruch der Seuche in China nachgedacht und viel gerechnet; dank seiner Prognosen sei er so erfolgreich beim Aktienhandel gewesen (und zwar zum Nachteil einer großen Bank, sehr gut), dass er jetzt zur Not seine Familie eine Weile alleine durchbringe. Seither verbringt er viel Zeit damit, auf die leere Autobahn hinunterzuschauen. 

Zehen und Leseempfehlung der Autorin

19.3.
Einen Termin nach dem anderen radiere ich aus dem Kalender; bei den vielen unbezahlten Besprechungen ist es mir eine Erleichterung, bei „Skitour Slowenien“ oder „Großvenediger“ radiere ich gründlicher, damit mich keine Spuren dieser Einträge an mein versäumtes Leben erinnern. Ich stehe jetzt öfter vor den Karten vom Toten Gebirge, die ich an die Wand genagelt habe, und male mir lange Entschädigungstouren im Sommer aus.

23.3.
Erleichterung, dass ich in den übersozialen Wochen offensichtlich niemanden angesteckt habe, vor allem nicht bei Hans Eichhorns Begräbnis (das in dieser großen, offenen Form wohl erst wieder im Sommer hätte stattfinden dürfen; schön, dass wir uns noch so verabschieden konnten.) 

24.3.
Gertraud Klemm schreibt soeben auf Facebook über ihren Ärger, wenn es überall heißt, jetzt komme man endlich wieder zum Lesen. „Ich kann's nimmer hören! Die Literaturbranche kracht wie ein Kaisersemmerl: Leipzig fand nicht statt, die PR stottert, viele Lesungen brechen weg, Herbstprogramme werden abgesagt. Und was passiert? Der ORF empfiehlt 'Schwarten' wie Tolstoi, Ö1 stellt das Kulturjournal ein, und Amazon liefert einfach keine Bücher mehr aus. Das könnte die Stunde der Literatur sein und ist stattdessen ein Untergang in mehreren Etappen. Ich frage mich gerade - wie konnte das passieren, dass die ganze Literaturbranche so veranstaltungsfixiert und verplappert ist? Sollte es nicht ums Lesen gehen?“
Wie uns das alles hier in OÖ betrifft, müssen wir abwarten. „Zum Glück“ habe die Oberbank „Fett auf den Rippen“, sagt der slimfitte Direktor Gasselsberger. In der heimischen Literatur haben wir dieses Fett höchstens im Wortsinn am Leib, unsere finanziellen Reserven sind mager wie Marathonläufer.

Orban schafft es immer noch, fassungslos zu machen – er will den Notstand auf unbestimmte Zeit verlängern. Wäre das jetzt nicht ein schöner Anlass für die EU, sehr, sehr, sehr streng zu werden? Und für die türkisen Orban-Freunde in der Regierung, sich vom Gulaschdespoten zu distanzieren? Gut, dass wir in Österreich die Bedeutung des Wortes „Notstand“ derzeit noch privat auslegen dürfen und an die armen Singles denken, die zuhause grade ohne Unterleibsfreuden bleiben. Wäre ich nur ein wenig verworfener, ich wünschte dem Orban ein Unterleibsleiden, aber: So sind wir nicht.

Die etwas ungenutzt umherstreifenden Empfindungen suchen sich eigene Ventile, man ist etwas empfindlicher als sonst, die Empathie mit den Marillenbauern über deren Totalausfall ist so tief wie die Temperaturen. 

Service für die Filterblase: ein coronabefreiter Pressespiegel 

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