Mittwoch, 21. Juli 2021

Zeit für Utopien zwischendurch?

Reflexionen zum Thema „Utopien“ angeregt durch die Online-Aufführung eines Lesedramas von Corinna Antelmann

von Elisabeth Strasser


Ist heute eine Zeit für Utopien?
Oder eine Zeit, über Utopien nachzudenken, wenn schon nicht, sich welche auszudenken?

Einen Versuch in diese Richtung unternahm Corinna Antelmann am Sonntag, 4. Juli 2021.
Unter dem Titel „Wir werden so lange werkeln, bis alles ist, wie wir es haben wollen“ begann um 19 Uhr eine Live-Online-Lesung, der Antelmanns Theaterstück „Der Schwierige Raum“ in stark gekürzter Fassung zugrunde lag. Die Autorin selbst übernahm dabei eine Rolle, weiters Thomas Bammer und Florentina Kutschera – beide in der jeweiligen Rolle als ultra-realistischer Skeptiker und als abgehobene Idealistin trefflich besetzt. Christian Oberndorfer trug mit Digitalisierungsberatung zum Gelingen bei. Und nicht zuletzt übernahm das Publikum eine durchaus nicht unwichtige Rolle: in Form einer Abstimmung am Ende.


Online-Format

In einer Zeit, in der – endlich – wieder Veranstaltungen in der realen Welt möglich sind, gab es also eine Online-Lesung mit Publikumsbeteiligung mittels Zoom.

Geplant war dies natürlich schon lange, zu einer Zeit, zu der noch nicht absehbar war, wann Lesungen wieder durchführbar sind. Dieser den Umständen geschuldete Aspekt ist evident, trotzdem passte diese Form treffend zu dem Thema (Vergleichbares wurde bereits mit der „Utopischen Nacht“ im Oktober 2020 in der Echtwelt, in Ottensheim, aufgeführt *), denn die digitale Welt hat etwas Utopisches an sich, das vor einigen Jahrzehnten noch völlig unvorstellbar gewesen wäre. Mit all ihren Gefahren freilich, die von Totalüberwachung bis Falschinformationen reichen, sodass das Dystopische nicht weit entfernt ist. Jedenfalls wurde mit dieser Form möglich, dass theoretisch Menschen auf der ganzen Welt daran hätten teilhaben können, sofern sie davon wussten oder zufällig darauf stießen. Dennoch erstaunlich, dass die Zahl der Anteilnehmenden … nun, recht überschaubar war. – Woran das lag, darüber mag man spekulieren: am Wetter, an der gleichzeitigen Fußball-EM, an der Übersättigung durch Online-Formate … Oder am Thema gar?


Der leere Raum, kopflastige Denkkonstrukte und Utopien zu Utopien

Das Lesedrama beginnt mit der Vorstellung eines leeren Raumes, oder eines weißen Blattes. Mit dem Traum, alles von Menschen Gemachte von Anfang an neu zu gestalten. Oder den Reset-Knopf zu drücken. Ein Schöpfungsakt, der eine Welt nach den eigenen Vorstellungen zu entwickeln vermag. Vorstellungen, die sich – sobald zwei oder mehr Personen beteiligt sind –, durchaus widersprechen können. Da fangen bereits die Probleme aller Utopien an. Bestenfalls werden Kompromisse möglich.

Utopien – von denen einige historische im Lesedrama vorgestellt werden – entstehen jedoch nicht im leeren Raum. Und den Reset-Knopf, der alles auf Start zurücksetzt, gibt es in der realen Welt nicht. Utopien sind eine Reaktion auf gegebene Verhältnisse, auf gesellschaftliche Verfallserscheinungen, auf eine Welt, die weit entfernt ist von einer gerechten Welt und einem idealen Zusammenleben. Aus dem „so ist es, und wir wissen, dass es so nicht gut ist“ entwickeln sich Vorstellungen, wie es besser sein könnte. Gedankenkonstrukte.

So faszinierend die Vorstellung auch ist, eine Gesellschaftsordnung gleichsam auf dem Reißbrett zu entwerfen, kann es so nicht funktionieren. Dafür ist das Leben zu vielschichtig, zu komplex. Kein einzelner Mensch kann alles, was das menschliche Zusammenleben und dessen Organisierung betrifft, vollständig überblicken und für alles eine Lösung finden. Und schon gar keine, bei der sich nicht einzelne oder viele ausgegrenzt, übergangen und benachteiligt fühlen, oder andere sich ihre Schlupflöcher suchen, um Reichtum und Macht anzuhäufen und damit für neue Ungerechtigkeit sorgen. Das ist wohl der Grund, warum Utopien durchwegs scheiterten, sofern sie in ganz wenigen Fällen überhaupt umgesetzt wurden, und schlimmstenfalls genau das Gegenteil des Beabsichtigten, eine gerechtere und freiere Gesellschaft nämlich, eintrat und es in Diktatur und Zwangsherrschaft endete.

Trotzdem: Wenn es nicht immer wieder Menschen gibt, die sich Alternativen überlegen, ihre Vorstellungen einbringen, wie eine gerechtere Welt und eine freiere Gesellschaft möglich werden, sind wir eigentlich am Ende. Alles würde stillstehen in einem trostlosen, hoffnungslosen Zustand, darum braucht es immer wieder neue Ansätze. Und Utopien. Allerdings besser nicht in der Form, dass ein einzelner Mensch – sei er noch so gebildet und wohlmeinend – sich etwas überlegt. Auch nicht in der Form, dass eine Gruppe – sei sie auch noch so breit vielerlei Interessen abbildend – das tut. Eine wirkliche Utopie für Utopien wäre, dass immer mehr Menschen sich dessen bewusst werden, was ein gelingendes Leben und eine gerechte Gesellschaft ausmacht und danach – freiwillig – handeln. Damit verbunden wäre jedoch eine radikale Änderung der Einstellung der meisten gegenüber der Gesellschaft und dem ganzen Leben. Was dem entgegensteht, liegt in der menschlichen Natur begründet, in der Angst (von Existenzangst bis Verlustangst) und mangelndes Vertrauen (in sich selbst, in anderen Menschen oder ins Transzendente) allzu stark sind, woraus all das, was ein gutes Leben für möglichst viele verhindert, hervorgeht: Gier, Machtmissbrauch, Ausbeutung, Neid, Eifersucht und was es derlei noch allerlei gibt.

Wie käme es, wie kämen wir dazu, diese Einstellung zu ändern? Das ist die schwierigste aller Fragen, denn diese Änderung der Einstellung müsste bei allen Einzelnen aus freiem Willen geschehen, wenn dem nicht so ist, wäre schon wieder Zwang nötig, der der wirklichen Utopie einer gerechten und freien Gesellschaft widerspricht.
Erziehung, Bildung – in Form von Wissen genauso wie Herzensbildung – könnten einen wesentlichen Beitrag leisten. Genauso wie die Kunst, einerseits im Darstellen des Besseren, andererseits in der Warnung: Wenn wir so miteinander und mit der Umwelt umgehen, kann es nur böse enden.

Das wären und sind kleine Schritte, die tatsächlich auch geschehen sind und geschehen.
Darauf dürfen wir nämlich nicht vergessen: Bei allem Kritikwürdigen, bei allen Rückschritten, die sich immer wieder ereignen, tat sich im Laufe der Geschichte doch einiges in Richtung einer besseren Welt. Und etliches davon war letztendlich von jenen angeregt, die ihre Utopien vorstellten, nicht unbedingt, um sie eins zu eins real umgesetzt zu sehen, sondern um Gegebenes zu hinterfragen, und die damit immer aufs Neue Menschen dazu brachten, ihre Ideen weiterzutragen und neu in ihrer Zeit aufzugreifen.

Der wichtigste Schritt ist ohnehin, dass jede und jeder versucht, im eigenen Einflussbereich das Bestmöglichste zu tun. Und auch die Hoffnung, dass andere da sind auf dem Weg, die zur Seite stehen, wenn man selbst nicht mehr weiterweiß und weiter kann, den Mut verliert und in Resignation abgleitet. Einige finden sich wohl in jeder Generation, die das Feuer weitertragen.


Alle wollen immer nur das Allerbeste

Das Lesedrama gibt einen guten Überblick über einige der Utopien, die im Laufe der Geschichte, vor allem im 16./17. Jh., entwickelt wurden. Eines der bekanntesten Beispiele ist Thomas Morus‘ „Utopia“ (1516), dazu auch Tommaso Campanellas „Sonnenstadt“ (1602), Johann Valentin Andraes „Christianopolis“ (1619) oder Charles Fouriers Schriften (18./19. Jh.) u.a. über die freie Liebe, sowie Einblicke in matriarchalische Gesellschaften, die eine gute Alternative zur heute üblichen Klein-/Kleinstfamilie eröffneten.

Unter den klassischen Utopie-Modellen finden sich Unterschiede, aber viel mehr Gemeinsamkeiten, die nicht selten auf Ideen des Urvaters der Utopien, nämlich auf Plato und seine „Politeia“, zurückgehen.

Das ganze Lesedrama ist übrigens auf Youtube noch anzusehen:

https://www.youtube.com/watch?v=UmK8Sf-UT34 (beginnt erst bei Minute 18).

Nach der Aufführung des Lesedramas wurden die Zusehenden zu einer Abstimmung eingeladen. Die Fragen dazu mit Antwortmöglichkeit (Mehrfachlösung möglich) deckten sehr gut die Bereiche ab, um die es bei den klassischen Utopie-Modellen im Wesentlichen geht, weil sie die grundlegenden Fragen des Zusammenlebens beinhalten:
Wie gestalten wir die Arbeitswelt, die Wirtschaft, das Bildungssystem? Wie gehen wir mit Besitz um, wie mit Sexualität, wie mit der Natur? Wie sollen Kinder am besten aufwachsen?

Wirklich spannend wäre eine solche Abstimmung natürlich, wenn mehr Leute mitmachten, die ein breiteres Spektrum unserer Gesellschaft abbildeten. Jenen, die sich für Themen interessieren, die von Utopie-Modellen aufgegriffen werden, liegt meist ohnehin viel an gesellschaftlicher Veränderung in Richtung einer gerechteren Welt, eines Gesellschaftssystems, das weniger auf Ausbeutung, Gier und Unfreiheit baut. Theoretisch jedenfalls. In der Praxis und Überzeugungsarbeit haben wir gewiss noch einiges zu werkeln, bis wir – annähernd – eine Welt haben, wie wir sie uns wünschen.

* Zur „Utopischen Nacht“ gibt es auf diesem Blog einen Bericht von Corinna Antelmann vom 13.10.2020.


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