Dienstag, 13. April 2021

Komisch, dass es uns gibt!

Über Rudi Habringers neuen Roman "Leirichs Zögern"

Von Dominika Meindl

 

Ein paar herbstliche Tage im herbstlichen Leben eines alleinstehenden Mannes: Gregor Leirich hadert mit seinem Älterwerden, der Generation Y, seinem immer wieder in der friendzone endenden Liebesleben, seiner stagnierenden Karriere als freiberuflicher Historiker und Musiker. Ein langes Lamento gönnt Habringer seinem „Helden“ nicht; der handlungsauslösende (oder doch zunächst: handlungshemmende) Vorfall ereignet sich gleich zu Beginn: Nach einem Vortrag eröffnet ihm eine unbekannte Frau, dass er, Leirich, einen älteren Halbbruder habe. Die Erkenntnis zieht ihm den Boden unter den Füßen weg. Er muss einsehen, dass auch die eigene Familiengeschichte ein Konstrukt ist. So wird ihm der Alltag, in dem er sich eingerichtet glaubte, fraglich. „Ich war über Nacht nicht Vater geworden, wohl aber Bruder eines Bruders.“ Leirich beginnt die Frage zu quälen, warum sämtliche Ahnen bis zum Tod Stillschweigen über den unehelichen Sohn bewahrt hatten.

Bei der Recherche gerät der Historiker an die eigene Geschichte. Die „Welt war klein und gut geheizt“, erzogen wurde er mit Sprüchen wie „Wer im Frieden leben will, der leide still und dulde viel“, und dass das „kleine Glück“ mehr als ausreiche. Er denkt viel über seine allzu früh verstorbene Mutter nach, und noch mehr über seinen zweifach verwitweten Vater, der mit drei Frauen fünf Kinder gezeugt hat, eines davon als Kleinkind verlor und die drei ehelichen Kinder allein aufgezogen hat. Nach einigem Zögern(!) entscheidet Leirich sich, Offenheit zu wagen.

Eingemottete Erzählungen, gebunkerte Gefühle, verdrängte Marginalien“ nennt Leirich ein Denkprojekt, das auch den Roman gut trifft. Wiewohl nun bei Otto Müller erschienen (was ist los, Picus?!), weist Habringers neuer Roman Verbindungen zu früheren auf („Engel zweiter Ordnung“, „Was wir ahnen“), funktioniert aber ganz eigenständig. Gemein ist ihnen, dass sie in Oberösterreich und Bayern spielen. Lokalkolorit, wie etwa der „Saurüssel“, ist vorhanden, drängt sich aber nicht im Sinne verkaufsträchtiger Regionalisierung auf.

Habringer ist ganz Ähnliches tatsächlich passiert, er hat seine Überraschung über das zweite Leben seines Vaters literarisch fortgesponnen, mit der nötigen künstlerischen Distanz und viel selbstironischem Witz, etwa wenn er Leirich bemerken lässt, dass er in das „angenehm temperierte Fußbad meiner Opferrolle“ gleite. Habringer muss bei der Begriffsfindung viel Freude gehabt haben, so etwa beim „Gefühlstrottel“, beim Grübeln über „Serendipität“ oder über neue Berufe wie „Königsexperten“, „Rerserveorganisten“ und „Notlügenexperten“.

Eine bedeutsame Rolle im Roman spielt die Musik, die Habringer mindestens so beschäftigt, und die er mindestens so souverän beherrscht wie das Schreiben. Eine Passage aus einem Choral Pachelbels zeigt dem Historiker, dass der Musiker schon mehr begriffen hat: Alles „Fleisch vergeht wie Heu, was da lebet, muss verderben, soll es anders werden neu.“ Und am meisten wissen die Kinder. „Papa, es ist eigentlich komisch, dass es uns gibt“, hatte Leirichs Tochter vor Jahrzehnten schon festgestellt. Dass es uns überhaupt gibt, in unserem lebenden Fleisch, das ist schon mehr als ein kleines Glück.

Rudolf Habringer: Leirichs Zögern. Roman. Otto Müller Verlag, 302 S., 25 €

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1 Kommentar:

  1. Vielen Dank für diese Rezension. Sehr treffend, gefällt mir wesentlich besser als so manches was ich dazu bisher gelesen habe. Auf den Punkt gebracht!
    Schade, dass ich diese Seite erst jetzt entdeckt habe. Aber besser spät als nie :-)

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