Dienstag, 29. April 2025

Revolution der Verbundenheit. Wie weibliche Solidarität die Gesellschaft verändert. – Franziska Schutzbach

 


Liebe Franziska Schutzbach,

es birgt ein Risiko jemanden persönlich zu treffen, dessen Werk uns begeistert. Denn Begeisterung ist das, was ich bei der Lektüre deines Buches empfinde. Kein Wunder: Eine promovierte Sozialwissenschaftlerin veröffentlicht ein feministisches, fundiertes, gut argumentiertes Sachbuch in einem großen deutschen Publikumsverlag.
„Revolution der Verbundenheit“ ist nicht redundant, wie das bei so vielen populären Sachbüchern der Fall ist. Es vermittelt Wissen, das mir neu ist. Es formuliert Gedanken, die mich ebenso beschäftigen. Um nicht zu sagen: Du sprichst mir aus der Seele. Und nicht zuletzt: Dein Buch gibt (mir) Hoffnung und aktiviert mich!

Denn so wie du frage ich mich mitunter: „Was sollen Texte, was sollen Worte noch bewirken?“ (S.11) Auch ich bin überzeugt, dass die Kritik am Bestehenden alleine nicht weiterhilft, sondern dass es „Ideen von einem besseren Leben, von gutem Arbeiten, von Teilhabe und Selbstbestimmung – und einem Stück Lebensglück“ (S. 21) braucht.

Du setzt dich damit auseinander, welche Rolle Frauen bzw. FLINTA*-Personen im Kampf um eine gerechtere Welt gespielt haben und spielen könn(t)en. Mir gefällt die Idee, dass von ihnen, dh. von uns, eine Revolution ausgehen kann. Ich finde es gut, dass du die Differenzen, die Schwierigkeiten, die Unterschiede zwischen Frauen bzw. FLINTA*-Personen keineswegs aussparst und dennoch aufzeigst, wie Frauen in der Vergangenheit „Transformationen durch Beziehungen und Bündnisse bewirkt haben.“ (S.229)

Neben „Freundschaft“ beschäftigst du dich mit „Frauenbeziehungen in Familien“ und mit der „Revolution der Liebe.“ Im Kapitel zu „Sisterhood“ kommst du – mit Bezug auf Adorno, Dagmar Wilhem und vielen anderen – zum Schluss:

Der stärkste Gegner einer faschistisch-patriarchalen Gesellschaft ist die menschliche Fähigkeit, das Leiden anderer Lebewesen nachzuempfinden und der daraus resultierende Gerechtigkeitsimpuls, dass das Zufügen von Leid falsch ist. Der Erfolgt autoritärer Politik, die Legitimität von (Frauen)Unterdrückung und Diskriminierung hängt maßgeblich davon ab, wie weit der Mensch von Impuls der Solidarität abgebracht werden kann.“ (235)

Sehr weit, wie sich allerorts zeigt.

Das letzte Kapitel „Weibliche Verweigerung: Separatismus, Autonomie und Ausstieg“ beginnst du mit einem Brief an die Autorin Mareike Fallwickl, deren Texte du als große Gegenentwürfe bezeichnest.

Und hier sitzt du nun in Linz (Central, 25.3.25), zwei Reihen vor mir. Während Fallwickel vor ihren Fangirls gegen das Patriarchat performt, frage ich mich, ob ich neidisch auf Fallwickls Popularität bin und wie wir es anstellen könnten, nicht immer nur zu Bekehrten zu predigen.
Gespannt warte ich auf deine Lesung, deine Redebeiträge. Herausfordernd sei dein Buch schon, flüstert mir meine Sitznachbarin dann ins Ohr und später: „Die spricht ja wie gedruckt.“ Ja, deine gesprochenen Sätze sind ebenso klar wie deine geschriebenen. Immer wieder betonst du, dass es Arbeit ist, für Veränderung zu kämpfen und dass es nicht konfliktfrei vor sich gehen wird.

Und ja, auch ich habe dein Buch nicht an einem Tag gelesen, sondern währenddessen innegehalten, nachgedacht, genickt, unterstrichen und mich an mein sozialwissenschaftliches Studium erinnert. In einer meine Schreibgruppen habe ich die Teilnehmenden Briefe an wichtige weibliche Bezugspersonen schreiben lassen, so wie du es am Beginn eines jeden Kapitel tust.

Ich habe dein Buch empfohlen und verschenkt und daraus zitiert und dann stehe ich schließlich vor dir, mit meinem Exemplar und einem für meine Nachbarin. Übrigens: Ein Kapitel über gute Nachbarinnenschaft wäre auch noch spannend.

Du bist sehr groß im Vergleich zu mir. Ich danke dir für dieses Buch und bitte dich, gemeinsam mit Mareike eine Partei zu gründen. Ich wäre sofort dabei, sage ich.
Ihr dachtet eher an eine Band, gibst du zurück.
Du lachst, ich lache mit, auch wenn es mir insgeheim leidtut, weil ich zu einer Band nichts Aktives beitragen kann. Aber ich weiß, wir anstrengend es sein kann, direkt nach Lesungen und Diskussionen noch mit Fans sprechen zu müssen. Außerdem bist du laut Klappentext „eine der bekanntesten und gefragtesten feministischen Stimmen im deutschsprachigen Raum“ (S.2) Zu Recht, wie ich meine.

Ich verbleibe also in Begeisterung,
als interessierte Leserin und Kollegin
und auch wenig Fangirl,
            
Barbara Rieger

P.S.: Die Briefform hat mich inspiriert.

Mehr zum Buch: https://www.droemer-knaur.de/buch/franziska-schutzbach-revolution-der-verbundenheit-9783426279045

Mehr zur Autorin: https://www.franziskaschutzbach.com/

Mehr zur Rezensentin: https://www.barbara-rieger.at/

Dienstag, 8. April 2025

Das waren die Hommagen 2025

Ein Rückblick von Elisabeth Strasser

Die Reihe, in der heimische Schriftsteller:innen über von ihnen verehrte, bewunderte, geschätzte Größen der Literatur sprechen, sie vorstellen oder in Erinnerung rufen, wurde – wiederum kuratiert, moderiert von Andreas Weber und stattfindend im 15. Stock des Linzer Wissensturms – an drei aufeinanderfolgenden Mittwochen im März 2025 fortgesetzt.

12.3.2025: Margit Schreiner über Sabine Scholl

19.3.2025: Walter Kohl über Leonard Cohen

26.3.2025: Rudolf Habringer über Patricia Highsmith

Einige Einblicke

Es ging um persönliche Zugänge, etwa wenn Margit Schreiner biografische Parallelen mit der von ihr vorgestellten Sabine Scholl feststellte: Beide in Oberösterreich geboren, gehören der gleichen Generation an, beide lebten und arbeiteten in verschiedenen Ländern (von Japan über Frankreich bis USA u.a.) – oft denselben, allerdings nicht gleichzeitig. Beide sind Mütter, die ihre Zeit fürs Schreiben mit der Kinderbetreuung zu vereinbaren hatten. Beide beschäftigen sich mit autobiografischem Schreiben. – Als Motto über der Hommage stand „Der Mensch als Frau“. Die Frage, was es mit sogenannter „Frauenliteratur“ auf sich hat, und wie sich ein Roman ohne im Text agierende männliche Figuren gestalten lässt, war Thema, genauso wie Sabine Scholls Interesse für Benachteiligte, Randgruppen und die Sprache jener, die keine Sprache haben.

Margit Schreiner im Gespräch mit Moderator Andreas Weber

Wir sind die Früchte des Zorns“ lautet der Titel von Sabine Scholls autobiografischem Roman, den Margit Schreiner insbesondere präsentierte. Eine Besonderheit dabei ist, dass ausschließlich die Frauen dieser Geschichte als agierende Personen vorgestellt sind, die Männer nur als deren nebenbei-Anhang – wie traditionell Frauen oft bloß als „Anhängsel“ eines Mannes und in Beziehung zu ihm dargestellt wurden. Wenn etwa vom Ehemann der Hauptfigur die Rede ist, so wird dieser als „Odettes (Name der Schwiegermutter) Sohn“ bezeichnet. Dennoch gehe es in Sabine Scholls Werk nicht darum, „es den Männern heimzuzahlen“, es gehe nicht um Schuldzuweisungen, sondern bloß um die Auslassung ihrer ansonsten so oft vorrangig dargestellten Positionen.

Thema in Sabine Scholls Werken sind auch der Kolonialismus und seine Auswirkungen. So stand sie in ihrer Zeit in den USA etwa mit Chicanos/Chicanas in Kontakt, das sind aus Mexiko in die USA Eingewanderte mit ihrer speziellen Kultur.


Walter Kohl vergegenwärtigte Leonard Cohen-Songs mit Gitarre und Mundharmonika – gesanglich unterstützt von seiner Frau Christiane Marina Kohl – und unterlegte am Schluss Cohens berühmtes „Halleluja“ mit seinem (kürzlich bei der „Langen Nacht der GAV“ vorgetragenen) Mundarttext „A Glashausgurkn möcht i sein“.

Walter Kohl erzählt, bevor er zusammen mit Christiane Marina Kohl wieder zu singen anhebt

Dazu gab es interessante Aspekte zu den Hintergründen einiger Songtexte zu erfahren, und Cohen wurde auch als Romanautor vorgestellt. Denn – obwohl er in seiner Jugend bereits in einer Band spielte (insbesondere, um Mädchen zu beeindrucken) – begann der 1934 in Kanada in eine gutbürgerliche jüdische Familie geborene Leonard Cohen seine Karriere als Dichter und auch Romanautor, bevor er sich hauptsächlich der gesanglichen Interpretation seiner Lyrik zuwandte.

Zwei Romane wurden an dem Hommagenabend erwähnt: Das Lieblingsspiel/The Favourite Game (1963) und Schöne Verlierer/Beautiful Losers (1966). – Ersterer wurde bezeichnet als „Roman für pubertierende männliche Jugendliche – in deren Lebensvorstellung Sex die Erlösung darstellt“. Bei zweiterem werden vier Personen vorgestellt, ein Paar samt dessen Freund, mitsamt „Sex & Drugs“, und dazu Kateri/Catherine Tekakwitha, eine Angehörige der Mohawk aus dem 17. Jh., die nach einer Pockenerkrankung in einem Kloster aufwächst, als „virgo consecrata“, d.h. geweihte Jungfrau, lebt und schließlich heiliggesprochen wird. Ihre Geschichte verschränkt sich mit jener der weiteren drei Hauptfiguren.

Besonders berührend war, den Hintergrund des vorgetragenen Songs „Who by Fire“ zu erfahren: Leonard Cohen trat während des Jom-Kippur-Krieges 1973 vor israelischen Soldaten auf. Da konnte geschehen, dass jene, die ihm zuhört hatten, wenige Stunden später tot waren. Davon und durch den jüdischen Gebetstext „Unetanneh Tokef“ inspiriert, entstand das Lied. Während der jüdische Text – nachdem verschiedenste Todesarten genannt sind – letztendlich auf die Größe Gottes hinausläuft, endet bei Cohen jede Strophe mit der offenen Frage: „And who shall I say is calling?“

Wie aus einer notierten Skizze nach einer eindrucksvollen persönlichen Begegnung ein Roman entstehen kann, damit beschäftigte sich Rudolf Habringer anhand der Entstehungsgeschichte des Romans „Das Salz und sein Preis“ von Patricia Highsmith unter anderem in seiner Hommage. Dieser 1952 zunächst unter Pseudonym veröffentlichte Roman, in dem es um eine lesbische Liebesbeziehung, die glücklich endet, geht (was zu der Zeit als doch etwas „problematisch“ galt), wurde rund 30 Jahre später unter dem eigenen Namen der Autorin neuerlich veröffentlicht und mit dem Titel „Carol“ verfilmt.

Rudolf Habringer stellt Skizze und Roman gegenüber

Das Besondere an diesem Roman ist, dass er sich von anderen berühmteren Erzählungen der Autorin unterscheidet, in denen es um Verbrechen geht, die jedoch keine klassischen Kriminalgeschichten mit Ermittlern sind. Denn nicht die Auflösung des Kriminalfalls interessiert sie und stellt sie der Leserschaft vor, sondern das Dunkle, die kriminellen Anlagen, die in jedem Menschen vorhanden seien. Highsmith arbeitete eine Zeit lang als Texterin in einer Comic-Agentur und nicht alle ihrer Bücher wurden sofort von Verlagen angenommen. Einer ihrer bekanntesten Romane „Zwei Fremde im Zug“, der bald nach Erscheinen von Alfred Hitchcock verfilmt wurde, und der allzu berühmte „talentierte Mr. Ripley“ (aus der Reihe gibt es fünf Romane und etliche Verfilmungen) wurden – ihrer allgemeinen Bekanntheit wegen – nicht näher vorgestellt. Dafür gab es Einblicke ins Privatleben der Autorin, das gut bekannt ist aufgrund ihrer mehrere tausend Seiten umfassenden Tagebücher, die sie für Veröffentlichung vorsah, so wie sie ihren gesamten schriftlichen Nachlass dem Diogenes Verlag hinterließ. Dabei geht es unter anderem um ihre (gelinde gesagt) „schwierige“ Beziehung zu ihrer Mutter, ihre zahllosen Liebesaffären mit Frauen, ihre Alkoholsucht, ihre Manie des Listen-Schreibens und ihr Schreibpensum von acht Seiten täglich.

Mit der für die Hommage vorbereitenden Lektüre der über 1000 Seiten starken Patricia-Highsmith-Biografie von Joan Schenkar („Die talentierte Miss Highsmith“) hat Rudolf Habringer ein beachtliches Pensum bewältigt und damit der Zuhörerschaft das Leben und Werk dieser faszinierenden Schriftstellerin eindrucksvoll nahegebracht.

Information und Inspiration

Informationen über die Vorgestellten lassen sich heute – dank Internet – leicht und schnell bekommen. Biografien der Autor:innen und Näheres zu deren Werken lassen sich z.B. auf Wikipedia zumindest im groben Überblick nachlesen. Es finden sich – beispielsweise auf Youtube – Filmportraits der Berühmtheiten, Aufnahmen ihrer Auftritte oder auch Verfilmungen/Hörfassungen ihrer Romane.

In dieser Fülle an Information braucht es trotzdem und gerade Orientierung. Die „Hommagen“ taugen somit ganz besonders dazu, durch persönliche Zugänge der Vortragenden aufmerksam gemacht zu werden, sich mit der einen oder anderen bedeutenden Persönlichkeit (wieder) näher zu beschäftigen, sie entweder überhaupt erst kennenzulernen oder neue Facetten an ihr zu entdecken. Und wenn das alles von Menschen kommt, die einem persönlich gegenübersitzen, wo noch dazu Möglichkeit zu Fragen und Gespräch besteht, ist das noch einmal etwas ganz Besonderes – und Inspiration. – Das ist das Wunderbare an einer Life-Veranstaltung.

Eine Menge Anregungen – Was ich aus den Hommagen mitgenommen habe

Sabine Scholls Zugang der Auslassungen etwa gibt Impulse zum Weiterdenken. Ebenso die Überlegungen zum Begriff „Frauenliteratur“, der eigentlich schon längst als überholt gelten sollte. – So wie im Vortrag gesagt wurde: Es wird schließlich auch kein Autor als „Männerschriftsteller“ bezeichnet.

Patricia Highsmith könnte man sich in Originalsprache zu lesen vornehmen, da über ihren Schreibstil (von ihren Zeitgenossen) gesagt wurde, auch Schulkinder fänden sich damit leicht zurecht.– Vor allem aber interessant scheint (besonders für selbst literarisch Schreibende) ihr Essay „Suspense oder Wie man einen Thriller schreibt“.

Was Leonard Cohen betrifft, habe ich mir nach der Hommage etliche seiner Songs angehört, erstmals oder wieder neu mit neuem Wissen um Hintergründe. – Vor allem einige Aufnahmen seines Konzerts 2013 in London – wo jene Antwort auf eine wichtige Frage vorkommt, die Walter Kohl erwähnte. Diese sei an der Stelle nicht verraten für jene, die nicht bei der Hommage dabei waren. Lässt sich aber nach Anhören der Aufnahme rausbekommen.

Von Patricia Highsmith stammt der Ausspruch, mit dem sie wohl auf ihre eigene Kindheit anspielte: Wer mit einer glücklichen Kindheit gesegnet sei, werde fast nie ein guter Autor.

Da ist etwas dran, denn gerade das Schwere, Brüche im Leben, führen oft dazu, dass Großartiges entstehen kann. – Das wissen wir wohl als Menschen alle, gleich ob wir (bekannte) Autoren/Autorinnen sind oder nicht.

Eindrücklich kommt dieser Gedanke in Leonard Cohens Poem „Anthem“ zum Ausdruck:

Da ist ein Riss, ein Sprung (a crack) immer wieder da, doch gerade durch diesen kann Licht eindringen: wirkliche Freude, Erneuerung, große Kunstwerke, alles, was das Leben schön und lebenswert macht.

Als Abschluss dieses Beitrags sei der Refrain zitiert. Es lohnt sich, die Aufnahme des Londoner Konzerts anzuhören, wo Leonard Cohen den Refrain anfangs mit seiner eindrucksvollen Stimme spricht: Leonard Cohen - Anthem (Live in London)

Ring the bells that still can ring / Forget your perfect offering

There is a crack, a crack in everything / That’s how the light gets in.


Text und Fotos: Elisabeth Strasser

Mittwoch, 19. Februar 2025

Vom Zähmen, Ausbeuten und Bestaunen. Essays. Eine ungeordnete Kulturgeschichte der Natur – Bettina Balàka

 

In diesem 2024 erschienenen Essayband setzt sich die vielseitige Autorin Bettina Balàka mit unserem Verhältnis zu Natur auseinander. Gekonnt verbindet sie Bekanntes und gerne Verdrängtes mit weniger Bekanntem und Persönlichem und regt nachhaltig nicht nur zum Nachdenken, sondern auch zum Nachfühlen an.

Schon im ersten kurzen Beitrag „Zoobesuch mit Kinderschnitzel“ erklärt sie anschaulich die kognitive Dissonanz, die unser (gegenwärtiges, westliches!) Verhältnis zur Natur prägt: „Kognitive Dissonanz entsteht bei nicht miteinander zu vereinbarenden Haltungen und Handlungen. Man will nicht, dass Tiere leiden, will aber trotzdem Fleisch essen. Dieser psychologische Konflikt löst unangenehme Gefühle aus, man versucht ihn mit allen Mitteln zu vermeiden. Niemand könnte sich noch amüsieren, wenn das Schreckliche sichtbar würde.“ (S. 17f)

Und doch gelingt es der Autorin im vorliegenden Band auf wundersame Weise trotz der Schrecklichkeiten, die sie uns gut sichtbar serviert, einen Rest Amüsement zu bewahren. Es ist nicht (nur) der Spaß daran, den Finger in die Wunde zu legen oder gelegt zu bekommen oder der Genuss an der zielsicheren Handhabung des Skalpells der Sprache. Vielleicht ist es eine gewisse Freude an der (Selbst-)Erkenntnis?

Im längsten, härtesten und für mich zentralen Essay „Nicht Fisch, nicht Fleisch: Wenn Bewusstmachung die Geschmacksnerven verändert“ erzählt die Autorin, dass sie (ebenso wie auch ich, die Rezensentin) Fleisch liebte und das, obwohl sie schon als Jugendliche im Hühnerstall mitarbeitete. „In meinem Kopf gelang es mir, eine Mauer einzuschieben zwischen dem Anblick im Hühnerstall und dem Anblick auf meinem Teller, so wie man es eben machen musste, wenn man satt werden wollte.“ (S. 89)

Das Unbehagen stellte sich schleichend ein. Persönlicher Kontakt mit den Turopolje-Schweinen bei einer Feier auf einem Weingut: „Bevor man das Fleisch aß, konnte man sich vergewissern, dass es ihnen gut ging. Ich vergewisserte mich, dass es ihnen gut ging, und konnte sie nicht mehr essen.“ (S. 74). Die Begegnung mit einer kommunikativen Sepia während eines Tauchgangs und schließlich der Dokumentarfilm „The End of Meat“. Bettina Balàka wurde zur Vegetarierin und obwohl sie andere nicht direkt überzeugen möchte, es ihr gleichzutun, führt sie uns vor Augen: „Das Nahrungsmittel Fleisch ist tief verwurzelt in unserer Geschichte und Kultur“ (S.85), unser heutiger Umgang damit ist – ich, die Rezensentin kann nicht anders, als es hier so polemisch zusammenzufassen – schlichtweg krank. Und als Ansatz für einen anderen Umgang – in den Worten der Autorin, die es auf den Punkt bringen: „Hühner haben Gefühle. Menschen auch.“ (S.91)

In einem weiteren Beitrag mit dem Titel „In andere Häute schlüpfen: Empathie in der Literatur“ analysiert Balàka literarische Auseinandersetzung mit Tieren, wie z.B. „The Terrapin“ von Patricia Highsmith, „Die Spitzin“ von Marie von Ebner-Eschenbach oder „Black Beauty“ von Anna Sewell, und zeigt unterschiedliche Möglichkeiten des Unverständnisses, der Grausamkeit und der Einsicht auf.
Im längeren Essay „Kraut und Unkraut: Vom Anbauen und Verbauen“ verwebt sie subjektive Erfahrungen mit historischen Informationen, wissenschaftliche Erkenntnisse mit Glaubenssätzen unserer kapitalistischen Gesellschaft und weist uns als Draufgabe mittels literarischer Beispiele auf die Gleichsetzung des Weiblichen mit der Natur hin. Eines ist jedenfalls – ganz unpolemisch – klar: Der gesellschaftliche Umgang mit Natur ist nicht nur paradox, sondern in höchstem Maß destruktiv.

„Die Zerstörung der Wildnis und der Transfer von Flora und Fauna“, „Tiere auf der Flucht“, „Geister im Naturhistorischen Museum, Lerchen und Lercherln in Wien“ und die „Wiederentdeckte Naturaliensammlungen des Stifts Seitenstetten“ sind Themen, mit denen sich die Autorin auseinandersetzt. Im letzten Essay outet sich sie als „Beaver believer“. Zum Thema Biber ist übrigens von der Autorin auch ein Naturschutz-Krimi für Kinder erschienen (Leykam 2021).

Als „ambivalent“ bezeichnet Balàka das Verhältnis des Menschen zur Natur im Vorwort. Mit „toxic relationship“ wirbt der Klappentext. Während ersteres mir nach der Lektüre fast als beschönigend erscheint, ist zweiteres irreführend, legt es doch nahe, dass „die Natur“ die Beziehung zum Menschen verlassen oder auflösen könnte. Doch kann sie das? Findet das Leben, wie im berühmten Film „Jurassic Park“ (1993) gesagt wird, immer einen Weg? Wollen wir es hoffen?


Barbara Rieger, Februar 2025


Bettina Balàka: Vom Zähmen, Ausbeuten und Bestaunen. Essays. Ein ungeordnete Kulturgeschichte der Natur Innsbruck: Haymon Verlag 2024
2013 Seiten
22,90 EUR
ISBN 978-3-7099-7039-3
 

Mehr zum Buch: https://www.haymonverlag.at/produkt/vom-zaehmen-ausbeuten-und-bestaunen/
Mehr zur Autorin https://bettinabalaka.wordpress.com/
Mehr zur Rezensentin: https://www.barbara-rieger.at/


Montag, 17. Februar 2025

„Wir müssen einander alle Geschichten erzählen“ Martin Pollack zum Abschied

Ein Nachruf von Dominika Meindl 

Martin Pollack beim Experiment Literatur im Alten Schl8hof Wels, gemeinsam mit Tanja Maljartschuk und Moderator Werner Retzl. April 2023 Foto: DM

Gestern ein kleiner, sanfter Schreck beim Aufdrehen des Radios, es läuft eine Sendung über Martin Pollack. Seine Stimme, sein ruhiges, uneitles Berichten über die eigene Arbeit, erkenne ich beim zweiten Wort. Die Freude, ihn zu hören, ist zugleich die Trauer, ihn nur noch in Aufnahmen hören zu können.

Nach Erwin Riess und Bodo Hell ist Martin nun der dritte Autor, der eine fast väterliche Bedeutung bekommen hat – ein gar nicht so ironisch gemeintes „Der kann mir alles erzählen!“ Der dritte Autor, der in den vergangenen beiden Jahren verstorben ist oder verschollen ging. Ich vermisse alle drei sehr, und die Freundschaft zu ihnen ist mir eine große Ehre.

Vor recht genau einem Jahr lud mich Andreas Weber zu seiner Reihe „Hommagen“ ein, er freute sich, als ich ihm vorschlug, über Martin zu sprechen. Der folgende Text ist eine überarbeitete, gekürzte Version – es schmerzt, die Erzählzeit ins Perfekt setzen zu müssen. 

 

***

MP hatte früher etwas Bäriges, auf Porträts schaute er zuweilen griesgrämig, aber das blieb keine Sekunde lang so, sobald man ihn ansprach. Er war äußerst freundlich und hörte genau zu (angenehm untypisch für einen Journalisten).

Eigentlich hätte ich gerne über sein lange geplantes Gartenbuch geschrieben. Ein von Fauna und Flora beseelter Mensch war Martin, er liebte Tiere, war Ornithologe und einer, der im April schon lange den eigenen Salat erntete.

Gesundheitlich war er schon länger angeschlagen, der Krebs verwandelte sein Aussehen stark, das Bärige verschwand. Er hielt sich aber mit tapferem Frohmut. Regina Pintar und ich waren lange in Sorge um ihn verbunden, wir fragten einander, ob man ihn denn zu Lesungen einladen könne – unbegründet, denn er blühte auf der Bühne auf, und zwar nicht aus geschmeichelter Eitelkeit, sondern aus wohlbegründetem Sendungsbewusstsein und großer Menschenzugewandtheit.

Persönlich kennengelernt hatte ich Martin 2010 beim 10-Jahresfest von „Netzwerk Memoria“zu meiner großen Freude, denn seine Texte wurden in meiner Familie da schon sehr geschätzt. Ich hatte an diesem Abend eine Weile überlegt, wie ich ihn in ein Gespräch verwickeln könne, und nach drei Sätzen erzählte er mir schon, dass er nach seiner Lehrabschlussprüfung zehn Bier getrunken habe, so viel wie nie wieder danach, und wir lachten.

Martin ist in seinen Texten so sachlich wie nötig, im persönlichen Umgang zeigte sich schnell ein sehr feiner Witz. „Ironie ist sehr wertvoll“, auch wenn man den Schrecken mit ihr nicht beschreiben könne, sagte er beim „Experiment Literatur“ (hier die Aufnahme des Abends auf dorftv, April2023, gemeinsam mit Tanja Maljartschuk). 

Vier Jahre später schrieb er einen Beitrag für unserer Anthologie „1989. 7 tschechische und 7 österreichische Texte“, sein Text hieß „1989. Bilder und Gesichter“. Und wenn ich also extrem übertreibe und fast schon lüge, war ich eine Sekunde seine Herausgeberin, gemeinsam mit Rudi Habringer, Walter Kohl und Andreas Weber. Im Text schreibt er über die Unruhen am Wenzelsplatz in Prag, die er als Korrespondent beobachten soll (in Polen war er seit 1980 persona non grata, beispiellos in Europa, weil die österreichischen Behörden nichts unternahmen und sich mit den kommunistischen Beamten solidarisierten; das wiederholte sich unter anderen Vorzeichen, nachdem 2016 er einen Artikel über die autoritäre polnische Innenpolitik geschrieben hatte). Ein Polizist schlägt ihn, wahllos – und er schreibt, es sei noch ein Glück gewesen, dass nicht geschossen wurde. Martin war das Gegenteil eines sensationsgierigen Krisenberichterstatters, er hielt die eigene Rolle immer ganz klein.

Dann beschrieb er etwas Neues: „Das Ende der Angst“. Bei einer Demonstration, bei der etwa auch Vaclav Havel spricht, kämpft sich ein gehörloser alter Mann durch die Masse – das ist wohl typisch für Martin, dass er aus einer anonym wirkenden Masse die Not eines Einzelnen erkennt und damit alles über eine Situation sagt. „Die große Geschichte wird leichter begreifbar, wenn wir sie von unten betrachten, aus der Perspektive einzelner Erfahrungen, Erlebnisse und auch Tragödien.“ (aus dem Vorwort zu „Topograpfie der Erinnerung“) „Die große Welt im kleinen Detail“, oder das große System erzählt anhand eines einzelnen Lebens. Besonders deutlich wurde das in „Warum wurden die Stanislaws erschossen?“ Zwei polnische Zwangsarbeiter in Bocksdorf, die von den Russen sinnlos ermordet wurden – Martins Forschen und Schreiben war ganz grundsätzlich davon getragen, verstehen zu wollen und Zeugnis abzulegen – und zwar, ohne den Lesenden seine persönlichen Ansichten aufzuzwingen. 


Pollack bei der Präsentation der ihm gewidmeten "Rampe" im Stifterhaus, November 2017. Foto: DM

Die eigene Biographie war bei Martin besonders relevant. Beim Vorbereiten der „Hommage“ wurde mir bewusst, dass man sein Oeuvre wie einen Familienroman lesen kann, mit immer wiederkehrenden Figuren; und es ist eine doch großartige Emanzipationsgeschichte, die das Fortwirken der entsetzlichen Vergangenheit genau beschreibt und deswegen umso erstaunlicher wirkt.

Martin war seit 1998 freier Autor, seine große Karriere begann mit einer Autobiographie, wie man sie bis dahin kaum gelesen hatte, weil er darin von seiner familiären Verstrickung und seiner Kindheit auf die erdenklich un-egozentrischste Weise berichtete. Die eigene Herkunft, Betroffenheit und Haltung waren bei ihm immer Thema – und deswegen ist seine Arbeit so wichtig. Er hat das Beste aus seiner Geburtshypothek gemacht.

Ich stamme aus einer Täterfamilie.“ Kind des SS-Sturmbannführers Gerhard Bast, liebevoll erzogen von bis zum Tod überzeugten Nazis. 1944 kam er in Bad Hall als Martin Bast zur Welt – er wäre beinah unter Nazis in Paraguay aufgewachsen, es wurde aber ein Haus am Bauernberg in Linz. Erst mit 14 erfuhr er, wer sein leiblicher Vater war. Der Stiefvater Hans Pollack war Bankbeamter, bildender Künstler und später Kulturbeauftragter für das Projekt, Linz zur „Kulturhauptstadt des Führers“ zu machen. Dass Martin selbst kein Rechter geworden ist, hält er seiner Schule zugute. Mit 10 kam er ins Internat, in das damals extrem liberale Werkschulheim Felbertal in Mittersill. Ein Pilotprojekt, das er als fast schon basisdemokratischen „Hort des Fortschritts und der Toleranz“ bezeichnet. Schüler machten Matura und mussten sich für ein Handwerk entscheiden, weswegen er ab 1963 auch Bau- und Möbeltischlergeselle war. Diese handwerkliche Fähigkeit ist vielleicht auch ein Grund, warum seine Texte so besonders sind, und sie sind selbst Literatur geworden, weil Richard Swartz schildert, wie Martin in einer Schreibpause in seinem Haus im Südburgenland die Sense dengelt, die geliebte Streuobstwiese mäht, und dann schnell eine Tür repariert; er habe sich von Hammer und Sichel nie ganz verabschiedet.

Sein Studium der Slawistik und osteuropäischen Geschichte (Wien, Warschau) war ein Zeichen der Distanz zur Herkunftsfamilie, er behielt auch den Namen seines Stiefvaters – Pollack. Dem Bast-Zweig der Familie galt er als Nestbeschmutzer, es gab keinen Kontakt mehr – gebrochen hatte er, und es ist wieder bezeichnend für ihn, dass er diesen pathetischen Akt des jungen Mannes als älterer Mann bedauert. Bis 1998 arbeitete Martin als Redakteur des Spiegel (ab 1987 als Wien- und Warschau-Korrespondent), seither als freier Historiker, Übersetzer und Autor. Bei den Preisen beschränkt man sich meist mit einer kleinen Auswahl: Ehrenpreis des österreichischen Buchhandels für Toleranz in Denken und Handeln, dem österreichischen Staatspreis oder dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.

Was die gemeinsame Geschichte Mittel- und Osteuropas betrifft, gab es niemand Berufeneren als Martin, er war unser gemeinsamer historischer und literarischer Korrespondent für die „Bloodlands“ (T. Snyder), in denen Hitler und Stalin am tödlichsten gewütet haben. Er war nicht nur im deutschsprachigen Raum geschätzt, sondern mindestens so sehr in Polen, in der Ukraine, in Weißrussland. Jahrelang organisierte er den ostmitteleuropäischen Austausch bei der Leipziger Buchmesse. Es gibt im Übrigen immer noch ein schreckliches Missverhältnis bei den Übersetzungen vom Deutschen in eine slawische Sprache und umgekehrt. 

Die Frage, ob Martins Bücher Literatur seien, ist müßig, da auch die Trennung zwischen Fiction und Faction nicht mehr wichtig ist. Stil und Sujets sind absolut literaturwürdig, auch wenn er nicht erfindet, sondern akribisch recherchiert. Er bewies, dass Schopenhauer recht hat: „Daher nun ist die erste, ja, schon für sich allein beinahe ausreichende Regel des guten Stils diese, dass man etwas zu sagen habe: o, damit kommt man weit!“ Die Dinge, die zu sagen sind, verfolgten ihn.

Aus dem Journalismus kommt der dokumentarische Anspruch, ohne die eigene Befindlichkeit in den Vordergrund zu stellen. Martin ging es um die Dokumentation des Ungeheuerlichen: Holocaust und Holodomor; ethnische Säuberungen im Namen Stalins und Hitlers, die Schande der Nachkriegszeit, den „eisernen Vorhang“, die Arroganz der oberflächlich geläuterten Täternachfahren. Er schrieb über seinen Nazi-Vater und über seine von Partisanen ermordete Tante. Werner Reisinger schreibt im Datum über seine „Berichte“: „Sie sind nicht Sachbuch und nicht Recherche, sie sind nicht Autobiografie und nicht wissenschaftliche Aufarbeitung, sie sind nicht Kriminalistik und nicht Sinnsuche und Bilanz. So richtig passen sie in keine Kategorie, sie haben gleichsam ihre eigene erschaffen.“ 

Seine Achtung auf die Sprache spiegelte die Achtung für die Menschen wider, über die er sprach. Diese Sorgfalt ist seit dem gewaltsamen Missbrauch der Sprache im „Dritten Reich“ Pflicht beim lebenslangen Lernen, wie wir über das Unaussprechliche sprechen sollen. Seine Sprache ist in einer Hinsicht so wie das von ihr Beschriebene selbst, weil ihre Schönheit auf dem Ungeheuerlichen beruht. Sie zeigt durch ihre Klarheit die zugrundeliegenden Ambivalenzen und Abgründe. Es ist kein Funken Pathos daran.

Eine große Stärke seiner Texte ist seine Empathie, eine um Wahrhaftigkeit bemühte Einfühlung – in Opfer und Täter. Martin machte sich viel Mühe, auch sich selbst gegenüber schonungslos ehrlich zu sein, etwa wenn er über die Liebe seiner Nazi-Großeltern schrieb. Die zweite Stärke seiner Literatur ist eine vermeintliche Schwäche: Er thematisierte oft, dass er seinen eigenen Erinnerungen misstraue. Wenn er etwas nicht weiß oder nicht recherchieren konnte, schrieb er das auch so hin. „Das ist schon ein wenig unser Schicksal“, sagte er zu Robert Schindel, „dass wir unsere Familiengeschichten zwar nicht selber erfinden, aber finden müssen.“ 

Tanja Maljartschuk bezeichnet „Der Tote im Bunker“ als einen „der besten Texte, die jemals geschrieben wurden. Das ist für mich wie eine antike Tragödie zu lesen“. Martin konnte den „Bericht über meinen Vater“ erst mit 60 schreiben, „man kann nicht in der Situation schreiben. Es ist nicht unmöglich, aber wahnsinnig schwer … Wir brauchen auch zum Lesen die Distanz. Inmitten des Schreckens, des Mordens ist es schwer, sich auf Literatur zu konzentrieren“ (im Gespräch beim ExpLit). Dieser Dr. Gerhard Bast war kein Mitläufer, sondern vor dem „Anschluss“ schon Elite-Nazi; als solcher intensivst am Holocaust beteiligt. Sturmbannführer, SS, Chef der Gestapo in Münster (wo er federführend bei der Deportierung der Juden Westfalens nach Riga war, wo die meisten von ihnen sofort umgebracht wurden) und Gestapo-Chef von Linz, Führer von Sonderkommandos der Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, der Jagd auf versteckte Juden und Partisanen machte. Geboren in der heutigen slowenischen Gottschee, aufgewachsen in Amstetten, Matura in Wels – kaum auszudenken, wäre auch Martin dorthin geschickt worden1. Die Großeltern sprachen nur in den höchsten Tönen vom Sohn, er sei schneidig gewesen und anständig, deswegen war auch Martin ihr erklärter Lieblingsenkel. „Die sind Nazis geblieben. Bis zum Tod!“ „Dein Vater war ein Idealist“, erwiderte Pollacks Großmutter auf seine Fragen. 

In den „Linzer.Randgeschichten“ findet sich ein großartiges Gespräch mit Robert Schindel unter dem Titel „Wir kannten unsere Väter nicht“: Schindel ist sieben Wochen vor Pollack in der wegen der Bombenangriffe von Linz nach Bad Hall verlegten Geburtenstation zur Welt gekommen. Es ist theoretisch möglich, dass Bast Schindels Mutter verhört hat, nachdem sie als Teil der Résistance verhaftet wurde. 

In Die Frau ohne Grab. Bericht über meine Tante schrieb Martin über Pauline Drolc, die im heutigen Slowenien von Titos Partisanen zu Tode gebracht wurde, zynischerweise weil sie als einzige in der Familie frei von großdeutschem Dünkel war, denn sie hatte einen Slowenen geheiratet,. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde sie von Partisanen in ein Lager verschleppt, nur weil sie Deutsche war, und wo sie „elend zugrunde ging. Zum Zeitpunkt ihres Todes war sie siebzig Jahre alt. Auch sie hat es verdient, dass ihre Geschichte erzählt wird. Beim Experiment Literatur sagte Martin: "Meines Erachtens muss man diese Geschichte heute erzählen. Wir müssen einander alle Geschichten erzählen … es geht nicht ,dass wir einander das verschweigen. Das funktioniert auch nicht.“

Martin begnügte sich selbstredend nicht mit der Dokumentation des Vergangenen. 2018 warnte er in der NZZ davor, das Problem der „ewig gestrigen Spinner“ in den Burschenschaften nicht ernst zu nehmen, das sei angesichts der vorbereiteten „stillen Machtergreifung“ aber nötig. Im Jahresbericht der Antifa Wels schrieb er über die Gefahr der Forderungen nach Schlussstrichen, das spiele genau den Kräften in die Hände, die „sich zum Ziel gesetzt haben, die liberale Demokratie zu zerstören, die Freiheit, wo es geht, zu beschneiden und autoritären Vorbildern zu folgen, an denen es leider nicht mangelt.“ „Alles muss auf den Tisch gelegt werden.“ Allein wegen seiner eigenen Biographie stellte sich ihm stets die drängende Frage, „wie es sich erklären lässt, dass scheinbar ganz harmlose Bürger innerhalb kurzer Zeit zu grausamen Tätern werden konnten“.

Es sei eine „Erbsünde“, wie ungeschoren so viele Kriegsverbrecher blieben, siehe den Fall Murer und andere. Das sind „unverzeihlichen Versäumnisse“, die „bis heute das hier herrschende Klima vergiften.“ Und es ist eine Schande, dass die Menschen im Widerstand nach Kriegsende behandelt wurden. Überall stehen Denkmäler für die „Helden“ des 2. Weltkriegs, aber anhaltend ist die Weigerung, für ermordete Roma und Sinti eine Gedenktafel aufzustellen.

Der Überfall gegen die Ukraine wurde mit Argumenten gerechtfertigt, die fatal an historische Vorbilder erinnern“: Verdrängte Ängste und Vorurteile(ein Text für den Steirischen Herbst, in Auszügen vorgelesen beim Experiment Literatur 2023) kommen durch den neuen Krieg wieder zutage.

Es „ist unbestritten, dass Deutsche und Österreicher in diesen Gebieten im Osten im 20 Jahrhundert grausam gewütet haben wie kaum anderswo. […] Die Tatsache, dass unsere Väter und Großväter zu den Tätern gehörten, verantwortlich für die schlimmsten Verbrechen, vor allem dem Holocaust, wurde lange geleugnet.“ Nach 1945 kam die große Amnesie, ohne Schuldgefühle, mit dem Schweigegebot über die Vergangenheit. Da passte es, dass die Länder, denen die schlimmsten Verbrechen angetan wurden, hinter dem Eisernen Vorhang verschwanden.

Nach 1989 wurde versucht, die Gräben zu überwinden, aber es stellt sich heraus, dass das nur oberflächlich gelungen ist, und dem Westen die Bereitschaft fehlt, Unwissen abzubauen. Beweis dafür war das ungläubige Staunen über Putins Überfall auf die Ukraine (ein Land, über das wir lange nichts wissen wollten), der Putin jedes Existenzrechts abspricht. „Der Angriffskrieg ist nur ein logischer Schritt“ hin zur Wiedererrichtung des „Großrussischen Reiches“. Martin fehlte jedes Verständnis für Intellektuelle, die aus der sicheren Ferne die Ukraine zu „Friedensverhandlungen“ auffordern. Pollack erinnerte an die fruchtlose Appeasement-Politik. „Vergessen und Verdrängen begleiten die Geschichte des Krieges“. Es gebe einen „Schuldkomplex“ gegenüber Russland, dabei trug die Ukraine die Hauptlast des Nazi-Angriffs. Umso bizarrer Putins Behauptung von der notwendigen „Denazifizierung“ der Ukraine. 

„Ich weiß, dass demokratisches Denken und Widerstand gegen autoritäre Tendenzen uns nicht in den Schoß fallen. Wir müssen uns die Demokratie vielmehr täglich erkämpfen und um sie ringen. Und das ist keine leichte Aufgabe.“ 

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1Aus dem „Datum“: „1951 feiert das BRG Wels sein fünfzigjähriges Bestehen mit einem Festakt. „Freitag, 28. September: 19:30 Uhr: Fackelzug“, ist im Programm zu lesen. Am nächsten Tag, 8:00 Uhr: „Kranzniederlegung an der Ehrentafel der Gefallenen in der Aula“. Die Festschrift würdigt die gefallenen ehemaligen Schüler und Lehrer namentlich: „Im Zweiten Weltkrieg opferten ihr Leben“, steht über der Liste. Darunter: Bast, Dr. Gerhard“.


Donnerstag, 6. Februar 2025

Eine Minute vor dem Kahlschlag. Ein Brief an Thomas Stelzer

[Tun wir einfach so, als habe unser Brief den Ausschlag gegeben, die Koalitionsverhandlung mit der FPÖ doch zu beenden. Ein Hoch auf die Freiheit der Fiktion! Gruß, Meindl]


Sehr geehrter Herr Landeshauptmann,

im Namen der GAV OÖ möchten wir dringlich an Sie appellieren, alles in Ihrer Macht Stehende zu tun, um Herbert Kickl als Kanzler zu verhindern. Wir sind uns sicher, dass auch Sie kein gutes Gefühl dabei haben. Der Schaden wird umfassend sein – für das Ansehen Österreichs, für die Demokratie, für das Klima (das reale und das metaphorische), für die Vielfalt im Land, für Kunst und Kultur (und auch für Ihre Partei). Dem Vernehmen nach meldet Herbert Kickl Anspruch auf das Kulturministerium an. Das wird einen verheerenden Kahlschlag zur Folge haben. Die Vernichtungswünsche der FPÖ in Bezug auf Medien geben allen Anlass zum sofortigen Abbruch der Koalitionsverhandlungen. Alles, wofür wir uns jahrzehntelang eingesetzt haben, steht auf dem Spiel.

Wir setzen unsere Hoffnungen auf Sie und verbleiben mit besten Grüßen

die Mitglieder der Grazer Autorinnen Autoren Versammlung / Regionalgruppe Oberösterreich

Mittwoch, 29. Januar 2025

Vor wenigen Tagen erschien mein neuer Roman ‚Mord und Brand im Mondseeland‘ im Sisyphus Verlag.



Zum Inhalt:

Auf die Kolomanskirche am Kolomansberg wird ein Brandanschlag verübt. Im Inneren der Brandruine entdecken Feuerwehrleute die verkohlte Leiche eines Mannes, der möglicherweise ermordet wurde. In das Gästebuch der Kirche hat der Täter die Worte ‚ALAHU AKBAR‘ geschrieben, in lateinischen Buchstaben und noch dazu falsch – ein überaus dilettantischer Versuch, die Tat radikalen Islamisten in die Schuhe zu schieben.

Mit der Aufklärung des Falles wird Silvia Petutschnig vom LKA Linz beauftragt. Zu ihrer Unterstützung wird ihr Horst ‚Hoss‘ Wambacher zugeteilt, ein gestandener Innviertler, der wegen seiner Beteiligung an einer Volksfestrauferei nach Mondsee strafversetzt worden war.

Hoss ist sportlich, gut aussehend, humorvoll und intelligent. Außerdem ist er autosexuell. Aber das ist und bleibt sein Geheimnis…

(Dietmar Füssel, Mord und Brand im Mondseeland, Kriminalroman, 2025, Sisyphus Verlag, 198 Seiten, ISBN 978-3-903125-94-0, 14,80 €)

Erhältlich ist mein neuer Roman ab 31. Januar 2025 überall im Buchhandel, oder schon jetzt zum Preis von 14,80 plus Versand direkt bei mir, auf Wunsch gerne auch signiert oder mit persönlicher Widmung  (https://www.dietmarfuessel.com/shop/  )


Revolution der Verbundenheit. Wie weibliche Solidarität die Gesellschaft verändert. – Franziska Schutzbach

  Liebe Franziska Schutzbach, es birgt ein Risiko jemanden persönlich zu treffen, dessen Werk uns begeistert. Denn Begeisterung ist das, was...