Donnerstag, 15. April 2021

 Eine Rezension meines neuen Romans 'Ricardi', von von Helmuth Schönauer:

Ricardi

Bei der Planlosigkeit, mit Menschen in einer konsumorientierten Gesellschaft oft ihr Leben starten, ist es geradezu verwunderlich, wie viele davon später irgendwie das Sterbebett erreichen. Die meisten freilich enden ziemlich weit weg von ihren Träumen.

Dietmar Füssel erzählt in seinem Roman „Ricardi“ von drei sogenannten Knalltüten, die in den letzten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts in der Provinzmetropole Wehrstadt eine Künstler-WG aufmachen. In einem Roman des Scheiterns wird gezeigt, wie ein Schriftsteller, ein Maler und eine Sängerin noch während ihrer Künstlerpubertät von der Kunst abgewehrt und ausgeschieden werden.

Es sind nämlich keine sogenannten Türhüter, die darauf achten, dass niemand Falscher in den Kunstbetrieb einsteigt, sondern es sind die Helden, die sich selbst nicht in die Augen sehen können und deshalb auch keinen wahrhaftigen Blick auf die Kunst zusammenbringen.

In der Rahmenhandlung räumt der Icherzähler Poschpischil den Keller auf und entdeckt Notizen zu einem Ricardi-Roman, den er als Student hat schreiben wollen. Ricardi ist der Namensgeber einer Gasse im kleinen Wehrstadt, er dürfte vor Jahrhunderten durchgereist sein und hat eine so starke Wirkung hinterlassen, dass seine Werke im Lokalmuseum hängengeblieben sind.

Wie es sich für das Aufräumen gehört, setzt sofort die Erinnerung ein, wenn man ein Stück davon in die Hand nimmt. Sofort tauchen die Geschehnisse rund um die WG auf, die Absteige war selbstverständlich zu teuer, so dass man zu Zwangsfreundschaften gezwungen war. Der angehende Maler Baccu und die angehende Sängerin Marie müssen einziehen, damit die Kosten für den einzelnen sinken. Der Erzähler versucht sie in sein Romanprojekt zu implementieren, damit wenigstens ein Hauch von Gemeinschaftssinn entsteht. Aber die Zentrifugalkräfte sind zu groß, die Künstler-WG implodiert in Wahnsinn.

Das ist zumindest beim Maler wörtlich zu nehmen, der nach einigen LSD-Aktionen in den Wahn verfällt, dass seine Bilder begehbare Räume sind, aus denen Greifarme des Schreckens herausragen. Selbst die simple Kellertür wird durch Halluzination zu einer Pforte, die stracks in die Zeitlosigkeit eines schlecht gemalten Fegefeuers führt.

Marie, die eigentlich Eduarda heißt, hat hingegen hat Probleme mit Männerbekanntschaften, welche der Erzähler regelmäßig als Arschlöcher empfindet, da er vielleicht selber eines ist und gegenüber Frauen den Verschreckten gibt.

Als der LSD-Maler in eine psychiatrische Anstalt kommt und Marie mit einer Bekanntschaft verschwindet, löst sich die WG auf. Mit dem Studium ist es nichts geworden, mit der Kunst auch nichts. Die einzig richtige Antwort auf das allgemeine Desaster ist die österreichische: Verdrängen und Vergessen.

Aber zum Österreichischen gehört es auch, dass alle einen Keller haben, worin die Vergangenheit eingesperrt ist. So sehr kann man gar nicht aufpassen, dass nicht eines Tages der Keller aufgeräumt wird und die Geschichte erneut explodiert.

Poschpischil versucht möglichst wertneutral seinen Romanversuch als echten Roman zu lesen, in dem bekanntlich eine eigene Realität zur Anwendung kommt. Beim Durchstöbern der Notizen verschwinden allmählich die Fixpunkte der Erinnerung, vielleicht hat es die WG gar nicht in der Realität gegeben und alles war von vorneherein ein Romanprojekt?

Um eine gewisse Linearität in die Erinnerung zu bekommen, macht der Erzähler etwas, was man vor allem bei Liebesbeziehungen und gescheiterten Verhältnissen nie tun darf: Er geht der Sache nach dreißig Jahren noch einmal nach und sucht Marie, von der er eine vage Adresse hat. Tatsächlich öffnet sie auf sein Läuten hin und erscheint gespenstisch abgemagert und verängstigt an ihrer Wohnungstür. Ihr Mann ist wie prophezeit ein Arschloch und schlägt sie, aber sie kann nicht weg, weil es ja kein Roman ist.

Jetzt ist allgemeine Traurigkeit angesagt, die Künstler unter dem Stern von Ricardi haben der Reihe nach versagt. Gut für die Kunst, aber schlecht für das Heldenleben.

Dietmar Füssel reizt das Genre Künstlerroman absurd genau aus, indem er vordergründig mit Klischees spielt, die bei genauerer Betrachtung mit Kunsttheorie gespickt sind. Wenn man an diesen Klischees kratzt, tut sich die pure Banalität auf, die aber wunderbar geeignet ist, um einen üppigen Sinnlichkeitskosmos zu entfalten. Der Roman endet als wundersame Würdigung des Scheiterns. 

Dietmar Füssel: Ricardi. Roman.

Klagenfurt: Sisyphus 2020. 152 Seiten. EUR 14,80. ISBN 978-3-903125-53-7.

Dietmar Füssel, geb. 1958, lebt in Ried im Innkreis.

Helmuth Schönauer 19/11/20

 


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