Donnerstag, 23. April 2020

Verschieb nichts und am wenigsten das Leben


Von Corinna Antelmann

»Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen«, höre ich meinen Vater sagen, während ich den Satz an meine Tochter richte, »setzen wir uns an unsere Arbeit.« Und nach dem erwarteten Protest, fällt mir noch einmal mein Vater ein; ich triumphiere: »Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute.«
»Verschone mich mit solchen Sprüchen«, sagt meine Tochter.
»Morgen vielleicht«, sage ich.
»Oh, bitte«, sagt mein Liebster. »Wieso genießen wir nicht einfach den Tag?«
»Heute?«, frage ich.
»Was du heute kannst …«, kommt es einstimmig zurück.

Wiewohl in einem Konflikt, verschiebe ich weder noch: Mit sofortiger Wirkung stelle ich erstens das Sprüche-Klopfen ein, dann mache ich mich zweitens an meine Arbeit, während der Rest der Familie spazieren geht. Noch heute will ich alles erledigen, um morgen den Tag zu genießen, vielleicht, falls alles erledigt sein sollte, das heißt: Ich beherzige meines Vaters Rat. Oder auch: Ich habe keine Wahl. Seine Ratschläge sind unfreiwillig in mein eigenes System gewandert. Und ich bin ihm zu Dank verpflichtet, denn das Verschiebe-Verbot hilft mir seit jeher durch das System der freischaffenden Tätigkeit. Ich wäre nicht dort, wo ich bin, wenn er nicht in mir gesessen und mir zugeflüstert hätte, mich an den Schreibtisch zu bewegen, die Dinge anzugehen, nicht zu warten auf den richtigen Augenblick, den richtigen Tag.
Sondern gleich.

Nur hin und wieder zeigt das Gebot seine zweite Seite, zum Beispiel innerhalb des Familien- und Beziehungssystems.
»Genau«, ruft mein Liebster dazwischen, »unterschätz niemals die Bedeutung der Pause. Denn sieh nur: der Himmel, das Feld, das Rauschen und Blitzen und Jubilieren.«
Jajaja, ich weiß, er trauert und den gemeinsam verbrachten Tag, um den es gehen könnte, sollte, müsste …? Aber neinneinnein, das Müsste verhindert, eine Pause einzulegen, um beispielsweise heute spazieren zu gehen, statt dafür auf das Morgen zu hoffen.
Verschieben wir die entspannten Tage auf Unbestimmt, aber …?
»Aber, Vater, wenn du sagst: Verschiebe nicht auf Morgen, dann heißt das doch …?«
»Das Gebot gilt weder für Pausen noch für Spaziergänge, sondern für Tätigkeiten.«
»Aha«, sage ich, »noch eine Frage: Ist das Spazierengehen untätig?«
»Sinnvolle Tätigkeiten«, spezifiziert er.

Ich kenne jemanden, der würde widersprechen.

Und so hat jedes Ding, wie stets, zwei Seiten: Die Arbeits-Disziplin ist ein hohes Gut, ich weiß es wohl, doch was ist der Mut zum Liegenlassen anderes? Er kann Kräfte freisetzen, die sich andernfalls festsetzten in der Verbissenheit des Tuns.
Schon Eichendorff ließ seinen Taugenichts spielen und singen:
Ich hatte recht meine heimliche Freud‘, als ich da alle meine alten Bekannten und Kameraden rechts und links […] zur Arbeit hinausziehen, graben und pflügen sah, während ich so in die freie Welt hinausstrich. 
(Joseph von Eichendorff, Aus dem Leben eines Taugenichts, 1817-1823: Vers 29/30)

Ein ewiger Sonntag, wie schön!

Während des Shutdowns, in dem wir uns befinden, während ich diesen Text verfasse, schwören wir insgeheim, nie wieder zu verschieben, was wir immer schon hatten TUN wollen, nun jedoch erschwert wird (abgesehen von den Spaziergängen). Die Arbeit, sie fehlt denjenigen von uns, die sie nicht länger ausüben können, dürfen, müssen … Ja, die sogenannte Krise, die morgen schon wieder Vergangenheit sein kann, versetzt uns in den uns ungewohnten Zustand, nicht zu wissen, was das Morgen bringen wird, und ob die Verschiebung, die wir gezwungenermaßen vornehmen müssen, sinnlos ist, oder ob es andersherum gerade die Verschiebung ist, die manch einer Tätigkeit erst wieder ihren Sinn verleiht, weil heute nicht möglich ist, was morgen wieder gehen könnte. Weil alles, was ich zum Beispiel hier und heute schreibe, morgen wieder anders sein kann.
Anders sein wird.
Also doch lieber vertagen?
»Verschieb nichts«, sagt meine Vater, »du weißt nicht, ob es morgen erst recht nicht mehr möglich ist.«

Nein, das weiß ich nicht.

Mascha Kaléko schreibt in ihrem Gedicht Möbilierte Melancholie:
Mein bester Freund ist nach Stettin gezogen.
Der Vogel Jonas blieb mir auch nicht treu.
Die Winterlaube hat der Sturm verbogen.
- Nun sitz ich da und warte auf den Mai.

Ist‘s im Mai vorbei?

Mein Vater sagt, aufschieben bringe nichts und meint die Pflicht, die Arbeit, nicht jedoch das Untätig-Sein in dem Sinne, was mein Liebster darunter versteht (oder meine Tochter) und ein Sammeln, Sich-Sammeln meint, das später dann, später, zurück in die Aktivität führt. Aber auch das Innehalten lässt sich nicht verschieben; vielleicht zulange schon haben wir es verschoben, nun bleibt uns keine Wahl: Wir können es zurzeit nicht verschieben, selbst wenn wir wollten.

Und da wir nicht wissen, was das Morgen bringt, können wir es gleich lassen.
Und da wir nicht wissen, was das Morgen bringt, sind wir frei, uns alles auszumalen, was gehen wird und zu leben, als wäre es schon heute da.

Jetzt ist Jetzt und das Beste, das uns zur Verfügung steht. Und die Wahrheit ist: Zu keiner Zeit, nie, wissen wir, wie das Morgen aussieht, was er bringt, denn: Wir Menschen sind sterblich und daher verletzlich; vielleicht vergessen wir es von Zeit zu Zeit, in unserem Streben nach unendlichem Wachstum.
Nach Unendlichkeit.

Sterbliche Schönheit ist mir oft schmerzlich, sagt der Vampir Louis im Interview mit einem Vampir von Anne Rice.
(Anne Rice, Interview mit einem Vampir (1976), Frankfurt, 1989: 183)

Anders als der moderne Mensch beginnt er im Laufe seines Vampir-Lebens mehr und mehr unter der Ewigkeit zu leiden und neidet den Menschen die Sterblichkeit. Was ihm fehlt ist das, was wir zu überwinden suchen: Die Begrenzung durch den Tod, denn nur das Wissen um die Sterblichkeit ermöglicht das Leben, aber -

- doch noch nicht heute! Verschieben wir es noch ein bisschen.

Der Tod lacht und scherzt und kommt, wann immer er will. 
Eben noch beschließt er, nach Kislowodsk zu verreisen, - der Fremde sah durch die Augenschlitze Berlioz an, - ist ja auch keine große Sache, nicht wahr? Doch ist er nicht einmal dazu mehr fähig, weil er aus Gott weiß welchem Grund plötzlich ausrutscht und - schwups! - unter eine Trambahn gerät. 
(Michail Bulgakow, Meister und Margarita (1966), München, 2015: 19) 

In meinem Jugendbuch Saskias Gespenster dagegen weiß der Junge Oskar, dass ihm nicht viel Zeit bleibt. Eine Krankheit kündigt an, dass sie ihn bald schon sterben lassen wird. In diesem Falle wundert es mich nicht, dass er diesen Spruch klopft, der meinem Vater gefällt:
»Vertagen wir unsere Verabredung eben auf nächste Woche.« Er zwinkerte ihr zu. »Was ich nur ungern tue, denn was du heute kannst besorgen ...«
»... das verschiebe nicht auf morgen«, ergänzte Saskia.
Den Spruch kannte sie zur Genüge von ihren Eltern.
 
Wollen wir wirklich wissen, wann es soweit ist? Ist das besser? Für Bulgakows bedauernswerten Berlioz, den die Tram überfährt, wäre es zu dem Zeitpunkt, an dem er von seinem baldigen Ende erfährt, ohnehin zu spät gewesen, seine Reise nach Kislowodsk vorzuverlegen. Aber vielleicht hätte er überlegt, noch einmal spazieren zu gehen. Oder sein Buch zu Ende zu lesen. 

»Was du heute kannst besorgen ...«

Schon gut, schon gut. Es stimmt ja, wenn ihr mich fragt, Leute: Verschiebt nichts und am wenigsten das Leben, welches das Blitzen und Rauschen und Jubilieren miteinschließt. Den Spaziergang, das Singen, das Spielen, die Pause, die Arbeit (egal, wie sinnvoll oder sinnlos es derzeit zu sein scheint) und das Lieben, das zuallererst. Denn was bringt es, alles zu verschieben auf die Zeit DANACH? Nach der Arbeit, nach der Pflicht, nach dem Corona-Virus? Wie sinnvoll ist das, wenn wir doch sterblich sind? Lebt wild und gefährlich. Hier und jetzt und heute. Und morgen auch noch, so Gott will.

Das weiß allein der Teufel.

Und deshalb: Auch, wenn ich alle Sprüche nur mehr sparsam verwenden werde in Zukunft, ich meine es ernst: Mein Dank gehört dir, Papa.

Ich sollte es ihm heute noch sagen.
 

 


1 Kommentar:

  1. Ah, wie schön der Satz und wie schön der ganze Text ist! "Denn sieh nur: der Himmel, das Feld, das Rauschen und Blitzen und Jubilieren.“ Lass' uns mal bei Gelegenheit erörtern, ob die katholisch Verzogenen (moi) eher zum Prokrastinieren neigen, weil sie eh beichten können, dass sie faul waren. ;-)

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