Dienstag, 14. Dezember 2021

Die Lage als Plage

 “Truth is a cornerstone of our democracy.”
Michiko Kakutani, The Death of Truth

Post-truth is pre-fascism.“
Tomothy Snyder, On Tyranny

People have always had different opinions. Now they have different facts.”
Anne Applebaum, Twilight of Democracy


Zweifachkurzeitkanzler Kurz ist ab sofort nicht wieder nur für kurz, sondern, wie es den Anschein hat, nun dauerhaft weg – vom (politischen) Fenster. Er scheiterte an einem Gegner, den er, durch die rhetorische Theatralik der message control bewirkte Vernebelung, offenbar gar nicht auf Sicht hatte: sich selbst. Aus dem Freundeskreis türkiser Adlaten bleiben freilich diverse Attrappen sesselklebend zurück. Bleibend mitverantwortlich für den Coup, Parteiloyalität durch Obmannservilität ersetzt zu haben. Erinnert sei etwa an den Zinnober des obersten Berufstirolers, der noch vor einigen Wochen expressis verbis kundtat, der Zweck heilige die Mittel und wenn der Zweck die Mandatsmehrheit der Volkspartei sei, folge daraus stringent die Benediktion dessen, der sie bewirkt hat, egal mit welchen Mitteln. Damit befinden wir uns ganz im Katholischen, einer Tradition, die, bezeichnenderweise, die Pia fraus, die fromme Lüge, ersonnen hat. Welche Ironie, dass Kurz sich nicht auch noch als einer von den Frömmlern inszenierte, wie Nationalratspräsident Sobotka, Niederösterreichs Steuergeld-Trickster a. D., Organisator von unnötigen Parlamentsmessfeiern und alerter Skandalon-Schönredner („Fürs Inserat gibt’s ein Gegengeschäft, natürlich!“). Ebenso bleibt auch Oberösterreichs Landeshauptmann als Türkiser punziert. Man entsinne sich der Huldigungsverrenkungen an die Adresse des wiedergewählten Erwählten, auf einem bemerkenswert programmbefreiten Parteitag im Sommer. An die Eloge einer überforderten Gesundheitslandesrätin Haberlander auf einen nicht minder überforderten Landeshauptmann, in der drängenden Agenda Pandemiebekämpfung, im morgendlichen Rundfunk (Ö1-Morgenjournal, 10.11.2021), ganz der sedierenden Dramaturgie des Beschwichtigens und des Ablenkens verpflichtet. Das spiegelt kein verantwortungsvolles Handeln in gewählter Funktion, sondern irrlichtert als Attitüde eines permanenten, fingierten Wahlkampfs.

Als würde einem die Realität nicht schon genug an Herausforderung auferlegen, erlebt man dieser Tage die Manifestationen aggressiver Dummheit zunehmend militant werden. Die Rede ist von den Maßnahmengegnern wie den Leugnern der Pandemie. Dass gerade diejenigen sich in ihren Rechten beschränkt wähnen, die im Schulterschluss der Beschränkten mit den Rechten den Gleichmut der Vielen strapazieren und in deren Freiheit einzugreifen sich herausnehmen, ist nicht nur Zynismus in Praxis, sondern zielt auf eine Verkehrung der Verhältnisse durch das Heraufbeschwören einer Despotie der Denkfaulheit ab. Da tröstet es wenig, sich vor Augen zu führen, dass die sich hierzu formierenden Kräfte, auch à la longue gesehen, nicht ausreichen werden allein die Karikatur eines Umsturzes, eine Art Umstülpungsversuch, herbeizuzetern, denn die Kollateralschäden dieses Empörungsfurors werden den Hang zur kindischen Verantwortungsflucht, zur rücksichtslosen Unverantwortlichkeit, weiterhin befeuern.

Die schon vor über fünfzig Jahren von Elfriede Jelinek diagnostizierte Infantilgesellschaft ist in ihrer Entwicklung offenkundig steckengeblieben, befördert durch die Stimulanzien der, wie Werner Schneyder sie nannte, „asozialen Medien“. Wir sind nicht in den „automatischen Faschismus“ abgedriftet, wie es Michael Scharang nahezu zeitgleich halluzinierte. Wie sich zeigt, lassen die Randformen gegenwärtiger Verirrung in ihrem Wesenskern Blamableres zutage treten: nämlich die Wiederholung der Geschichte als Farce. Mitanzusehen, wenn Ökofreaks aller Couleur und Esoteriksumperer in Walkwesten mit geschniegelten und anderswie kostümierten Neonazis vereint die realen Opfer ihrer historischen Verbrüderung in Beschlag nehmen. Ein Vertreter der israelitischen Kultusgemeinde in Wien bezeichnete diese illegitime Vereinnahmung dezent als „geradezu pervers“. Wollte Zurückhaltung einmal nicht mehr geübt werden, bliebe als Attribut… Genau!

© Bernhard Hatmanstorfer

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