Donnerstag, 3. Februar 2022

KURGARTEN I

Eine Materialsammlung aus 30 Tagen Atelieraufenthalt in der Villa Rabl / Bad Hall. 

Lisa-Viktoria Niederberger



Sagari

Bäume, Misteln, Krähen. Ich mag meine Aussicht. Ich kann vom Schreibtisch in den Kurpark sehen. Im Kurpark gehen zwei Mädchen mit Pferden spazieren, wie Hunde führen sie sie an der Leine. Wenn die Pferde wiehern, klingt es nach Panik, nach Stress. Das Wiehern kommt aus dem Nebel, ich muss an die Sagari denken, Pferdekopfgeister der japanischen Folklore. Wenn ein Pferd auf der Straße stirbt, wenn es liegen gelassen wird, um dort zu verwesen, dann kann es sein, dass sich die Pferdeseele in den Ästen der Bäume verfängt. Ab dann erschreckt der Pferdekopfgeist Wandernde, in dem er sich aus Baumkronen fallen lässt und laut schreit, seine Opfer vor Schreck lähmend. Es wiehert wieder vor meinem Fenster, ich verschütte Tee. Es wiehert wieder vor meinem Fenster, und ich weiß, ich werde im Nebel hier nicht spazieren gehen können. 


Schnittblumen

Zuerst Fair Trade Rosen, jetzt Tulpen. 

Beide Sträuße vom Spar, beide Sträuße rot und gelb.

Räucherstäbchen und Duftkerzen im Frauenarbeitszimmer. 

Farbstifte. Haftnotizzettel in vier Neonfarben. Disney-Piano-Medleys zum Schreiben.

Farblich sortierte, nummerierte Notizen: weibliche Pedanterie.

Frauenthemen:

Abtreibung und Trennung Ü35 (gelb)

Missbrauch, Bindungsprobleme, undiagnostizierter Autismus (orange).

Prekariat (grün)

Sexualisierte Gewalt, Rassismus (pink)

Ich bastle Motivationssprüche. Erinnerungen an mich selbst. Mahnungen.

Schokolade, Marillenmarmeladebrote und zum Durchschnaufen an den Blumen riechen. 


X

Dort wo der Kurpark aufhört, und der Wald anfängt, treffe ich eine traurige Frau. Ich habe an einem Bach drei hohe, alte Eichen entdeckt. Totgeweihte Eichen: sie tragen ein neonpinkes X auf ihrer Rinde. Der einzige Farbklecks in der monochromen Regenwelt. Die traurige Frau sieht mich lange an, bevor ich sie bemerke und meine Kopfhörer abnehme. „Ihnen gefallen die Bäume“, sagt sie. Ich nicke. „Mögen Sie Misteln auch, hier haben alle Bäume so viele Misteln.“ Ihre Traurigkeit, eine unsichtbare dunkelgraue Wolke rund um sie. „Sie sind so jung, und trotzdem schon da“, sagt die traurige Frau. „Wie? Ich?“ „Darf ich Sie fragen, was Sie haben?“ Ich will ihr nicht sagen, dass ich kein Kurgast bin. „Mich macht manchmal alles so traurig, dass ich mich nicht mehr bewegen kann“, sage ich. „Das kenne ich. Wollen Sie etwas sehen?“ Ich nicke. Sie hält mir eine Schlüsselblume entgegen. Hellgelbe Blüten, frischgrüne Blätter, ein Wurzelstock voller Erdbröckchen, eine dreckige Hand. „Ich hab sie ausreißen müssen. Himmelschlüssel im Januar, das ist ein übler Vorbote. Die haben wegmüssen.“ Mir fällt dazu nichts Positives ein. 




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